[Rezension] Fritz Leiber – Das Schiff startet um Mitternacht

Originalveröffentlichung:
The Ship Sails at Midnight (1950)

Leiber Ship

Fritz Leibers beste Werke zeichnen sich durch eine tiefe Menschlichkeit aus. Auch die Kurzgeschichte „The Ship Sails at Midnight“ folgt dieser Einstellung, kehrt aber die Bedeutung des Wortes auf verblüffende Weise um und stellt letztendlich die Frage: Sind es immer die Menschen, die sich durch Menschlichkeit auszeichnen?
Die Gewichtigkeit der Frage mildert Fritz Leiber glücklicherweise ab, indem er seine Geschichte im Mikrokosmos des Privaten ansiedelt.
„Das ist die Geschichte von einer schönen Frau.“ So beginnt „The Ship Sails at Midnight“. Larry, der Ich-Erzähler berichtet uns von „vier dummen, egoistischen, kulturbeflissenenen Erdenbewohnern“. Dabei handelt es sich um eine Clique aus vier „lokale[n] Bohemiens“: Gene, dem Atomwissenschaftsstudenten; Es, der Bildhauerin; Louis, dem Philosophen und Fritz Leibers Alter ego Larry, dem Schriftsteller.
In einer Kleinstadt im amerikanischen Mittelwesten treffen sich die vier, um mit ihren intellektuellen Höhenflügen die Welt zu erobern. Dabei wissen sie selbst, dass ihr eitles und anmaßendes Getue nur ein Deckmantel für ihre eigentliche Schüchternheit und Kontaktscheu ist. So wohnen die vier Möchtegern-Größen in ihrer Heimatstadt noch bei ihren Eltern.
Alles ändert sich, als von einem Tag auf den anderen plötzlich in ihrem Stammlokal die neue Kellnerin Helen bedient. Alle vier sind verzaubert von der schönen Frau. Larry feiert ihre Schönheit; sie hat „goldene Ringellocken“, „aristokratische Gesichtszüge“ und „sanfte, verträumte Augen“.
Rasch freunden sich die vier mit Helen an und spüren zunehmend ihren positiven Einfluss. Waren sie bis dahin auf ihrem jeweiligen Fachgebiet nur Durchschnitt, weckt Helen, die „intellektuelle Hebamme“, nur durch ihre neutrale Anwesenheit das Allerbeste in ihnen und stachelt sie zu persönlichen Höchstleistungen an. Noch mehr als die drei Männer scheint Es in Helen zu erkennen. Larry schildert ihr erstes Treffen mit Helen so: „[…] ich entnahm Es‘ gierigen Blicken, dass sie das Mädchen am liebsten auf der Stelle modelliert hätte.“
Helen bleibt der Clique über Monate verbunden, währenddessen Larry Helens Geliebter wird. Die Liebesbeziehung ist aber befüllt mit unbeantworteten Fragen (z.B.: Woher kommt Helen, die Frau ohne Vergangenheit?) und Heimlichtuerei den anderen der Clique gegenüber. Trotzdem wird es Larrys schönste Zeit werden: „Ich könnte ertrinken im Meer bittersüßer Gefühle“, reflektiert Larry in Rückschau.
Irgendwann häufen sich die Signale, dass es nicht für immer so weitergehen wird. In einem bestürzenden Finale stellt sich heraus, dass Helen nicht nur mit Larry ein Verhältnis hatte, sondern mit allen der Clique, auch mit Es.
Aber ist so etwas amoralisch, wenn man ehrhaft den Glauben hat, dass man damit alle Menschen, die man liebt, glücklich macht?
Fritz Leiber, lässt aber auch keinen Zweifel daran offen, dass Helen kein Mensch ist, was die Frage nach der Wahrheit über die Menschlichkeit in ungewohnte Bahnen lenkt. Leiber hat mit „The Ship Sails at Midnight“ das Genre der Erstkontakt-Geschichten mit seinem Humanismus galvanisiert und damit ein kleines Meisterwerk geschaffen. Seine Leser lässt er in einem Meer aus Trauer zurück.

Deutsche Übersetzung: „Das Schiff startet um Mitternacht“, übersetzt von Eva Malsch, in: Fritz Leiber, Die besten Stories von Fritz Leiber (München: Moewig, 1980)

Lektorat: Uwe Voehl

[Rezension] Fritz Leiber – Schwarze Schwingen

Originalveröffentlichung:
Dark Wings (1976)

