Iain Banks | Straße der Krähen

Originalveröffentlichung:
The Crow Road (1992)

In dieser alles andere als gemütlichen schottischen Familiengeschichte stellt sich der junge Protagonist die Fragen seines Lebens und ist am Ende nicht mehr Derselbe

Mit seinem Opus Magnum The Crow Road [Straße der Krähen] kehrt der wilde Schotte Iain Banks in seine Heimat zurück. Es gibt Kilts, Lochs und Alkohol  – viel Alkohol. Apropos. Es ging die Runde, dass Banks mit Vorliebe Science-Fiction-Cons besuchte, um sich dort dann voller Inbrunst einen nach dem anderen einzugießen. Das passt gut mit The Crow Road überein, denn auch hier scheint Whiskey neben Muttermilch das einzige schätzenswerte Getränk zu sein. Banks, selbst kein Kind von Traurigkeit, porträtiert hier einen Lebensstil und nicht etwa eine coole Attitüde, so viel ist mal klar.
The Crow Road beginnt mit einem furiosen Satz. Ich glaube, keiner hat je das Buch rezensiert, ohne diesen Satz zu zitieren. Der Mensch ist ein Herdentier, also zitiere auch ich ihn: „Es war der Tag, an dem meine Großmutter explodierte.“
Angesichts dieses Einstiegs und weil der Waschzettel uns verrät, dass es sich bei The Crow Road um ein Familienepos handelt, könnte man sich zu dem Gedanken verleitet sehen, es handele sich um einen pikoresken Wälzer der Marke John Irving, voller Übertreibungen und Ausuferungen. Aber ich kann euch beruhigen, The Crow Road hat in diesem Club nicht viel zu suchen. Im Gegenteil, obwohl The Crow Road – insbesondere im ersten Drittel – den Eindruck erweckt, wirklich jedes Persönchen der Handlung potenziere sich gleich dutzendweise in Verwandte und Freunde (strebsam wie ich bin, habe ich mir zu Anfang tatsächlich einen Stammbaum gemalt, der mir sämtliche verwandschaftlichen Verbindungen plastisch darstellt, aber das stellte sich als Fehlinvestition heraus, da die Charaktere alle für sich stehen und es letztlich völlig egal ist, wer wessen Tante ist), zeigt sich insbesondere im letzten Drittel, dass das Buch in Wirklichkeit über ein sehr straffes Konzept und einen sauber konstruierten Plot verfügt und es eben nicht um den McHoan-Clan in seiner Gesamtheit geht, sondern in erster Linie um den Ich-Erzähler Prentice McHoan, um seine Schwierigkeiten erwachsen zu sein und sich im Leben der Neunziger Jahre zurechtzufinden. Das ist beileibe kein neues Thema, aber es bedarf erst eines innovativen Autors wie Iain Banks, um der traurigen Gesellschaft vieler ewig betroffener Mainstream-Greise zu zeigen, wie man solch ein Thema anpackt, wie man modern und dabei gleichzeitig realistisch-wahrhaftig sein kann.
Für mich spielte während der Lektüre eine Vorstellung der Person Iain Banks eine nicht unwichtige Rolle. Als ich vor vielen Jahren ein Interview mit ihm las, war ich überrascht, wie wenig dieser Man zu sagen hatte. Alles, was ich dachte war, dieser oberflächliche, unbeschwerte Typ schreibt solche Bücher? Die Frage, ob es einfach an einem lauen Interview lag, oder ob Banks in Wirklichkeit ein wohlbehüteter Schreibtischtäter war, stellt sich für mich aber nicht mehr. Denn, wer so tiefen Einblick in die Seele eines jungen Menschen gewährt, wie Iain Banks das in The Crow Road mit Prentice praktiziert hat, weiß sehr viel über das Leben, und es ist eine Bereicherung für jeden Leser, wenn solch ein Mensch in der Lage dazu ist, diese Weisheit des täglichen Lebens in solch eine furiose Geschichte zu verpacken, wie The Crow Road es ist.
Prentice McHoan, Anfang zwanzig, ist der mittlere Sohn des weitverzweigten McHoan-Clans. Solange er zurückdenken kann, quälen ihn Fragen (die englische Originialausgabe listet sie im Klappentext alle auf): Wird die goldhaarige Verity ihn jemals beachten? Weiß Ashley Wart, dass er es war, der ihr mit einem Stein im Schneeball die Nase brach als sie noch ein Schulmädchen war? Gibt es einen Gott? Lebt Onkel Rory noch, oder ist er die Straße der Krähen entlanggegangen?
Prentice stellt sie sich jedoch nicht „irgendwann einmal“, sondern sie beherrschen sein Leben. Als die von ihm verehrte Verity seinen Bruder heiratet, geht es mit ihm rapide bergab, sein Leben gerät aus den Fugen, er selbst an den seelischen Abgrund. Mit düsteren Symbolen des gerade ausbrechenden Golfkrieges  beladen, hält uns das Buch sehr plastisch vor Augen, wie es war, in den Neunzigern zu leben.
Ich muss gestehen, dass ich erst Skrupel hatte, das Buch zu beginnen. Zu frisch sind mir noch Banks ersten beiden Romane The Wasp Factory [Die Wespenfabrik] und Walking on Glass [Barfuß über Glas] in Erinnerung, die teilweise niederschmetternde Ausweglosigkeit, der Mangel an positiver Tendenzen. Da hat sich bei Banks einiges getan. Es ist beispielsweise geradezu rührend, wie Prentice‘ Vater mit einer Horde Kinder durch die stellenweise prähistorisch anmutende schottische Landschaft stiefelt und die Gören ihm mit leuchtenden Augen an den Lippen hänge, während er ihnen selbsterdichtete Märchen und Geschichten erzählt. Außergewöhnlich auch die Verständigung der Generationen miteinander. Obwohl Gespräche zwischen Vater und Sohn in The Crow Road zum absoluten Bruch führen können – immerhin reden sie miteinander.
Geht man davon aus, das jedes Buch ein Spiegel der jeweiligen Verfassung seines Autors ist, so zeigt uns The Crow Road einen gereiften Iain Banks, der aber immer noch den Wilden, den Störer, den Schocker, den Tabubrecher (sämtliche Sexszenen im Buch sind von unbeschreiblicher Einmaligkeit) in sich hat. Musste Walking on Glass, ein Buch ähnlicher Gefühls-Thematik (Angebetete missachtet ihren Verehrer) in Mutlosigkeit und zerstörtem Vertrauen in die Menschheit enden, so schließt The Crow Road voller Zuversicht und Wärme, trotz all der grotesk Verunglückten und Ermordeten im Laufe des Buches.
Weiter oben habe ich noch geschrieben, The Crow Road drehe sich einzig um Prentice McHoan. Das ist so allerdings nicht ganz richtig. Lange Dialoge zwischen den unterschiedlichsten Charakteren spielen eine sehr große Rolle. Banks erreicht dadurch eine Polyphonie, die Prentice und seine Welt erst so richtig wahr werden lässt. Banks trickst damit virtuos herum. Ein Beispiel: oft reden im „Hintergrund“ die Nebenfiguren (erstaunlich, dass so etwas in einem Roman überhaupt möglich ist), während Prentice abwesend seinen eigenen Gedanken nachhängt. Das Buch ist also, wie der überhebliche Nachwortschreiber der deutschen Ausgabe, Sky Nonhoff es salopp ausdrückt, nicht einfach nur „dialog- und diskurslastig“.
The Crow Road ist ein Buch, vor dem jeder Rezensent, der nicht gerade hunderte Seiten zur Verfügung hat, kapitulieren muss. So viele Nebengleise, die ich leider hier unter den Tisch fallen lassen muss. Es ist ein Buch, nach dessen Lektüre man nur beeindruckt flüstern kann: Ein Meisterwerk!
Und so beschließe ich diese Besprechung mit einem schottischen Trinkspruch: Hoch die Tassen. Slainthe Math!

