Richard Lorenz | Hinter den Gesichtern

Warum lesen wir – mich inbegriffen – eigentlich durchschnittlich so viel mehr übersetzte Literatur als welche aus heimatlichen Gefilden? Nun ja, moderne deutsche Literatur hat bei vielen Lesern nicht gerade den besten Ruf. Denn nicht unbedingt jeder findet Erfüllung darin, Autoren dabei zuzusehen, wie sie nach gewichtigen zeitkritischen Themen grasen, die ihre Chancen auf Literaturpreis-Nominierungen enorm vergrößern. Wofür in der deutschen Literatur das Absolutum „Made in Germany“ aber nun wirklich nicht steht, ist das Grundsätzliche aller erzählender Literatur: die Fähigkeit zum Erzählen.
Es lässt sich aber eine Gruppe von Autoren beobachten, die sich über so etwas überhaupt keine Gedanken machen, denn sie können es einfach, das Erzählen. Ich spreche von Autoren wie Frank Hebben, Hanna-Linn Hava, Erik R. Andara und natürlich Richard Lorenz. Sie alle verstehen es auf ihre jeweils ganz eigenen Arten, Geschichten zu erzählen, den man nur zu gern folgt, und zwar weil sie bewegen, fesseln, eigene Schrullen in Literatur zu konvertieren in der Lage sind. Die belehrende und erzieherische Versuchung gesegneter, preisverdächtiger deutscher Literatur hat sie glücklicherweise nie erreicht.
Richard Lorenz hat es sich mit seinen bisherigen (veröffentlichten) Werken Amerika-Plakate, Frost, Erna Piaf und der Heilige und So dunkel die Nacht (Download im Buchdesign hier) in einer Nische in der Nische eingerichtet, in der er bewundert und kultisch gefeiert wird. Es wird langsam aber wirklich Zeit, dass das, was in seiner Nischennische passiert, endlich einen Überdruck erwirkt und aus der kleinen Höhle herausplatzt. Ob das mit seinem neuen Roman Hinter den Gesichtern passieren wird, sehe ich (leider) immer noch etwas verhalten, aber worin ich mir sicher bin, ist die Gewissheit, dass dieses Buch Richard Lorenz neue Leser verschaffen und eine größere Nischenwohnstätte erforderlich machen wird.
Hinter den Gesichtern segelt unter der Kriminalroman-Flagge, aber auch dieser Anzug sitzt viel zu eng. Klar, ist es ein Kriminalroman, aber es ist ein Kriminalroman von Richard Lorenz, und allein diese Begriffskombination lässt auf etwas Neues, Eigenständiges hoffen.
Und um es kurz zu machen, ja, genau dies ist geschehen. Und um es noch deutlicher zu sagen, mit Hinter den Gesichtern ist Richard Lorenz ein Meisterwerk gelungen!
Unter dem Begriff Meisterwerk verstehe ich persönlich etwas völlig Herausragendes, etwas, das es so noch nicht gegeben hat, etwas das kein anderer in dieser Form erschaffen könnte. Ich habe mir also durchaus Gedanken gemacht, warum ich diese persönliche Ehrung genau an dieser Stelle vergebe. Hinter den Gesichtern ist für mich tatsächlich eine völlig neue Leseerfahrung, und, ja, ich bin der festen Überzeugung, dass kein lebender deutscher Autor dazu in der Lage wäre, etwas Derartiges zu schreiben. Hinter den Gesichtern benötigt keinen Patentschutz, denn jeder, der es imitieren wollte, kann nur scheitern. Richard Lorenz braucht daher keinen Wettbewerb fürchten, denn er ist einmalig, und mit diesem Buch zu einem Giganten angewachsen, an dem man nicht mehr vorbeischauen kann, ohne ihn trotzdem im Blick zu haben.
