Edward Carey | Das verlorene Observatorium

Originalveröffentlichung:
Observatory Mansions (2000)

Die Irrungen schmuddeliger Eskapisten und magischer Hände im gotischen Kubus. Ein völlig eigener Roman, der das Licht zurück in die finsteren Herzen seines Personals bringt und dazu eine der ungewöhnlichsten Liebesgeschichten erzählt, die man lesen kann

Ein Hauch von Gormenghast umweht die heruntergekommenen Mauern des Observatoriums mitsamt seiner abgehalfterten Bewohnertruppe. Die Ähnlichkeiten sind da, keine Frage: Ein finsteres Gemäuer, sehr sehr schräge Bewohner (deren Geisterhaftigkeit effektvoll durch das Fehlen von Gänsefüßchen bei wörtlicher Rede unterstrichen wird) und eine Außenwelt, die genau vor oder hinter der Haustür beginnt oder endet, je nachdem, ob man von von drinnen oder von draußen guckt.
Will man vielleicht neben Mervyn Peake noch einen Pier finden, an den man Observatory Mansions [Das verlorene Observatorium] festzurren kann, dann ist es das Subgenre des „Ich bleibe für immer hier drinnen“-Roman, zu dessen Vertretern man etwa Nathaniel Hawthornes The House of the Seven Gables [Das Haus mit den sieben Giebeln], Shirley Jacksons We Have Always Lived in the Castle [Wir haben schon immer im Schloss gelebt] oder Ian McEwans The Cement Garden [Der Zementgarten] zählen kann. In diesen Romanen leben die Protagonisten im Mikrokosmos ihres Hauses und kämpfen mit Händen und Füßen darum, in ihren vier Wänden einfach nur in Ruhe gelassen zu werden und bloß nicht in die unbekannte Welt da draußen zu müssen.
Genau das ist auch das Ziel von Francis Orme, dem jungen Ich-Erzähler, dem die Aufgabe zufällt, über sich und seine heruntergekommenen Mit-Hausbewohner zu berichten.
Das Observatorium des Titels ist ein kubusförmiges Mietshaus mit dunklen Fluren, verlassenen Wohnungen und Kellergewölben in denen wahrlich Wunderliches vor sich geht. Wer Fritz Leibers Our Lady of Darkness [Herrin der Dunkelheit] kennt, kann eine etwaige Vorstellung von der düsteren Atmosphäre ableiten, die im Observatorium herrscht.
Noch in Francis’ Kindheit war dies der Landsitz der wohlhabenden Ormes. Jetzt steht der düstere Kasten inmitten eines Straßenkreuzes und hat jegliche Schönheit zugunsten einer dunklen Aura von Verrottung und Untergang verloren.
Francis Orme hat mehr als nur eine Schraube locker. Er rennt den ganzen Tag mit weißen Handschuhen herum, die auf keinen Fall dreckig werden dürfen, ist beruflich Lebende Statue und hat eine wirklich bizarre Passion: Francis, Kleptomane erster Güte, klaut anderen Leuten Dinge, die sie lieben. Ganze 996 derart erworbene „Exponate“ zieren seine „Ausstellung“, die er, heimlich vom sonstigen Gekreuche und Gefleuche im Observatorium, in einem geheimen Kellergewölbe liebevoll archiviert.
Aber Francis ist keinesfalls der Gipfel der Durchgedrehtheit im Observatorium. Es gibt da noch einen Ex-Lehrer, dem die Körpersäfte mit hundert Gerüchen aus allen Poren rinnen; eine Frau, die sich für einen Hund hält; eine fernsehsüchtige Frau, die jeden Fernsehtod mitstirbt…
Eine der Grundbedingungen eines guten Romans, sind meines Erachtens Charaktere, die sich im Zuge der Handlung verändern. Diese Bedingung erfüllt Edward Carey mit Bravour, und wenn man dann noch liest, dass Observatory Mansions ein Erstlingsroman ist und Edward Carey gerade mal dreißig Jahre bei der Erstveröffentlichung war, fühlt man sich schon recht beeindruckt, zumal der Roman auch ansonsten völlig stilsicher daherkommt. Edward Carey, das ist klar, ist jederzeit Herr des schwierigen Stoffes, den er gewählt hat.
Doch zurück zu den Charakteren. Es gehört sicherlich mit zu den schwierigsten schriftstellerischen Unterfangen, den schleichenden Wechsel in der Persönlichkeit eines fiktiven Charakters glaubhaft zu machen. Carey hat sich da selbst eine Art von Persönlichkeitsreifung auserkoren, wie sie extremer nicht ausfallen könnte.
Den Stein ins Rollen bringt der Einzug von Anna Tap in Wohnung 18. Die ganze Bewohnerschaft des Observatoriums gerät in Wallung ob dieser progressiven und bis ins Mark optimistischen jungen Frau. Erst als Eindringling schikaniert, dann mit immer mehr Zuneigung aufgenommen, tanzt die unaufhaltsam an einer Krankheit erblindende Anna in die Herzen der menschlichen Fossile des Observatoriums. Sie hat die Wirkung eines Virus. Ihre Aura lässt sich nicht mehr aufhalten, und am Ende ist nichts mehr wie es vorher war. Die Observatoriumbewohner werden allesamt mit ihren Vergangenheiten konfrontiert und sozusagen in andere Wesenheiten transformiert.
Patrick McGrath, selbst ein Meister gotischer Psychoschauer hat Observatory Mansions einen begeisterten Cover-Blurb gespendet. Was mir persönlich an Edward Carey mehr Freude gespendet hat als an Patrick McGrath und seiner allumfassenden Niedergeschlagenheit (obwohl ein solcher Vergleich zwischen zwei Autoren natürlich töricht ist) ist das Durchscheinen von Schönem, Lebensbejahendem in all diesem Verfall – die sprichwörtliche Rose auf der Müllhalde.
Observatory Mansions ist ein herausragendes, stilistisch ausgefeiltes Buch. Es spendet einige außergewöhnlich bewegende Momente, für die man nicht genug danken kann. Edward Carey hat noblerweise eindeutig ein großes Herz für die Abgestürzten. Wie Frances so schön sagt: „Handschuhmenschen sind magische Menschen.“