Deutsche Übersetzung: Straße der Krähen, übersetzt von Jonathan Gates (München: Goldmann, 1996)

Erstveröffentlichung dieser Rezension in: dandelion, Nr. 6, Sommer 1996.
Die Rezension wurde für diese Veröffentlichung überarbeitet

Iain Banks | Barfuß über Glas

Originalveröffentlichung:
Walking on Glass (1985)

Dieser Roman ist auf Rauchglas geschrieben. Man erkennt erst nach und nach, dass auf der anderen Seite des trüben Glases etwas ganz anderes geschrieben steht als auf der Außenseite. Ein realistisch-phantastischer Roman, der indirekt fragt: Wer ist hier eigentlich verrückt und wer normal?

Die unsichtbare, komplexe Vielfalt des Alltags. Ein guter Schriftsteller erkennt sie – all die kleinen Begebenheiten, die wir in der Hektik unseres gewöhnlichen Lebens nicht mehr bewusst wahrnehmen. Und darin liegt auch schon das Paradoxon im Werke Iain Banks‘. Unserer unbewussten Wahrnehmung hilft er hellsichtig auf die Sprünge, negiert sein Vorgehen aber im selben Atemzug, indem er uns gleichzeitig die Wahrnehmung von Menschen infiltriert, die unser Weltbild vom Durchschnittsmenschen gehörig ins Wanken bringt. Das hat eine wahrlich beunruhigende Auswirkung. Damit du, liebe Leserin, lieber Leser, ahnst, was ich meine (mehr kann ich bei einem derart komplexen Buch hier wohl nicht erreichen), ein paar Fakten zur Handlung von Iain Banks‘ zweitem Roman Walking on Glass [Barfuß über Glas].
Da haben wir zunächst Graham Park. Er ist unser Mann, wenn es darum geht, die allbekannte Realität zu besichtigen. Er ist Kunststudent und frisch verliebt in Sara, einer unnahbaren Frau, die Graham trotzdem immer wieder einladend entgegen tritt. Kennen viele, behaupte ich einmal. Wie Graham von Angst, Zweifeln und Liebe erfüllt Sara den Hof macht, das ist etwas, das jeder nachvollziehen kann, der einmal unter Schmerzen verliebt war. Auch stimmt Banks‘ Interieur. Er kennt seine Welt der 1980er Jahre. Leuchtfarbenjeans, Per Anhalter durch die Galaxis und Monty Python: Iain Banks ist uns sehr nah.
Die Romanze zwischen Graham und Sara nimmt ihren Lauf. Die beiden gehen am Kanal spazieren, kommen sich aber nicht so recht näher.
Und plötzlich der Schnitt. Die Handlung kippt, und der hektische Steven Grout beherrscht das Bild. Immer noch bewegen wir uns in der Szenerie, die wir kennen, aber es macht sich Unwohlsein breit, wenn Steven uns seine Sicht der Welt erläutert. Steven fühlt sich von Außerirdischen bedroht, weshalb er nie ohne einen Schutzhelm auf die Straße geht. In der Baustellenkolonne stößt seine Paranoia natürlich auf Spott. Trotzdem: Steven Grout legt sich mit jedem an. Als er sich nicht von seinem Standpunkt abbringen lässt, dass nur er weiß, wie man einen Pflasterstein richtig setzt, und er zudem die Katze eines rechtschaffenden Bürgers mit dem Spaten erschlägt, wird ihm gekündigt. Sein nun beginnendes Martyrium spricht uns aus der Seele. Stevens Ärger mit dem Beamten des Arbeitsamts, mit seiner neugierigen, despotischen Vermieterin und anderen Gestalten, die allesamt die traurige Essenz unserer Wohlstandsgesellschaft reflektieren, zeigen erneut, dass wir es im Falle Banks‘ mit einem Schriftsteller von bemerkenswerten Rang zu tun haben.
Wie auch die anderen Charaktere des Buches ist Steven auf der Suche nach Wissen. Die selbstironische Note Banks‘ besteht darin, dass Steven die Lösung in Science-Fiction-Romanen sucht: „Eines Tages würde er ein Buch öffnen – wahrscheinlich eine neue Trilogie des Schwert-und-Zauberei-Genres (sic!) – und beim Lesen irgendeiner Stelle würde etwas in seinem Gehirn ausgelöst, das dort verborgen war.“
Zweiter Bruch. Die Bank’sche Realität verliert nun endgültig ihren Boden. In einer aus Büchern statt Steinen errichteten Burg spielen Quiss und Ajayi ein Spiel, das ein Ende niemals zu finden scheint. Die Erlösung tritt erst ein mit der Lösung des Rätsels: „Was geschieht, wenn eine unaufhaltsame Kraft auf ein bewegliches Objekt trifft?“ Die Burg ist umgeben von einer unendlichen, leeren Ebene. Einziger Fixpunkt ist also die Burg und das unendliche (?) Spiel. Quiss und Ajayi büßen für ihre Sünden; die metaphorische Ebene unserer realen Welt ist also ausgemacht: Sünde und Unschuld, die beiden Pole, die sich in Walking on Glass direkt gegenüberstehen.
Parallel verlaufende Handlungsstränge scheinen nur einen Sinn zu machen, wenn sie am Ende auf ein gemeinsames Ziel zusteuern. Iain Banks setzt sich jedoch ohne Hemmungen über dieses Gebot hinweg. Die Bindeglieder zwischen den drei Handlungsebenen sind zwar geblieben, bieten jedoch keinen gemeinsamen Höhepunkt an. So findet ein Austausch zwischen Steven Grouts und Quiss‘ Erlebnissen nur auf äußerst elusivem Weg statt. Wenn Steven in seinem Zimmer aus seinen Büchern in ziegelförmig versetzter Anordnung Mauern hochzieht, ahnen wir natürlich, dass ein Zusammenhang bestehen muss. Die Parallelen geraten noch dichter aneinander, wenn Steven in der Bibliothek seines neuen Domizils, der Klapsmühle, ein altes Paar beobachtet, das sich die Zeit mit Spielen vertreibt. Und auch Quiss gerät in einen indirekten Kontakt zu Steven; in der alptraumhaften Unterwelt der Bücherburg erblickt er Steven, für alle Zeiten der Verdammnis anheimgefallen.
Auch Grahams Leben gerät in den Einflussbereich Steven Grouts. Obwohl sich die beiden nie begegnen, ist es ausgerechnet Steven, der die Ereignisse auslöst, die Graham die Wahrheit seiner Beziehung zu Sara offenbart. Als ihm bewusst wird, dass er das Opfer sexueller Obsessionen geworden ist, raubt ihm das für immer seine naive Unschuld. In einer elegischen Coda-Sequenz wirft er symbolisch sein vergangenes Leben in den Kanal.
Obwohl Grahams romantischer Wunsch auf ein bisschen Glück und Liebe auf wahrhaft ausgedörrten Grund stößt, ist Walking on Glass jedoch nicht grundsätzlich pessimistisch angelegt. Das faszinierende As, das Banks im Ärmel hält, macht die Rätselhaftigkeit des Buches zwar perfekt, erlöst uns aber auch ein wenig von Grahams tiefer Niederlage.
Als Ajayi in der Klaustrophobie der Burg einige speziell aufbewahrte Bücher entdeckt, sind es bezeichnenderweise Titus Groan [Ghormengast, Erstes Buch: Der junge Titus] von Mervyn Peake und Das Schloss von Franz Kafka sowie auch ein Buch, das mit demselben Satz beginnt wie Walking on Glass. Ajayi wird also die Lösung ihres Rätsels finden, da zuvor schon Steven Grout sie als Antwort einer Preisfrage auf einer vergammelten Streichholzschachtel entdeckt hat.
Barfuß über Glas ist damit ein Buch, dessen Gedankenreichtum sich erst nach wiederholter Lektüre erschließt, da jede Handlung, jede Tat, neben ihrer offenkundigen Bedeutung eine zweite, tiefere Wahrheit enthält, welche die trügerische Oberfläche entschieden verneint.
Iain Banks ist ähnlich Philip K. Dick in seinen frühen realistischen Romanen jemand, der über das Leben einfacher Menschen mehr weiß als viele der hochgepriesenen Luxusliteraten, die sich anmaßen, etwas über Angehörige der Arbeiterklasse zu wissen. Und da schließt sich der Kreis endgültig.