Was aber macht denn diesen Roman so außergewöhnlich? Ich weigere mich, auch nur einen Satz zur Handlung zu schreiben. Der Klappentext geht mir da schon zu weit und sollte dringend gemieden werden.
Das Fundament von Hinter den Gesichtern ist das eines Thrillers, wie wir es kennen. Das Wie ist hier das alles Entscheidende. Ich muss da an die Cass-Neary-Thriller denken, in denen ihre Autorin Elizabeth Hand recht erfolgreich versucht, das Genre zu sprengen und Thriller so zu schreiben, als seien sie einfach nur abgründige literarische Werke, ohne Einheitsgröße. Elizabeth Hand bleibt dabei bis auf ausgesuchte visionäre Szenen durchweg im realistischen Tritt. Richard Lorenz hingegen geht viel weiter, sehr viel weiter. Er leuchtet so tief in die Köpfe seiner Romanfiguren, dass es weh tut. Und was sich in diesem Erkundungsstrahl auftut, sind keine realistisch-logischen Gedankenfolgen sondern zerstörerische Abgründe der absoluten Finsternis, metaphernreich signalisierend, brodelnd wie schwarze Lava. Und das alles erreicht Lorenz allein mit dem Instrument Sprache, das er so virtuos beherrscht wie kaum ein anderer. Die Wege und Tätigkeiten des Handlungspersonals lassen sich real verfolgen, wie in einem gängigen Thriller, aber was in ihren Köpfen passiert, das erfahren wir nur durch die Sprachmächtigkeit des Autors. Allesamt sind sie traumatisiert, diese Bewohner der Kleinstadt des Grauens. Aber nicht die äußeren Folgen stehen im besonderen Fokus Lorenz‘, sondern das, was die Traumata jeden Tag, jede Minute mit den Menschen machen. Ihre Ängste und Panikattacken macht Richard Lorenz in seiner lyrischen Sprache so sichtbar, dass man die Schreckgespenster förmlich greifen kann, und tatsächlich habe ich noch nie in erzählender Literatur eine derartig permanent vorhandene, alles überflutende Atmosphäre der Angst in den Köpfen fiktiver Charaktere gespürt. Die Bildhaftigkeit von Richard Lorenz‘ Sprache erreicht hier eine wirklich bemerkenswerte Intensität.
Schwarzes Blut flutet an allen Ecken und Enden durch Hinter den Gesichtern und der Roman liest sich durchgängig wie ein dunkel-phantastisches Werk. Und doch ist es letztlich ein Monolith des Lebens, des Menschseins, voller Weisheit und Güte.
Was ich mir von Richard Lorenz für die Zukunft wünsche? Dass aus dem Roman keine Krimiserie entsteht. Und dass Richard Lorenz beim nächsten Mal über die Lichtseite schreibt, in einer Art Lorenz‘schem Löwenzahnwein.