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Die Erzählung „Dark Wings“ von Fritz Leiber geht äußerlich stark in die Richtung einer Horror-Geschichte, aber es ist wohl reine Interpretationssache, ob man die Vogelschwingen-Metaphorik als real ansehen möchte oder nicht. Tatsächlich ächzt die Geschichte ein wenig unter ihrer metaphorischen Last, ist aber gerade deswegen auch sehr nachdenkenswert.
Die junge Frau Rose hat in einer Lokalität in Greenwich Village offenbar ihre Zwillingsschwester Vi kennengelernt, die sie bis dahin nicht kannte. Sie gehen zusammen in Roses durch zahlreiche Schlösser und Riegel gesicherte Wohnung in Manhattan. Beide Frauen wurden adoptiert und wissen nichts über ihre leiblichen Eltern. Im Gespräch finden sie immer mehr Übereinstimmungen, auch körperlicher Art, die sie sicher machen, dass sie Zwillinge sind. Sie erzählen sich ihre Lebensgeschichten, und dabei kommt heraus, dass sie beide in ihrer Kindheit sexuell missbraucht wurden: Die lesbische Rose durch ihre übermächtige Stiefmutter und Vi durch ihren Stiefvater.
Fritz Leiber hat mit „Schwarze Schwingen“ eine Geschichte geschrieben, deren alleiniger Antrieb Sex ist. Über den Zwillingsschwestern schwebt das Thema Sex wie ein großer dunkler Vogel. Vi kristallisiert sich in dem Gespräch als eher sadistisch veranlagt, während Rose masochistisch geprägt ist. Es entsteht eine knisternde Erotik zwischen den beiden. So küssen sie sich und genießen es, die spiegelverkehrte Gleichheit ihrer Körper zu betrachten. Die Konversation wird unterbrochen durch ein schreckliches Gekreische an Roses Fenster. Die mutige Vi öffnet das Fenster und berichtet der verängstigten Rose, dass sie einen großen dunklen Vogel befreit hat, dessen Schwingen sich am Sims verfangen hatten.
Die Empfindung von dunklen Schwingen hatte Rose schon in ihrer Vergangenheit, nämlich immer dann, wenn sie eine lesbische Beziehung hatte. Auch erinnerten sie früher die nackten Brüste ihrer allmächtigen Stiefmutter an Vogelschwingen. Beachtenswert ist aber auch, dass Rose eine sehr starke Form von Synästhesie hat und daher ihre Sinne zuweilen – besonders in Stresssituationen – visionäre Ausbrüche liefern.
Vi überredet Rose zu sado-masochistischem Sex. Rose stimmt ängstlich zu, die Rolle der Unterlegenen anzunehmen. In dem traumgleichen sexuellen Rausch nimmt Rose Vi zunehmend als schwingenbewehrte Vogelfrau wahr. Als Rose verzweifelt etwas Penisgleiches in sie eindringen spürt, wird dem Leser klar, dass Rose nicht nur die Partnerin eines sado-masochistischen Sexspiels ist, sondern in letzter Konsequenz das Opfer einer Vergewaltigung.
Was Fritz Leiber letztendlich mit dieser Erzählung wirklich ausdrücken will, lässt sich wahrscheinlich selbst mit größtem literaturwissenschaftlichen Aufwand nicht eindeutig ergründen, aber es wird schon sehr deutlich, dass Leiber uns in die Schattenregionen des Sex leiten will, wo Ängste und abgründige Neigungen die Menschen ihr Leben lang prägen. Die Metaphorik der Jung’schen Archetypen Animus und Anima geht ebenfalls in diese Richtung.
Und so ist es letztlich Aufgabe der Leser, zu entscheiden, was hier passiert ist. Für mich betreffen die wichtigsten Fragen Vi: Ist sie möglicherweise so wie die zuvor aus einem Fachbuch herangezogene Frau, die eine penislange Klitoris hat? Oder ist Vi einfach eine transsexuelle Kriminelle? Oder ist Vi möglicherweise eine übernatürliche Wesenheit?
Alles ist möglich. Du, Leser, musst selbst entscheiden.

Deutsche Übersetzung: „Schwarze Schwingen“, übersetzt von Karin Balfer, in: Michael Görden (Hrsg.), Der letzte Kuß (Bergisch Gladbach: Bastei-Lübbe, 1986)

Lektorat: Uwe Voehl

[Rezension] Fritz Leiber – Vier Geister in ‚Hamlet‘

Originalveröffentlichung:
Four Ghosts in Hamlet (1965)