Deutsche Übersetzung: Barfuß über Glas, übersetzt von Irene Bonhorst (München: Heyne, 1991)

Erstveröffentlichung dieser Rezension in: Wolfgang Jeschke (Hrsg.), Das Heyne Science Fiction Jahr 1993 (München: Heyne, 1992).
Die Rezension wurde für diese Veröffentlichung leicht überarbeitet

Edward Carey | Das verlorene Observatorium

Originalveröffentlichung:
Observatory Mansions (2000)

Die Irrungen schmuddeliger Eskapisten und magischer Hände im gotischen Kubus. Ein völlig eigener Roman, der das Licht zurück in die finsteren Herzen seines Personals bringt und dazu eine der ungewöhnlichsten Liebesgeschichten erzählt, die man lesen kann

Ein Hauch von Gormenghast umweht die heruntergekommenen Mauern des Observatoriums mitsamt seiner abgehalfterten Bewohnertruppe. Die Ähnlichkeiten sind da, keine Frage: Ein finsteres Gemäuer, sehr sehr schräge Bewohner (deren Geisterhaftigkeit effektvoll durch das Fehlen von Gänsefüßchen bei wörtlicher Rede unterstrichen wird) und eine Außenwelt, die genau vor oder hinter der Haustür beginnt oder endet, je nachdem, ob man von von drinnen oder von draußen guckt.
Will man vielleicht neben Mervyn Peake noch einen Pier finden, an den man Observatory Mansions [Das verlorene Observatorium] festzurren kann, dann ist es das Subgenre des „Ich bleibe für immer hier drinnen“-Roman, zu dessen Vertretern man etwa Nathaniel Hawthornes The House of the Seven Gables [Das Haus mit den sieben Giebeln], Shirley Jacksons We Have Always Lived in the Castle [Wir haben schon immer im Schloss gelebt] oder Ian McEwans The Cement Garden [Der Zementgarten] zählen kann. In diesen Romanen leben die Protagonisten im Mikrokosmos ihres Hauses und kämpfen mit Händen und Füßen darum, in ihren vier Wänden einfach nur in Ruhe gelassen zu werden und bloß nicht in die unbekannte Welt da draußen zu müssen.
Genau das ist auch das Ziel von Francis Orme, dem jungen Ich-Erzähler, dem die Aufgabe zufällt, über sich und seine heruntergekommenen Mit-Hausbewohner zu berichten.
Das Observatorium des Titels ist ein kubusförmiges Mietshaus mit dunklen Fluren, verlassenen Wohnungen und Kellergewölben in denen wahrlich Wunderliches vor sich geht. Wer Fritz Leibers Our Lady of Darkness [Herrin der Dunkelheit] kennt, kann eine etwaige Vorstellung von der düsteren Atmosphäre ableiten, die im Observatorium herrscht.
Noch in Francis’ Kindheit war dies der Landsitz der wohlhabenden Ormes. Jetzt steht der düstere Kasten inmitten eines Straßenkreuzes und hat jegliche Schönheit zugunsten einer dunklen Aura von Verrottung und Untergang verloren.
Francis Orme hat mehr als nur eine Schraube locker. Er rennt den ganzen Tag mit weißen Handschuhen herum, die auf keinen Fall dreckig werden dürfen, ist beruflich Lebende Statue und hat eine wirklich bizarre Passion: Francis, Kleptomane erster Güte, klaut anderen Leuten Dinge, die sie lieben. Ganze 996 derart erworbene „Exponate“ zieren seine „Ausstellung“, die er, heimlich vom sonstigen Gekreuche und Gefleuche im Observatorium, in einem geheimen Kellergewölbe liebevoll archiviert.
Aber Francis ist keinesfalls der Gipfel der Durchgedrehtheit im Observatorium. Es gibt da noch einen Ex-Lehrer, dem die Körpersäfte mit hundert Gerüchen aus allen Poren rinnen; eine Frau, die sich für einen Hund hält; eine fernsehsüchtige Frau, die jeden Fernsehtod mitstirbt…
Eine der Grundbedingungen eines guten Romans, sind meines Erachtens Charaktere, die sich im Zuge der Handlung verändern. Diese Bedingung erfüllt Edward Carey mit Bravour, und wenn man dann noch liest, dass Observatory Mansions ein Erstlingsroman ist und Edward Carey gerade mal dreißig Jahre bei der Erstveröffentlichung war, fühlt man sich schon recht beeindruckt, zumal der Roman auch ansonsten völlig stilsicher daherkommt. Edward Carey, das ist klar, ist jederzeit Herr des schwierigen Stoffes, den er gewählt hat.
Doch zurück zu den Charakteren. Es gehört sicherlich mit zu den schwierigsten schriftstellerischen Unterfangen, den schleichenden Wechsel in der Persönlichkeit eines fiktiven Charakters glaubhaft zu machen. Carey hat sich da selbst eine Art von Persönlichkeitsreifung auserkoren, wie sie extremer nicht ausfallen könnte.
Den Stein ins Rollen bringt der Einzug von Anna Tap in Wohnung 18. Die ganze Bewohnerschaft des Observatoriums gerät in Wallung ob dieser progressiven und bis ins Mark optimistischen jungen Frau. Erst als Eindringling schikaniert, dann mit immer mehr Zuneigung aufgenommen, tanzt die unaufhaltsam an einer Krankheit erblindende Anna in die Herzen der menschlichen Fossile des Observatoriums. Sie hat die Wirkung eines Virus. Ihre Aura lässt sich nicht mehr aufhalten, und am Ende ist nichts mehr wie es vorher war. Die Observatoriumbewohner werden allesamt mit ihren Vergangenheiten konfrontiert und sozusagen in andere Wesenheiten transformiert.
Patrick McGrath, selbst ein Meister gotischer Psychoschauer hat Observatory Mansions einen begeisterten Cover-Blurb gespendet. Was mir persönlich an Edward Carey mehr Freude gespendet hat als an Patrick McGrath und seiner allumfassenden Niedergeschlagenheit (obwohl ein solcher Vergleich zwischen zwei Autoren natürlich töricht ist) ist das Durchscheinen von Schönem, Lebensbejahendem in all diesem Verfall – die sprichwörtliche Rose auf der Müllhalde.
Observatory Mansions ist ein herausragendes, stilistisch ausgefeiltes Buch. Es spendet einige außergewöhnlich bewegende Momente, für die man nicht genug danken kann. Edward Carey hat noblerweise eindeutig ein großes Herz für die Abgestürzten. Wie Frances so schön sagt: „Handschuhmenschen sind magische Menschen.“

Deutsche Übersetzung: Das verlorene Observatorium, übersetzt von Jürgen Bürger (München: Liebeskind 2002)

Erstveröffentlichung dieser Rezension in: Arcana, No.2, April 2003
Erste Online-Veröffentlichung auf booknerds.de
Die Rezension wurde für diese Veröffentlichung leicht überarbeitet