Originalausgabe
Dortmund: Luzifer Verlag, 2019

Vincent Preis 2015 – 1. Platz für dandelion-Weihnachtsgeschichte

Die letztjährige dandelion-Weihnachtsgeschichte So dunkel die Nacht  von Richard Lorenz, illustriert von Alexandra F., wurde soeben in Marburg mit dem Vincent Preis 2015 ausgezeichnet. Die Novelle erschien auch als Buch in einer limitierten Auflage bei der Edition CL von Eric Hantsch, der auch das PDF-Layout gestaltete.

Urkunde

Foto-Credit folgt

[Novelle] Richard Lorenz – SO DUNKEL DIE NACHT, illustriert von Alexandra F.

Druckfreundliches PDF im Buchdesign

Titel_Weihnachtsgeschichte

oie_transparent

1.

Babette hatte den Wetterbericht verfolgt, hatte sogar zuletzt den netten Mann am Hauptbahnhof nach den neuesten Unwetterwarnungen gefragt und weiterhin das Beste gehofft. Die Hoffnung stirbt zuletzt, hatte ihre Tante zu jedem Anlass von sich gegeben, selbst als sie mit Hirnmetastasen im Bett gelegen hatte. Aber es würde weiter schneien, so viel stand fest. Die ganze Nacht hindurch schneien, bis man die Welt nicht mehr finden würde. Sogar von einem Jahrhundertwinter war die Rede, mit sibirischen Temperaturen von 30 Grad minus. Natürlich hatte ihr Nele von dem Besuch abgeraten. In Prag lag schon seit einer Woche meterhoch Schnee und in manchen Straßen war der Strom seit Tagen ausgefallen. Zwei Obdachlose waren in einem Park erfroren aufgefunden worden, zwei Eisskulpturen mit geplatzten Augen, und, wie es hieß, sollte es noch kälter werden.
Babette seufzte und beobachtete weiter die Lichtpunkte der dunklen Nacht. Sich im Sturm wiegende Straßenlaternen, flackernde Fensterschemen von weit entfernten Häusern. Und träumte ein wenig von ihrem Leben. Von den langen Sommernächten, den starken Herbststürmen und auch von vergangenen Wintertagen. So dunkel die Nacht dort draußen, so hell das Licht zwischen den Herzschlagpausen. Gütig und warm. Auch, weil sie an ihre Tochter denken konnte, ihr das Glück vergönnt war, ein Kind zu haben. Wunderschöne Nele. Die schon als kleines Mädchen ein Herzwunder gewesen war.
Der Mann neben ihr schlief bereits seit der Zug-Abfahrt und schnarchte leise wie Herr Ulysses in ihrer Reisetasche schnarchte. Eher ein zufriedenes Knurren, tief aus dem Bauch heraus, und sie musste lächeln. Ein Toupet, schon ziemlich alt und ausgefranst, rutschte bei jeder Gleis-Unebenheit hin und her, obwohl er noch viel zu jung war für ein Toupet. Vielleicht Ende dreißig, kaum älter. Diesen Mann hatte Babette gleich beim Einsteigen bemerkt, und vielleicht hatte sie sich deshalb auch neben ihn gesetzt, ohne nachzudenken und obwohl noch genügend andere Plätze frei gewesen waren. Um die Geschichte darüber zu hören, als Zeitvertreib für die lange Reise, über dieses Ding auf seinem Kopf. Babette wusste zwar vage, weshalb er das hässliche Toupet trug (seiner Mutter zuliebe), dennoch wollte sie es aus seinem Munde hören. Auch, weil seine Aura geheimnisvoll war, weder dunkel noch hell. Jede Geschichte, ob wahrhaftig oder erfunden, färbt sich mit jenen Menschen, die sie erzählen, und der Ton zwischen Wahrheit und Lüge erweckt alle Gespenster zum Leben. Aber kaum hatte der Express die ersten ruckenden Bewegungen gemacht, war der Fremde in einen tiefen und seligen Schlaf gefallen. Jene Sorte Mensch, die in Bussen und Zügen sofort einschläft, den Kopf auf die Brust gesenkt. Babette war da ganz anders, und schlafen konnte sie nur in ihrem eigenen Bett mit dem Kater auf den Füßen. Wie schon ein Leben lang.
Draußen ein verlassener und schneeverwehter Bahnhof ohne Namen mit einem schiefen Unterstand. Der Zug verlangsamte sich, als würde er stehen bleiben wollen, um sicher zu gehen, keinen Reisenden zu vergessen. 02 Aquarell Aber es war nur eine Atempause, vielleicht auch nur, um den Blick auf das Verlassene, das Einsame zu offenbaren. Wie eine Fotografie, die einen traurig macht. Eine tief verwurzelte Weihnachtstraurigkeit, die jenes inne hatte: Irgendwann wird jeder Mensch sein letztes Weihnachten erleben, und dann kommt die Dunkelheit. Nur noch Allerheiligen tief unter der Erde, und Hände so kalt wie frische Schneeflocken.
