Die liebsten Liebesgeschichten – Folge 2: Martin A. Völker

Für dandelion öffnen Blogger, Autoren, Verleger, Herausgeber, Lektoren und andere Verrückte ihre Herzen und stellen uns ihre persönlichen Lieblings-Liebesromane vor.
Heute zu Gast: Martin A. Völker, Dr. phil., geboren 1972 in Berlin. Er ist freier Publizist und Lektor, Dozent und Sciencecoach. Veröffentlichungen: zahlreiche Buchbeiträge und Herausgaben zur Kultur-, Kunst- und Li­teraturgeschichte, zudem Lyrik und Kurzprosa. Er ist Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland.

Dem Schriftsteller Moritz Gottlieb Saphir (1795–1858) verdanken wir die wohl treffendsten Bemerkungen über die Liebe: In einem Antwortschreiben an Johann Langer (1793–1858), einen Wiener Kollegen, das dieser 1838 im zweiten Band seiner Neuen Erzählungen und Humoresken wiedergibt, schreibt Saphir, die Liebe sei eine Versammlung von fünf Buchstaben, die sich zu folgendem Motto auflösen lassen: „Lange Irrung eines betrogenen Esels!“ Die Liebe, so Saphir, sei neben der Freundschaft die zweite Sphinx, die vor einem auftaucht mit lächelndem Antlitz, das die Klauen der Falschheit übersehen lässt. „Mich werden diese zwei indianischen Gaukler mit ihrem Herzens-Tiki-Taki nicht mehr berücken.“ Die Klugheit dieser Worte ist zwar unbestreitbar, aber sie fühlt sich meistens weniger gut an als ihr Gegenteil, was dazu führt, dass auch kluge Menschen oft gänzlich unklug handeln. Mit anderen Worten: Das „Herzens-Tiki-Taki“ lässt sich nicht gänzlich vermeiden. In der Vor- und Nachbereitung eigener Liebeshändel stellen Liebesromane nicht den schlechtesten Zeitvertreib dar. Die Liebesromane, die ich mit Anteilnahme und Genuss gelesen habe, lassen sich an einer Hand abzählen.

1 Werthers Leiden (bearbeitet)Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Goethe, und Goethe legte es Werther in den Mund. An Die Leiden des jungen Werthers (1774) erinnere ich mich noch ganz genau. Wie es der Titel nahelegt, habe ich diesen Roman als Krankenbericht gelesen. Ein bemitleidenswerter junger Mann, dieser Werther, der zu lieben glaubt, aber seinem Ich nicht entkommen kann. Werther scheitert nicht an den Verhältnissen, sondern an sich selbst. Wer lieben will, der muss vorher gelernt haben, von sich selbst abzusehen, ansonsten bleiben die Anderen für ihn unerreichbar. Die Mitmenschen bleiben Werther verschlossen, die Natur bleibt ihm verschlossen, obwohl Werther auch sie zu lieben vorgibt. Zwischen ihm und der Welt steht meistens ein Buch. Werther ist das Paradebeispiel eines pathologisch bibliophilen Menschen, der nicht auf tragische Weise umkommt, sondern theatralisch aus dem Leben scheidet. Insgeheim habe ich mir beim Lesen gewünscht, dass Albert, mein eigentlicher Held, Werther erschießt.

2.0 Wells, TitelH. G. Wells (1866–1946) ist heute leider nur noch als Science-Fiction-Autor bekannt. Wer sich im Krieg der Welten engagiert oder ständig in der Zeitmaschine sitzt, dem gerät leicht, vielleicht aus gutem Grund, die Liebe aus dem Blickfeld. Weniger eskapistisch ist sein Roman Marriage aus dem Jahr 1912, gelesen in der deutschen Übersetzung von Antonina Vallentin (Die Geschichte einer Ehe, Potsdam: Gustav Kiepenheuer Verlag, 1925). Wie entsteht die Liebe? Was verhindert sie? Wie vergeht sie? Wie lässt sie sich wiederbeleben: Wer diese Fragen beantwortet haben möchte, und wer will das nicht, der ist mit Wells gut bedient. Es wäre durchaus an der Zeit, diesen soziologisch aufschlussreichen und dabei witzigen Roman in zeitgemäßer Aufbereitung neu zu verlegen.

3 Alsen, CoverGutti Alsen (1869–1929) ist eine heute völlig vergessene Königsberger Schriftstellerin. Ihre expressionistisch gefärbten Novellen haben mich sofort fasziniert, weshalb ich 2013 eine kleine Auswahl davon unter dem Titel Einsamkeitswandern im hochroth Verlag (Leipzig) veröffentlicht habe. Ihr Roman Requiem, 1929 erschienen im Horen-Verlag in Berlin-Grunewald, behandelt das Verhältnis zu ihrer verstorbenen Tochter. Ein großer Roman, ein der Liebe geweihtes Buch, in dem alle Facetten dieser tiefen Liebe lebendig und fühlbar werden. Nichts übersteigt die Liebe einer Mutter, und der Verlust der geliebten Tochter gebiert grenzenlosen Schmerz. Jede Liebe trägt ihr Ende in sich, sie ist ein Himmel und eine Hölle:

Niemand weiß es, niemand kann je es begreifen. Und doch bist du in mir, immer und allgegenwärtig und ich nur noch hohle Hülle um dich. Darum auch weißt du allein, daß meine Wege, meine Worte, mein hilfloses Lächeln und meine Taten nur bleiche Maske sind, dich zu verbergen. Daß in Frühling, in Sonne, unter Blätterfall, Winden und Schnee, in stillen Häusern und auf lauten Straßen, deine Freude golden wo aufblinken, deine Stimme jauchzend hervorbrechen kann, für einen kurzen, vergehenden Augenblick. Und daß wir dann beide wieder, unlösbar verbunden, der verhängnisvolle, nie endende Schrei sind, der über die nirgends beginnende, nirgends endende Straße anklagend und schauervoll hinzieht. (S. 208)

An einer Hand, schrieb ich oben, kann ich meine liebsten Liebesromane abzählen. Fehlen noch zwei. Aber es wäre zu schmerzhaft, über sie zu schreiben. Zu viel „Herzens-Tiki-Taki“.

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