Richard Lorenz | Hinter den Gesichtern

Warum lesen wir – mich inbegriffen – eigentlich durchschnittlich so viel mehr übersetzte Literatur als welche aus heimatlichen Gefilden? Nun ja, moderne deutsche Literatur hat bei vielen Lesern nicht gerade den besten Ruf. Denn nicht unbedingt jeder findet Erfüllung darin, Autoren dabei zuzusehen, wie sie nach gewichtigen zeitkritischen Themen grasen, die ihre Chancen auf Literaturpreis-Nominierungen enorm vergrößern. Wofür in der deutschen Literatur das Absolutum „Made in Germany“ aber nun wirklich nicht steht, ist das Grundsätzliche aller erzählender Literatur: die Fähigkeit zum Erzählen.
Es lässt sich aber eine Gruppe von Autoren beobachten, die sich über so etwas überhaupt keine Gedanken machen, denn sie können es einfach, das Erzählen. Ich spreche von Autoren wie Frank Hebben, Hanna-Linn Hava, Erik R. Andara und natürlich Richard Lorenz. Sie alle verstehen es auf ihre jeweils ganz eigenen Arten, Geschichten zu erzählen, den man nur zu gern folgt, und zwar weil sie bewegen, fesseln, eigene Schrullen in Literatur zu konvertieren in der Lage sind. Die belehrende und erzieherische Versuchung gesegneter, preisverdächtiger deutscher Literatur hat sie glücklicherweise nie erreicht.
Richard Lorenz hat es sich mit seinen bisherigen (veröffentlichten) Werken Amerika-Plakate, Frost, Erna Piaf und der Heilige und So dunkel die Nacht (Download im Buchdesign hier) in einer Nische in der Nische eingerichtet, in der er bewundert und kultisch gefeiert wird. Es wird langsam aber wirklich Zeit, dass das, was in seiner Nischennische passiert, endlich einen Überdruck erwirkt und aus der kleinen Höhle herausplatzt. Ob das mit seinem neuen Roman Hinter den Gesichtern passieren wird, sehe ich (leider) immer noch etwas verhalten, aber worin ich mir sicher bin, ist die Gewissheit, dass dieses Buch Richard Lorenz neue Leser verschaffen und eine größere Nischenwohnstätte erforderlich machen wird.
Hinter den Gesichtern segelt unter der Kriminalroman-Flagge, aber auch dieser Anzug sitzt viel zu eng. Klar, ist es ein Kriminalroman, aber es ist ein Kriminalroman von Richard Lorenz, und allein diese Begriffskombination lässt auf etwas Neues, Eigenständiges hoffen.
Und um es kurz zu machen, ja, genau dies ist geschehen. Und um es noch deutlicher zu sagen, mit Hinter den Gesichtern ist Richard Lorenz ein Meisterwerk gelungen!
Unter dem Begriff Meisterwerk verstehe ich persönlich etwas völlig Herausragendes, etwas, das es so noch nicht gegeben hat, etwas das kein anderer in dieser Form erschaffen könnte. Ich habe mir also durchaus Gedanken gemacht, warum ich diese persönliche Ehrung genau an dieser Stelle vergebe. Hinter den Gesichtern ist für mich tatsächlich eine völlig neue Leseerfahrung, und, ja, ich bin der festen Überzeugung, dass kein lebender deutscher Autor dazu in der Lage wäre, etwas Derartiges zu schreiben. Hinter den Gesichtern benötigt keinen Patentschutz, denn jeder, der es imitieren wollte, kann nur scheitern. Richard Lorenz braucht daher keinen Wettbewerb fürchten, denn er ist einmalig, und mit diesem Buch zu einem Giganten angewachsen, an dem man nicht mehr vorbeischauen kann, ohne ihn trotzdem im Blick zu haben.
Was aber macht denn diesen Roman so außergewöhnlich? Ich weigere mich, auch nur einen Satz zur Handlung zu schreiben. Der Klappentext geht mir da schon zu weit und sollte dringend gemieden werden.
Das Fundament von Hinter den Gesichtern ist das eines Thrillers, wie wir es kennen. Das Wie ist hier das alles Entscheidende. Ich muss da an die Cass-Neary-Thriller denken, in denen ihre Autorin Elizabeth Hand recht erfolgreich versucht, das Genre zu sprengen und Thriller so zu schreiben, als seien sie einfach nur abgründige literarische Werke, ohne Einheitsgröße. Elizabeth Hand bleibt dabei bis auf ausgesuchte visionäre Szenen durchweg im realistischen Tritt. Richard Lorenz hingegen geht viel weiter, sehr viel weiter. Er leuchtet so tief in die Köpfe seiner Romanfiguren, dass es weh tut. Und was sich in diesem Erkundungsstrahl auftut, sind keine realistisch-logischen Gedankenfolgen sondern zerstörerische Abgründe der absoluten Finsternis, metaphernreich signalisierend, brodelnd wie schwarze Lava. Und das alles erreicht Lorenz allein mit dem Instrument Sprache, das er so virtuos beherrscht wie kaum ein anderer. Die Wege und Tätigkeiten des Handlungspersonals lassen sich real verfolgen, wie in einem gängigen Thriller, aber was in ihren Köpfen passiert, das erfahren wir nur durch die Sprachmächtigkeit des Autors. Allesamt sind sie traumatisiert, diese Bewohner der Kleinstadt des Grauens. Aber nicht die äußeren Folgen stehen im besonderen Fokus Lorenz‘, sondern das, was die Traumata jeden Tag, jede Minute mit den Menschen machen. Ihre Ängste und Panikattacken macht Richard Lorenz in seiner lyrischen Sprache so sichtbar, dass man die Schreckgespenster förmlich greifen kann, und tatsächlich habe ich noch nie in erzählender Literatur eine derartig permanent vorhandene, alles überflutende Atmosphäre der Angst in den Köpfen fiktiver Charaktere gespürt. Die Bildhaftigkeit von Richard Lorenz‘ Sprache erreicht hier eine wirklich bemerkenswerte Intensität.
Schwarzes Blut flutet an allen Ecken und Enden durch Hinter den Gesichtern und der Roman liest sich durchgängig wie ein dunkel-phantastisches Werk. Und doch ist es letztlich ein Monolith des Lebens, des Menschseins, voller Weisheit und Güte.
Was ich mir von Richard Lorenz für die Zukunft wünsche? Dass aus dem Roman keine Krimiserie entsteht. Und dass Richard Lorenz beim nächsten Mal über die Lichtseite schreibt, in einer Art Lorenz‘schem Löwenzahnwein.

Originalausgabe
Dortmund: Luzifer Verlag, 2019

Arthur Machen | Der geheime Glanz

Der nächste Band der Semi-Werkausgabe Arthur Machens, Der geheime Glanz, ist der frustrierendste Teil der neuen Machen-Edition.
Die Machen-Forschung ist schon seit Jahrzehnten soweit zu wissen, dass Der geheime Glanz ursprünglich sechs Kapitel umfasste anstatt der vier der Originalausgabe, der die Piper-Ausgabe und jetzt sklavisch auch die des Elfenbein Verlags folgt. Arthur Machen hatte die beiden letzten Kapitel kurzfristig einfach brutal herausgerissen und durch eine zweiseitige Zusammenfassung ersetzt, ein Vorhaben, das den gesamten Roman in seiner verstümmelten Fassung inkonsistent und unvollständig erscheinen lässt.
Jetzt könnte man die Auffassung vertreten, dass der Wille des Autors Gesetz ist, basta, aber würde man das immer so sehen, hätten wir heute zum Beispiel einiges von Franz Kafka nie gesehen.
Die deutsche Neuausgabe von Arthur Machens Romans hat die Chance vertan – wie es etwa heutige englischsprachige Ausgaben von Der geheime Glanz handhaben – den Roman in voller Länge zu bringen. Ich habe die beiden herausgeschmissenen Kapitel im Original gelesen und kann hier nur vermitteln, dass sie zum Teil zum sprachlich Schönsten gehören, was Machen je geschrieben hat. Die Handlung lässt Meyrick sich erneut in eine Frau verlieben, mit der er auch zusammenkommt, um dann mit ihr gemeinsam den Hüter der heiligen Schale aufzusuchen und sein Erbe anzutreten. Dass deutsche Leser das nicht lesen dürfen, ist sehr sehr schade.
Aber wie schon im Falle von Die drei Häscher möchte ich die Neuausgabe keinesfalls schlechtreden, denn dafür ist die gesamte Edition einfach zu verdienstreich. Es macht halt nur traurig, dass man mit relativ geringem Aufwand einen sehr viel höheren Wirkungsgrad hätte erreichen können.
Der geheime Glanz wurde von Arthur Machen bereits ca. 1907 geschrieben (erschien also mit gut fünzehnjähriger Verspätung zum ersten Mal) und gehört damit zu seiner spirituellen Schreibphase, der auch die Meisterwerke Der Berg der Träume, Ornaments in Jade (nicht auf Deutsch erschienen), „Die weißen Gestalten“ und A Fragment of Life (nicht auf Deutsch erschienen) angehören. Entgegen der Werke seiner früheren Schauer-Schreibphase („Der große Pan“, Die drei Häscher etc.) überwiegen in diesen Geschichten das Streben der Protagonisten nach einem höheren, verborgenen Sinn des Lebens und die Schilderungen der unvergesslichen Schönheit der walisischen Heimat, die meist mit Wehmut und Heimweh aus der Fremde beschworen wird. So auch in Der geheime Glanz, einer verrückten Mischung aus Internatsroman und Gralssuche. Der junge Schüler und Vollwaise Ambrose Meyrick übersteht die Repressalien des englischen Privatschulsystems nur, indem er nach außen hin die Rolle des „männlichen“ Musterschülers spielt, in Wahrheit aber mit seinem sensiblen, grenzenlosen Geist nur in Warteposition steht, um in seine walisische Heimat zurückzukehren und eine ekstatische Reise jenseits der bekannten Realität in die Tat umzusetzen.
Machen neigt in diesem Werk streckenweise zum Lamentieren, was einige langatmige Sequenzen zur Folge hat. Daneben hat der Roman aber große Momente, insbesondere in seinen rauschhaften Landschaftsbeschwörungen und den zarten Liebesanfängen, die Joachim Kalka in ein sinnliches und teilweise wunderbar delirierendes Deutsch übertragen hat.
Als Bonus-Material enthält der Band die beiden kurzen Episoden „Die heiligen Dinge“ und „Psychologie“ aus dem Band Ornaments in Jade, die so, ohne den Zusammenhalt des gesamten Bandes von Prosagedichten doch arg in der Luft hängen, obwohl man natürlich für jeden neuübersetzten Text Machens einfach nur dankbar sein muss.