“Kaffee? Tee? Kaffee? Tee?” Ulysses hob seinen Kopf aus der Tasche, gähnte und verschwand wieder. Der Mann mit dem kleinen Rollwagen war seit der Abfahrt schon dreimal durch den Mittelgang gekommen, und er schien jedes Mal ein wenig betrunkener oder trauriger oder gar beides zu sein. Was daran lag, dass seine Frau zu Hause auf ihn wartete und er sie unendlich liebte und das Warten und die Liebe zu einer Melange von Sehnsucht und Stille wurde. Babette konnte sogar den Weihnachtsbaum (einen Engel als Spitze, bei dem ein Arm fehlte) hinter ihren Augen sehen, den seine Frau kurz nach Mitternacht geschmückt hatte, damit er ihn noch bewundern konnte, bevor er zur Arbeit gehen musste. Und das alles nur, weil ihn sein Vorgesetzter nicht sonderlich gut ausstehen konnte und der den Dienstplan deshalb kurzfristig umgeändert hatte.
Babette bestellte sich eine weitere Tasse Milchkaffee, obwohl sie eigentlich gar keinen Kaffee mehr wollte und beobachtete dabei den Zugangestellten. Die zittrigen Hände, das stumme Formen von Buchstaben, die wässrigen Augen. Eine unglaubliche Traurigkeit. Sein silbriges Namensschild, auf dem in geschwungenen Buchstaben Melchior zu lesen war. Was für ein wunderbarer Name. Melchior lächelte mechanisch und zählte das Wechselgeld in ihre Handfläche. Er roch nach billigem Schnaps und nach Zigaretten, die er in der Zug-Toilette heimlich rauchte. Vielleicht würde Babette den Kaffee tatsächlich trinken und Melchior später auf dem Rückweg von der Toilette nach seinen Träumen fragen. Sie lächelte, und er nickte, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
Blickte ihm nach, wankender Gang, beinahe taumelnd, und sah ihn verschwinden in dem nächsten Abteil, das vollkommen leer war. Wer in aller Welt verreiste auch schon in der Nacht des Heiligen Abends? In der Nacht der Geschenke und der Wünsche, der himmelhohen Kinderträume. Während draußen die Schneezungen nach den Bäumen schnappten, saßen bestimmt jetzt gerade Menschen in den Schattenschlägen von Kerzen und gedämpftem Licht, atmeten den Geruch von frischem Harz und von den Resten des Essens in der Küche ein. Die ersten schlafenden Kinder in den Mulden des Lebens, träumend von den Abenteuern der Nacht und vom nächsten Tag mit den neuen Errungenschaften, an denen noch der Rest vom Geschenkpapier klebte.
Babette nippte am Kaffee, der so alt war, dass er bitter geworden war. Durch den Fensterritz strömte kalte Luft herein, und sie fröstelte trotz Schal und Mütze, trotz zwei Paar Socken in ihren guten Schuhen. Aber, wenn sie eines wusste, dann das: Mit 72 Jahren fröstelte man sogar im Hochsommer. Da konnte der gute alte Dr. Berender noch so viele Hormontabletten verschreiben wie er wollte. Ihre Füße waren immerzu Eisklumpen.
Abermals verlangsamte sich der Zug, blieb beinahe stehen, obwohl weit und breit kein Bahnhof, kein Haus, nicht einmal eine Laterne zu sehen war. Alleine eine gespenstische Dunkelheit, als wäre die Welt von einer Sekunde auf die andere verschwunden. Babette schaute auf ihre Uhr, sie waren kaum eine Stunde unterwegs gewesen. Die junge Frau, die scheinbar ein wenig Probleme mit ihrem Gewicht hatte, blickte zwei Sitze weiter von ihrem Buch auf und schüttelte müde den Kopf. Ihre Aura war am stärksten, und ihr Name ein lieblicher Klang: Magdalena. Magdalena hatte allen zu Hause erzählt, vor allem ihrer dummen Schwester, sie würde zu ihrem Freund fahren, um ihn zu überraschen. Ihrer großen Liebe. Aber diesen Freund gab es gar nicht, hatte es auch nie gegeben. Nur eine Imagination, eine billige Schimäre schlafloser Nächte, weil sie mit 37 Jahren keine alte Jungfrau sein wollte, die keinen abbekommen würde.
03 Aquarell
In dem Weihnachtspaket auf ihrem Schoß, rotes Geschenkpapier mit blauem Band, ein Rosinenbrot (kein Mobiltelefon, wie sie ihrer Schwester erzählt hatte), das sie auf dem Nachhauseweg essen wollte. Mit dem ersten Zug am frühen Morgen wollte sie wieder zurück nach München fahren, sich versteckend über die Feiertage in ihrer kleinen Wohnung mit der Gasheizung, die nie richtig funktionierte und alte Billy-Wilder-Filme im Fernsehen ansehend. Mit tonnenweise Schokolade. Das war ihr Vorhaben, ihr großer Weihnachtsplan. Dazu hatte Babette die Frau nicht einmal berühren müssen, um das alles zu sehen. Die Mutlosigkeit in ihrem Bauch war wie ein Feuer, das alles erhellte.