Deutsche Übersetzung: Das verlorene Observatorium, übersetzt von Jürgen Bürger (München: Liebeskind 2002)

Erstveröffentlichung dieser Rezension in: Arcana, No.2, April 2003
Erste Online-Veröffentlichung auf booknerds.de
Die Rezension wurde für diese Veröffentlichung leicht überarbeitet

Steven Millhauser | Zaubernacht

Originaltitel: Enchanted Night (2000)

In diesem silbrig leuchtenden, magischen Mondnachtstück kreisen die Menschen einer Kleinstadt um ihre persönlichen existentiellen Fragen.

Kommt alle her, ihr Träumer, ihr Verliebten, ihr Liebeskranken, ihr Einsamen, ihr Lebenskünstler, ihr Mondsüchtigen. Ihr alle seid willkommen in dieser verzauberten Nacht, in der das Unbelebte und das beinahe Abgestorbene erwacht.
Versammeln wir uns doch um die mondleuchtende Novelle Enchanted Night [Zaubernacht] von Steven Millhauser, die die Verlierer sprechen lässt, die Melancholiker, die Traurigen, all die Unerfüllten und Sehnenden.
Steven Millhausers einmalige magische Augustsommernacht zieht die Menschen einer amerikanischen Kleinstadt hypnotisch aus ihren Häusern und gibt ihnen eine lebensbegrüßende Stimme.
Es ist kurz vor Mitternacht und Beinahe-Vollmond. Der 14-jährigen Laura kribbelt es am ganzen Körper. Alles zieht sie nach draußen. Genauso wie den 39-jährigen Stubenhocker Haverstraw, dessen “Leben schmerzt“, und die 20-jährige Janet, “erfüllt von Sehnsucht“ und “toll vom Mond“. Sie alle tun etwas, das sie noch nie getan haben. Janet bietet sich dem Mond dar, nicht ahnend, dass sie ins Visier eines dunklen Verfolgers geraten ist, dem “Mann mit dem glänzend schwarzen Haar“, der “ein neues Stück für seine Sammlung“ erspäht hat.
Aber keine Angst, nichts zerstört den Wunderbann dieser einzigartigen Nacht. Nichts Böses passiert, keinerlei Autoritäten sorgen für Ordung und Korrektheit, und keinerlei Eltern bekommen mit, dass ihre Kinder in die Mondnacht ausschwärmen.
Aber nicht nur die Lebenden lassen sich vom silbernen Mondlicht durch ihre Welt lenken, auch das Unbelebte erwacht und kreuzt die Welt der Lebenden. Die auf Dachböden und Rumpelkammern verbannten Spielzeugfiguren und Kuscheltiere der Kinder erwachen zum Leben, und die wunderschöne Schaufensterpuppenfrau hütet ihr Geheimnis nur noch so lange, bis der 28-jährige Coop leer und einsam vor ihrem Schaufenster auftaucht und sie dazu veranlasst, zum ersten Mal auf die Straße herauszutreten. “Seine Wertlosigkeit lähmt ihn“, wird Coop zuvor noch charakterisiert, aber als sich seine und die Hand der Schaufensterpuppe umschließen, erfüllt ihn nur noch Glück.
In anmutiger, mondtaumelnder, insbesondere junge Menschen mit großer Sensibilität beleuchtenden Sprache – die Sabrina Gmeiner mit schlafwandlerischer Sensibilität in ein traumverlorenes Deutsch übertragen hat – arrangiert Steven Millhauser in Novellenlänge ein literarisches Bühnenstück mit multiplem Stimmumfang. Ein Mondbuch, das glücklich macht.

Deutsche Übersetzung: Zaubernacht, übersetzt von Sabrina Gmeiner (Wien: Septime, 2016)