Originalausgabe: The Secret Glory (1922)
Deutsche Übersetzung: Joachim Kalka
Berlin: Elfenbein Verlag, 2019

Arthur Machen | Die drei Häscher

Die Piper-Semi-Werkausgabe des erzählerischen Werkes Arthur Machens aus den 1990er Jahren ist heute unter Kennern legendär, war sie doch die einzige Möglichkeit ein breiteres Spektrum des beinahe unbekannten Arthur Machen zu ergründen. Diese sechsbändige Ausgabe wieder auf den Markt zu bringen wie es der Elfenbein Verlag jetzt tut, ist eine noble Geste, der man nicht genug Dank entgegen bringen kann, zumal sie jetzt anstatt wie früher im Taschenbuch in gediegenen Hardcovern ohne Schutzumschlag erscheint. Die neue Edition ist der alten auch in anderen Punkten überlegen (beispielsweise auch durch die sehr viel besser lesbare Schrifttype), aber – so ungern ich das angesichts des hohen Verdienstes dieser Verlegertat tue – es gilt auch von Kritikpunkten zu berichten.
Wie mir scheint, liegt die textliche Gestaltung der neuen Ausgabe allein in den Händen des Übersetzers Joachim Kalka, was einige deutliche Nachteile mit sich bringt. Kalka kennt durch seine Arbeit ohne Zweifel einen großen Teil des erzählenden Werkes Machens, aber für mich deutet nichts darauf hin, dass er darüber hinaus in die Materie eingetaucht ist. Dass man ihn beim Elfenbein Verlag offenbar ohne eine kritische Kontrolle tun lässt, was er will, lässt sich beispielsweise daran festmachen, dass in Kalkas Vorwort zum ersten Band der „Werkausgabe“, Die drei Häscher, durchgängig von dem Roman The Hill of Trouble die Rede ist und niemand merkt, dass besagter Roman The Hill of Dreams heißt. Auch präsentiert man auf dem inneren Titelblatt stolz „Mit der erstmals übersetzten Erzählung ‚Der verlorene Club‘“ den Bonus des ersten Bandes. Nur ist die Kurzgeschichte „The Lost Club“ bereits auf Deutsch erschienen, und zwar als „Der Club, den es nicht gibt“ in der Anthologie Als ich tot war. So etwas ist irgendwie peinlich und unprofessionell.
Die drei Häscher ist ein Episodenroman, der tatsächlich auf der einen Seite sehr viel besser arrangiert ist als man zunächst glaubt, auf der anderen Seite manchmal aber konzeptionell wirkt, wie eine Maschinerie, die durch Panzerklebeband zusammen gehalten wird. Man muss schon bei der Sache sein, um zu verstehen, wo der Zusammenhang der drei Häscher des Prologs und dem Haupttext besteht. Das hat Machen wirklich gut gemacht, aber wie schon in seiner berühmten Erzählung „Der große Pan“ sind die Zufälle so extrem zufällig, dass man manchmal lachen möchte, so an den Haaren herbeigezogen sind die Begegnungen der Charaktere. Es geht letztlich um einen jungen Mann, der von Mitgliedern einer okkulten Geheimgesellschaft verfolgt wird. Mitten in dieses Szenario stolpern die distinguierten Herren Dyson und Phillips, die eigentlich sonst auch nichts machen außer in seltsame Situationen zu stolpern. Man bedenke, dass wir uns in der nicht so kleinen Stadt London befinden, was aber kein Grund ist, dass die beiden immer wieder Leute treffen, die an der ganzen Affäre beteiligt sind und den beiden bei allen Gelegenheiten unheimliche Geschichten erzählen, die manchmal mit ihren Andeutungen des „kleinen Volkes“ bereits auf Machens Meisterwerk „Die weißen Gestalten“ verweisen. Denkwürdig ist insbesondere das Tentakelgewimmel der Kurzgeschichte „Roman vom schwarzen Siegel“, das wohl das Samenkorn für H. P. Lovecrafts Cthulhu-Mythos sein dürfte, der später dann Generationen von Schriftstellern und Lesern lenken sollte.
Angesichts vieler schaurig-schöner Momente dunkler Phantastik, kann man die albernen Zufälle des Romans mit Milde betrachten. Identifikationsfiguren sowie zwischenmenschliche Interaktionen wird man in Die drei Häscher nicht finden. Aber man hat nach schockstarrer Beendigung des Buches das Gefühl, eine bedrohliche Welt, nicht ohne Schönheit, gesehen zu haben, die der Realität erschreckend nahe ist. Trotz Mängel eines der elementaren Bücher der dunklen Phantastik.

Originalausgabe: The Three Impostors (1895)
Deutsche Übersetzung: Joachim Kalka
Berlin: Elfenbein Verlag, 2019

Julia A. Jorges | Symbiose

Originalveröffentlichung (2017)

Im Gewand einer Spukhausgeschichte beschreibt die Autorin die sexuelle Selbstfindung ihrer Protagonistin