Leiber Hamlet

In der wohligen Welt des klassischen Theaters spielt „Four Ghosts in Hamlet“ von Fritz Leiber. Entgegen des Titels geht es in der atmosphärischen und dramaturgisch wohldurchdachten Erzählung in der Hauptsache um einen Geist und die Frage, ob der Geist aus Hamlet auf der Bühne von einem Menschen oder von einem Geist gespielt wurde.
„Four Ghosts in Hamlet“ wird in der ersten Person von Bruce erzählt, einem Angehörigen der Theatergruppe „Govemor’s Company“, die durch die Lande tingelt und immer wechselnde Stücke von Shakespeare in rotierenden Besetzungen aufführt. Die drei Damen der Truppe vertreiben sich die Langeweile in den Freizeiten mit spiritistischen Sitzungen auf einem Ouija-Brett. Bruce, der klarstellt, dass er nicht an Derartiges glaube, hat persönliche Gründe, den Sitzungen der Damen gegenüber alles andere als positiv eingestellt zu sein. Er hat sein Herz an die Ophelia-Darstellerin Monica Singleton verloren und stellt fest, dass seine Chancen, bei ihr zu landen, seit der Beginn der Ouija-Mode im Sinken begriffen sind. Monica, die bei den beiden anderen, schon länger praktizierenden Damen als begabtes Medium gilt, hat offenbar nur noch Interesse für das Buchstabenorakel hat.
Die gesamte Handlung zentriert sich in der nahenden Aufführung in Wolverton. Das dortige Theater „Monarch“ ist eine dankbare Kulisse für die weiteren Ereignisse. Schon ewig hat hier keine Vorstellung mehr stattgefunden, und der Ort wird von den Darstellern als schaurig und verstaubt empfunden. Bruces Entdeckung, dass ausgerechnet auch noch Fledermäuse ihre Kreise durch das Gebäude ziehen, machen den Ort zu einer Traumkulisse für das Irrationale. Ausgerechnet Bruce beginnt an diesem Tag, das Übernatürliche zwischen den Wänden des Monarch zu „riechen“. Kurz vor der Vorstellung wartet alles sichtlich nervös auf Guthrie Boyd, einem rückfälligen Alkoholiker, der den Geist von Hamlets Vater spielt.
Die Aufführung beginnt in normalen Bahnen. Für den Fall, dass Guthrie Boyd von der vermuteten Zechtour nicht rechtzeitig auftauchen würde, scharren bereits zwei Schauspieler der Truppe mit den Füßen, die die Rolle ebenfalls beherrschen. Da der Geist nur eine Robe mit gesichtverhüllender Kapuze trägt, sollte auch kostümtechnisch ein kurzfristiger Rollentausch kein Problem sein.
Und dann folgt einer der schauerlich-schönsten Momente in der phantastischen Literatur: Der Auftritt des Geistes, der sowohl dem Publikum in der Geschichte als auch Fritz Leibers Lesern den Atem raubt. Dabei ist sehr bemerkenswert, wie wenige Hilfsmittel Leiber benötigt, um eine Atmosphäre des Unheimlichen zu erzeugen, die den Leser förmlich spüren lässt, wie das Übernatürliche kurzzeitig in die rationale Welt strömt. Leiber baut hier lieber auf nicht mehr als die Erzeugung eines jenseitigen Hauches, anstatt eine Batterie von Schockeffekten aufzufahren. So besteht für Bruces Leben zu keinem Zeitpunkt wirklich ernstzunehmende Gefahr. Die stimmungsvolle, um das Unheimliche expandierte Welt des Theaters sorgt lediglich für eine kurzzeitige aber nachhaltige Erschütterung. Es ist aber Leibers Kunst, dass er die (ihm wohlbekannte) Welt des Theaters detailreich vor uns ausbreitet, sie aber gleichzeitig wie in einem Lupenglas nur für uns sichtbar macht und zeitweilig von dem Rest der Welt abkoppelt.
Der Abgang des Geistes hinterlässt viele Fragen, die Bruce versucht, als rational gelöst hinzustellen. Aber war der Geist wirklich nur der Shakespeare ähnelnde und über dieselben Initalien verfügende Requisitenmeister Props, der bisher als einziger des Ensembles noch nie eine Rolle gespielt hat? Oder hat womöglich der affektierte und auf Guthrie Boyd eifersüchtige Star der Schauspielgruppe, Francis Farley Scott, seine Finger in der Angelegenheit?
Spekulationen folgen, aber ausgerechnet Bruce, der schon die Ouija-Sitzungen ins Lächerliche zog, ist der Einzige, der den verhüllten Bühnengeist berührt hat und unter der Robe etwas „Körperloses“ spürte. Und hat es eine Bedeutung, dass das Ouija-Brett, auf die Frage, wer „der Geist wäre, der den gespenstischen Ort heimsuchte“ folgenden Namen buchstabiert: S.H.A.K.E.S.P.E.A.R.E.? Die Rolle des Geistes in Hamlet gilt als die einzige Rolle, die William Shakespeare selbst jemals auf der Bühne gespielt hatte. Wollte er sie vielleicht noch einmal spielen?
Dann ist die Geschichte zu Ende. Und wie steht es am Ende um Bruces Eroberung von Monica? Dafür sollte man die Geschichte noch einmal lesen, den die Antwort steht am Anfang der Geschichte: „[…] eine Nacht des Entsetzens vor der Nacht der Liebe.“

Deutsche Übersetzung: „Vier Geister in ‚Hamlet'“, übersetzt von Birgit Reß-Bohusch, in: Manfred Kluge (Hrsg.), 18 Geister-Stories (München: Heyne, 1978)

Lektorat: Uwe Voehl