Ich finde es immer wieder verblüffend, wenn Autorinnen und Autoren einem restlos ausgenudelten Topoi eine neue Gestalt geben, an die vorher niemand dachte. So etwas kommt nur noch selten vor, aber es kommt vor, wie wir mit der Kurzgeschichte „Symbiose“ von Julia A. Jorges sehen. Dabei ist das, was Jorges anders macht als ihre zahlreichen Vorgänger, so erstaunlich naheliegend. Mann nuss nur darauf kommen. Lediglich eine veränderte Perspektive – Klischees meidend – bewirkt hier eine völlig neue Ansicht des Themas.
Das Thema von dem ich rede, ist das der klassischen Spukhausgeschichte. Es scheint kaum möglich, hier noch Neues zu erfinden, aber Julia A. Jorges gelingt dies tatsächlich, indem sie eingefahrene Rollenmodelle quasi in ihren Werkszustand zurücksetzt.
Gewöhnlich sind es ja insbesondere Frauen, die in derartigen Geschichten in Angst und Hysterie versetzt werden. Für eine Restrukturierung des Gewöhnlichen, also des normalen Alltags, sorgt zumeist eine wiederhergestellte patriarchalische Ordnung, die im allergewöhnlichsten Fall dann auch noch in einer wie nach Vorschrift vollzogenen Beziehung zwischen Mann und Frau gipfelt.
Das ist in „Symbiose“ nicht der Fall. Die Ich-Erzählerin, die sich zu einem günstigen Preis ihr Traumhäuschen von einer seltsamen alten Frau kauft, entstammt der üblichen Patriarchatsfalle. Von ihrem Mann verlassen, muss sie sich jetzt um sich selbst kümmern, um ihren „Seelenfrieden wiederzufinden.“
Direkt der erste Mann, den sie in ihr neues Haus abschleppt, macht ihr Dilemma deutlich: Frauen sind viel zu oft Opfer sexueller männlicher Dominanz.
Aber, Frauen, die männliche Aufdringlichkeiten abwehren, haben trotzdem ihre eigenen sexuellen Sehnsüchte. Nur wollen sie selbst darüber bestimmen, wie und mit wem sie diese ausleben möchten.
„Erst heiß machen und dann rausschmeißen“, lautet der Kommentar des abgewiesenen Mannes. Zu diesem Zeitpunkt ahnt er noch nicht, was ihm bevorsteht, indem die weibliche Seele des Hauses die Machtverhältnisse umdreht. Irgendwann „begriff ich das weibliche Wesen, das ihr innewohnte“, folgert die Erzählerin. Mit großer Selbstverständlichkeit benennt sie das Haus mit dem Personalpronomen „sie“.
Das Haus wirkt wie ein Gegenentwurf zu einer Jahrtausende alten Tradition maskuliner Stärke und trägt deswegen schon beinahe utopische Züge. Denn, das Haus in „Symbiose“ ist neben einer Wohnstätte in erster Linie der Schoß alles Weiblichen. Hier existiert eine manipulationsfreie ureigene, wilde und kraftvolle weibliche Sexualität, vor der Männer sich gewöhnlich fürchten. Die Erzählerin, für die der herkömmliche sexuelle Akt mit einem Mann „nichts als öde“ ist, genießt im Haus „körperliche Freuden nie geahnten Ausmaßes“.
Die Männer in „Symbiose“ sind zunächst dominant, aufdringlich, verlangend, besitzergreifend; letztendlich aber, wenn sie ihre Macht, ihre körperliche Überlegenheit, verloren haben, nur noch schwach und des täuschenden Scheins ihres Charismas beraubt.
Natürlich ist die Wandlung der Erzählerin zur selbstbestimmten Frau letztlich durch das Haus initiiert und somit handlungsbedingt eben nicht ganz selbstbestimmt. Aber wenn die Erzählerin die Geschichte mit den Worten „Ich verdanke ihr alles“, beginnt, wird deutlich, dass die Metamorphose, die sie durchläuft, nicht unwillkommen ist.
Ich bin mir nicht sicher, ob Julia A. Jorges beim Schreiben der Geschichte selbst überhaupt bewusst war, dass sie da gerade einen an den Wurzeln großen Übels kratzenden feministischen Text verfasste, so selbstverständlich verwurzelt mit dem Handwerk der Horror-Literatur erscheint die von ihr gewählte Perspektive.
Ein Vorhaben, wie Julia A. Jorges es auf die Beine gestellt hat, birgt immer sehr großes Potential, in Klischees zu versacken und letztendlich zu scheitern. Jorges ist alles andere als gescheitert. Sie umschifft sehr gekonnt die allzu angestrengten Gender-Klischees. Wie sie die Prioritäten auf das Weibliche als starke Instanz umschaltet und dabei die allgegenwärtigen Fehler vermeidet, ihrer Protagonistin imitierte männliche Stärke zu verleihen oder gar hasserfüllte weibliche Rache zu vollziehen, ist sehr selten in der Literatur, und das nicht nur in Genre-Literatur.
„Symbiose“ erfüllt ihre von der Autorin gestellte Aufgabe in der vorliegenden Literaturform der Kurzgeschichte durchweg beachtenswert, aber ich gehe soweit zu sagen, dass der Stoff förmlich darum bettelt, auf größeren Umfang expandiert und vertieft zu werden.

Erstveröffentlichung in: Marburger Verein für Phantastik e.V. (Hrsg.), Finstere Übernahme (Marburg: Selbstverlag, 2017)
Empfehlenswerte Ausgabe (revidierte Fassung) in: Michael Schmidt (Hrsg.), Zwielicht Classic 14 (Lahnstein am Rhein: Selbstverlag, 2018)

Steven Millhauser | Zaubernacht

Originaltitel: Enchanted Night (2000)

In diesem silbrig leuchtenden, magischen Mondnachtstück kreisen die Menschen einer Kleinstadt um ihre persönlichen existentiellen Fragen.

Kommt alle her, ihr Träumer, ihr Verliebten, ihr Liebeskranken, ihr Einsamen, ihr Lebenskünstler, ihr Mondsüchtigen. Ihr alle seid willkommen in dieser verzauberten Nacht, in der das Unbelebte und das beinahe Abgestorbene erwacht.
Versammeln wir uns doch um die mondleuchtende Novelle Enchanted Night [Zaubernacht] von Steven Millhauser, die die Verlierer sprechen lässt, die Melancholiker, die Traurigen, all die Unerfüllten und Sehnenden.
Steven Millhausers einmalige magische Augustsommernacht zieht die Menschen einer amerikanischen Kleinstadt hypnotisch aus ihren Häusern und gibt ihnen eine lebensbegrüßende Stimme.
Es ist kurz vor Mitternacht und Beinahe-Vollmond. Der 14-jährigen Laura kribbelt es am ganzen Körper. Alles zieht sie nach draußen. Genauso wie den 39-jährigen Stubenhocker Haverstraw, dessen “Leben schmerzt“, und die 20-jährige Janet, “erfüllt von Sehnsucht“ und “toll vom Mond“. Sie alle tun etwas, das sie noch nie getan haben. Janet bietet sich dem Mond dar, nicht ahnend, dass sie ins Visier eines dunklen Verfolgers geraten ist, dem “Mann mit dem glänzend schwarzen Haar“, der “ein neues Stück für seine Sammlung“ erspäht hat.
Aber keine Angst, nichts zerstört den Wunderbann dieser einzigartigen Nacht. Nichts Böses passiert, keinerlei Autoritäten sorgen für Ordung und Korrektheit, und keinerlei Eltern bekommen mit, dass ihre Kinder in die Mondnacht ausschwärmen.
Aber nicht nur die Lebenden lassen sich vom silbernen Mondlicht durch ihre Welt lenken, auch das Unbelebte erwacht und kreuzt die Welt der Lebenden. Die auf Dachböden und Rumpelkammern verbannten Spielzeugfiguren und Kuscheltiere der Kinder erwachen zum Leben, und die wunderschöne Schaufensterpuppenfrau hütet ihr Geheimnis nur noch so lange, bis der 28-jährige Coop leer und einsam vor ihrem Schaufenster auftaucht und sie dazu veranlasst, zum ersten Mal auf die Straße herauszutreten. “Seine Wertlosigkeit lähmt ihn“, wird Coop zuvor noch charakterisiert, aber als sich seine und die Hand der Schaufensterpuppe umschließen, erfüllt ihn nur noch Glück.
In anmutiger, mondtaumelnder, insbesondere junge Menschen mit großer Sensibilität beleuchtenden Sprache – die Sabrina Gmeiner mit schlafwandlerischer Sensibilität in ein traumverlorenes Deutsch übertragen hat – arrangiert Steven Millhauser in Novellenlänge ein literarisches Bühnenstück mit multiplem Stimmumfang. Ein Mondbuch, das glücklich macht.

Deutsche Übersetzung: Zaubernacht, übersetzt von Sabrina Gmeiner (Wien: Septime, 2016)

Steven Millhauser | Das Jademädchen

Originaltitel: Cathay (1984)

Sprache zu beherrschen wie ein Instrument ist Steven Millhausers Motivation in diesem unfassbar ideenreichen Lexikon zum imaginären Land Cathay

Eine der Obsessionen, mit denen Steven Millhauser seine Erzählungen, Novellen und Romane signiert, ist eine Neigung zum totalen Beschreibungs-Exzess. Man kann natürlich einen Menschen oder ein Ding mit einem Satz oder sogar mit einem Wort beschreiben, was aber für Millhauser kein gangbarer Weg ist. Er konkretisiert manchmal so ausufernd, als wolle er die englische Sprache bis ans absolute Limit führen. Erst wenn keine Worte mehr vorhanden sind, um einen weiteren schönen Satz zu formen, sieht er sich am Ziel. Im ungünstigen Fall macht diese Grille Millhausers manchmal etwas müde. Im besten Fall führt es zu etwas Atemberaubenden wie der Erzählung “Cathay“ [“Das Jademädchen“].
“Cathay“ ist angelegt wie der lexikalische Teil eines Reiseführers. Es gibt keinen Protagonisten, an den man sich klammern kann, und es gibt auch keinen Handlungsfaden, den man von Anfang bis Ende verfolgen kann. Nur eine alphabetisch geordnete Auflistung von Stichworten, die Cathay charakterisieren, nebst meist kürzerer, in bewusst neutralem und Emotionen verbietendem Schreibstil gehaltener Erklärungstexte.
Das, was sich so trocken anhört, ist in Wahrheit ein Fest der Fantasie. Das imaginäre Kaiserreich Cathay ist ein Land der Superlative. Alles ist extrem groß oder extrem klein, prunkvoll und voller Schönheit. Dem, was Millhauser dann auffährt, folgt man nur zu gern mit offenstehendem Mund. Der kurze Text steht kurz vorm Platzen vor lauter Ideen und Unmöglichkeiten, die ohne Probleme für ein umfangreiches Romanepos gereicht hätten. Geblendet von all dem wundervollen Pomp verfolgt man mit Hochgenuss ein exquisites Sprachkunstwerk, das letztlich in ein Duell der Zauberer mündet, aus dem ein einmaliges Mädchengeschöpf aus Jade hervorgeht.

Deutsche Übersetzung: “Das Jademädchen“, übersetzt von Rolf Jurkeit, in: Rolf Jurkeit (Hrsg.), Twilight Zone – Magisches Licht (München: Heyne, 1986)

Shirley Jackson | Spuk in Hill House

Originaltitel: The Haunting of Hill House (1959)

Shirley Jackson - Spuk in Hill House

Die größte aller Spukhausgeschichten ist auch eine dunkle Reise in die Psyche einer unterdrückten Frau, die ausgerechnet in dieser Heimstatt der Angst dem ersten Glück ihres Lebens zu begegnen hofft.

Kaum eine Empfehlungsliste der besten klassischen Horror-Romane kommt ohne diesen Roman aus. In der Abteilung Spukhaus-Geschichten führt er die Listen in der Regel an: The Haunting of Hill House [Spuk in Hill House] von Shirley Jackson. Genau diese kollektive Einschätzung hat aber auch vermutlich verhindert, dass der Roman in den amerikanischen Literatur-Kanon aufgenommen wurde, wo er meiner Meinung nach aber hingehört. Es ist ein Fehler, The Haunting of Hill House auf einen Schauerroman zu reduzieren, aber ich verstehe durchaus, warum das so oft passiert.
Die Struktur von The Haunting of Hill House erinnert mich an die Aufnahmetechnik eines Musikstücks. Die unterschiedlichsten Tonspuren werden dabei aufgenommen, um am Ende zusammengemixt zu werden. Über eine ähnliche Textur verfügt The Haunting of Hill House, denn auch dieser Roman besteht aus einer Vielzahl von „Tonspuren“, die allesamt intensiv miteinander interagieren. Einige stehen laut im Vordergrund, andere sind so versteckt und leise, dass man sie nur bei genauem Lesen wahrnimmt. Nur, wer das Konzept dieses großen Ganzen erfasst, bekommt eine Ahnung davon, wie mächtig dieser schmale Roman in Wirklichkeit ist.
Das ist auch der Grund, warum es schlichtweg unmöglich ist, The Haunting of Hill House in einer Buchbesprechung allumfassend zu knacken. So existieren zahlreiche literaturwissenschaftliche Studien zum Werk, die in die unterschiedlichsten Richtungen ausschwärmen und den Eindruck erwecken, jeder Autor derselbigen habe ein anderes Buch gelesen. So schwächeln insbesondere jene Rezensionen, deren Autoren suggerieren wollen, das Buch besiegt zu haben. Es gehören auch renommierte Namen wie Stephen King und S. T. Joshi dazu, die zwar ohne Zweifel kluge Gedanken dazu niedergeschrieben haben, aber auch trotz aller Selbstsicherheit nicht darüber hinwegtäuschen können, dass ihnen wichtige Fixpunkte des Romans schlichtweg entgangen sind.
Im Gegensatz zu meinen berühmten Kollegen möchte ich hier also erst gar nicht so tun, als habe ich The Haunting of Hill House erfolgreich zugeritten und gebeugt. Aber ein paar Gedanken habe ich mir trotzdem gemacht.
Worin bestehen aber nun die einzelnen Schichten des Romans? Ich bin nicht annähernd geschult genug, um viele der Schlösser zu öffnen, die Hill House sichern wie einen dunklen Schatz. Doch manches, was in Hill House vor sich geht, bietet durchaus Grundstoff genug, um hier einige Interpretationen vom Stapel zu lassen.
Die Romankomponente, die sich am lautesten in den Vordergrund drängt, ist natürlich deutlich der Spukhaus-Plot. Er ist das erste, worauf man sich fixiert, der zunächst einzige Anker, den man hat. Bei anspruchsvollen Schauerromanen – nehmen wir beispielsweise The Turn of the Screw [Das Durchdrehen der Schraube] von Henry James – neigt die Gutachterkaste des Feuilletons gern dazu, das Übersinnliche als Metapher des Psychologischen anzusehen, weil ihre Hohepriester nicht so gern zugeben wollen, dass sie sich mit einen Horror-Roman die Hose schmutzig gemacht haben. Letztlich ist The Haunting of Hill House in der Tat auch oder möglicherweise sogar vorwiegend ein psychologischer Roman, doch wie die Biographen verkünden, hatte Jackson auch ein großes Interesse an Okkultismus, so dass man wohl davon ausgehen kann, dass sie durchaus mit großer Lust und absolutem Ernst bei der Konstruktion ihrer unheimlichen Geschichte tätig war und die Thematik sicherlich nicht mit gerümpfter Nase lediglich als reine Metaphorik zu verstehen wünschte.
Viele, die The Haunting of Hill House zum ersten Mal lesen, mögen sich vielleicht fragen, warum allgemein solch ein Wirbel um das Buch gemacht wird, denn auf seine Horror-Essenz reduziert, gibt es wahrscheinlich auf Anhieb aufregendere Romane, denn das, was in Hill House umtriebig ist, ist zunächst nicht viel mehr als ein schauriges Tischfeuerwerk, das eher Unbehagen als Entsetzen auslöst. Wirkliches Entsetzen verursacht der Roman erst, wenn man ihn durchgelesen hat und einem einiges klar wird.
Die Handlung ist schnell erzählt: Ein possierlich knuddelig-bärtiger Dr. Montague möchte gern die übersinnliche Energie, die man allgemeinhin Hill House nachsagt, wissenschaftlich belegen. Zu diesem Zweck mietet er sich für eine begrenzte Zeit in Hill House ein und stellt drei Mitarbeiter an, die er für besonders geeignet hält, die Aufgabe anzugehen, als da wären: der Nichtsnutz, „Lügner“ und „Dieb“ Luke Sanderson, der Hill House irgendwann erben wird, sowie die beiden Frauen Eleanor Vance und Theodora. In der Folge erleben die Protagonisten allerlei Merkwürdigkeiten, die man im klassisch-schauerromantischen Sinne als „Kettengerassel“ titulieren könnte. Zunehmend wird die Haut der vier Hobbyforscher, insbesondere die der beiden Frauen, aber dünner, und mehr und mehr rückt Eleanor in den Fokus, die offenbar eine besondere Verbindung zu Hill House zu haben scheint.
Und damit wären wir dann doch bei der psychologischen Ebene des Romans angelangt.
Shirley Jacksons Psychologie ist unmittelbar an Hill House gekoppelt. In Hill House geht nicht etwa ein rächender Geist um. Vielmehr ist Hill House gemäß des vielzitierten ersten Satzes des Romans ein eigenständiger Organismus. Auch ist Hill House für die psychisch halbwegs gesunden Charaktere zu keinem Zeitpunkt eine wirkliche Gefahr, anders als für Eleanor, mental stark beschädigt, traumatisiert von einem gesellschaftsfernen Leben unter der Fuchtel ihrer herrischen Mutter. Der Tod der Mutter nach elf Jahren aufopfernder Krankenpflege bis hin zum Ende hat Eleanor tiefsitzende Schuldgefühle eingeimpft. Diese sensible, endlos verletzte Frau, die in ihrem Erwachsenenleben „niemals glücklich“ war, und das düstere, polymorphe Haus bilden alles andere als eine erfolgsversprechende Fusion, wobei schwer zu sagen ist, wann das Haus Eleanor manipuliert und wann Eleanor selbst das Haus als Katalysator für ihre eigene ungesunde Erlebniswelt benutzt.
Während für die drei anderen Beteiligten Hill House eher gruselige Unterhaltung ist, ist der Aufenthalt in Hill House für Eleanor existentiell. Mehrmals lässt sie durchblicken, wie glücklich sie in Hill House ist. Zum ersten Mal in ihrem Leben hat sie ihr graues, unterdrücktes Leben verlassen und fühlt sich als Teil einer ihr wohlgesinnten Gruppe.
Der Fokus dieses Glücklichseins ist maßgeblich in ihrer Beziehung zu Theodora zu finden, die bei genauem Hinschauen romantische Züge trägt.
Bereits schon in Jacksons früherem Roman Hangsaman [Der Gehängte] haben Kritiker lesbische Untertöne entdeckt. Shirley Jackson selbst aber, die auch in ihrem realen Leben wegen sehr enger Beziehungen zu Frauen in diesem Verdacht geriet, wehrte es in der Öffentlichkeit vehement ab, was, der damaligen Zeit (ca. Mitte des 20. Jahrhunderts) geschuldet, nur zu verständlich ist.
Wenn man sich The Haunting of Hill House darauf bezogen einmal genau anschaut, spricht tatsächlich einiges für die Vermutung, dass Theodora lesbisch ist. Ich habe mehr als dreißig Textstellen ausfindig gemacht, in denen Theodora Nell bzw. Nellie (wie sie Eleanor zärtlich nennt) körperlich berührt, herzt, drückt, umarmt und umgarnt. „Theodora drängte sich eng an sie“, heißt es an einer Stelle. Mehrmals ergreift Theo innig Nells Hand.
Je enger Theo und Nell zusammenrücken, umso mehr legt Hill House an Fahrt auf. Von Jackson meisterhaft in Szene gesetzt, zeigt Hill House zunehmend sein düsteres Gesicht. Jackson baut eine stickige, einengende Atmosphäre des Bedrohlichen auf, liefert immer mehr kleine Details, die die Luft kälter werden lassen. Ihre einschüchternde imaginäre Architektur von Hill House gehört zu den subtilsten und suggestivsten Schilderungen ihrer Art.
Auch Nell ist Theo, wie sie Theodora nennt, sehr zugetan. „[… W] hübsch sie ist […]“, denkt sie bei Theos Anblick. Theo ist für Nell eine Spiegelung ihrer selbst, wie sie gern wäre: Theo ist das genaue Gegenteil von Nell, vorlaut, in den Tag lebend, immer positiv denkend. Dass es hier um mehr geht als um eine Freundschaft, wird an einigen Stellen deutlich. Die Szene, in der Theo Nell die Fußnägel lackiert, atmet ein spürbar erotisches Fluidum. Zu einem femininen, völlig abgeschlossenen und den Männern des Buches verwehrten Raum mit jetzt deutlicherer sexueller Symbolik erwächst das gemeinsame Badezimmer, in dem Theo Nell bittet, ihr Badewasser weiter zu nutzen. Indem Nell dies tut, vollendet sie den Akt. Die gemeinsame Verwendung des Badewassers repräsentiert hier einen Moment absoluter Intimität, wie sie nur der Geschlechtsakt bietet.
Diese Szene ist ein treffendes Beispiel dafür, wie subtil Shirley Jackson das sagt, was sie letztlich wirklich sagen will. Während Nell badet, hält Theo sie zur Eile an, weil das gemeinsam mit den beiden Männern stattfindende Frühstück ansteht. „Du musst doch inzwischen sauber genug sein, dass wir zum Frühstück gehen können“, treibt Theo Nell weiter an. Warum aber muss Nell für das Frühstück mit den beiden Männern besonders sauber sein? Damit sie nichts von der Sexualität der beiden Frauen bemerken! Wir wollen bedenken, dass wir uns in den 1950er-Jahren bewegen. Mit nur einem Satz feuert Jackson gegen die Repressalien des Patriarchats und eröffnet damit spielerisch innerhalb einer metaphorischen Ebene eine weitere Sub-Ebene des Romans. Das ist es, was ich meinte, nur ein Beispiel von vielen, die man hinter Jacksons trügerisch klarer, realistischer Sprache aufspüren kann. Der Roman ist durch geschicktesten Einsatz des Werkzeugs Sprache gespickt mit derartigen Rätseln.
Zuweilen hängt es einfach vom Fachwissen und Erfahrungshorizont der Leserschaft ab (Psychologie, amerikanisches Vokabular der 1950er Jahre, Shirley Jacksons eigenes gleichzeitig repressive und exzessive Leben etc.), wie tief man letztlich in Hill House eindringt.
Umso problematischer gestaltet es sich natürlich für die Leser einer Übersetzung. So macht es einem beispielsweise die deutsche (grundsätzlich gute) Übersetzung zusätzlich schwer, sich der lesbischen Symbolhaftigkeit sicher zu sein zu können, indem bezogen auf Theodoras Partnerschaft in ihrem Leben vor Hill House „friend“ mit „Freund“ übertragen wird. Indem er gar nicht erst auf die Idee kommt, dass es auch „Freundin“ lauten könnte, tappt Übersetzer Wolfgang Krege genau in die patriarchale Falle, die Shirley Jackson anprangert.
An dieser Stelle möchte ich aber dringend darauf hinweisen, dass dies alles Details sind, die man suchen kann aber nicht muss, denn die Genialität Jacksons liegt auch darin, dass sie schlichtweg einen virtuosen und gut lesbaren Roman geschrieben hat, dessen weibliche Hauptfigur Eleanor unser Mitgefühl und unsere Anteilnahme weckt.
Die Zuneigung und die Zuwendungen, die Nell von Theo erhält, sowie die Akzeptanz, die ihr von Dr. Montague und Luke entgegengebracht wird, sind ein Lichtblick in Eleanors angekettetem Leben. Zum ersten Mal fühlt sie sich als Teil einer Gemeinschaft. Kein Wunder, dass sie glaubt, dass Hill House gut für sie ist. Doch die Stimmung kippt genau in dem Moment, in dem sie Theo gegenüber einen richtungsweisenden Vorstoß unternimmt. Als wolle Hill House sie mit allen Mitteln bei sich behalten und keinesfalls an Theo abgeben, lenkt das Haus das Geschehen frontal in die Tragödie, von der die arme Eleanor nicht weiß, dass sie selbst der maßgebliche Teil davon ist.

Deutsche Übersetzung: Spuk in Hill House, übersetzt von Wolfgang Krege (Zürich: Diogenes, 1993)