Herr Ulysses blickte aus der Reisetasche zwischen Babettes Beinen und sah sie hungrig an. Ihn allein zu Hause zu lassen, hatte sie nicht gekonnt, niemals. Wortlos suchte sie in ihrer Jackentasche nach einem Stück Brot und brach ein wenig davon ab. Die wundersame Speisung um Mitternacht, dachte sie sich und fütterte damit den schwarzen Kater mit dem weißen Fleck auf dem Rücken. Und dachte wieder an Nele. Musste an sie denken, weil die Angst so groß war, Nele würde vielleicht doch sterben müssen. Einfach so. Raumforderung war ein zu hässliches Wort. Kein Wort, um die Weihnachtsfeiertage glücklich verbringen zu können. Raumforderung klang wie ein Monstrum, ein Ungeheuer mit Tentakeln und Krebshänden.
Babette musste aber auch an Nele denken, weil sie heute vor vierzig Jahren zur Welt gekommen war. Um neun Minuten nach Mitternacht, das Geistermädchen mit den hellen Augen. Musste an die flackernde Weihnachtsbeleuchtung des Krankenhauses denken und an die Weihnachtslieder, die aus einem Radiogerät im Schwesternzimmer zu hören gewesen waren, als würden die zurückgebliebenen Toten unter den Betten singen. Und auch daran, dass plötzlich Herr Ulysses durch das Krankenhaus-Fenster geschaut hatte, mit weit geöffneten Augen und sie fast zu Tode erschreckt hatte. Mit frischem kalten Schnee auf dem Fell und kleinen Atemwolken vor dem aufgerissenen Maul.
Vielleicht, und das musste sich Babette eingestehen, hatte der Kater es damals schon geahnt, mit Nele. Blickte hinunter und betrachtete ihren Mitreisenden, wie sie es schon tausendfach getan hatte. In schlaflosen Nächten wie an scheinbar nie endend wollenden Sommertagen im kleinen Vorgarten. Als würde es möglich sein, etwas in seinen Augen sehen zu können.
Elf Kilometer waren es damals von ihrer Hinterhofwohnung zum Krankenhaus gewesen, und der damalige Winter beinahe so kalt und schneeverweht wie der jetzige. Babettes Mann Karl, der vor neun Jahren an einem Magengeschwür gestorben war, hatte damals zu Hause auf den Kater aufpassen sollen. Doch während Karl Bier im Keller geholt hatte, war Herr Ulysses einfach verschwunden, trotz verschlossener Türen und Fenster. Vielleicht durch ein Mäuseloch, hatten sie sich später gedacht, hinaus in die finstere Nacht. Daran konnte sich Babette noch gut erinnern. Auch, weil sich Karl und Herr Ulysses nie sonderlich gut hatten leiden können. Das war immer schon so gewesen, schon beim ersten Kuss an einem Frühjahrstag zwischen hohen Bäumen und den ersten warmen Strömen von Süden her, war der Kater plötzlich auf den Rücken von Karl gesprungen und hatte ihn ins Ohr gebissen. Nicht liebkost und auch nicht gespielt. Sondern so fest zugebissen, dass man die Narbe ein Leben lang hatte sehen können. Herr Ulysses wollte Babette immer nur für sich und immer nur ganz alleine haben, setzte sich auf den schlafenden Karl und biss ihn in die Nase. Überraschte ihn auf der Toilette oder legte sich auf die dunklen Kellerstufen, um ihn dann plötzlich böse anzufauchen. Dass Karl deshalb Magengeschwüre bekam, die immer wieder mal aufbrachen, grämte sie sehr. Aber was hätte sie tun sollen? Die Katze kam immer wieder zurück. Selbst nachdem ihn Karl ohne Babettes Wissen bis zu seiner Schwester hundert Kilometer weiter gebracht und tatsächlich geglaubt hatte, er wäre ihn für alle Zeit los. Zwei Wochen später hatte Herr Ulysses auf dem Fensterbrett der Küche gesessen, und Karl hatte es mit der Angst zu tun bekommen. Babette war sicher, dass Karl danach mehrmals versucht hatte, den Kater umzubringen, wie es vermutlich schon zahlreiche Menschen zuvor versucht hatten. Doch richtig böse konnte sie dem Kater nicht sein, schließlich hatte er Karl einen letzten guten Tag vor seinem Sterben beschert, hatte ihn befreit von allen Magenkrämpfen.
Der Zug verlangsamte sich abermals und blieb schließlich erneut stehen. Babette sah nach draußen, sah in den Trichter ihrer Hände. Am Horizont ein verlassenes Haus mit einem einzig erleuchteten Fenster, das verschwand und wieder auftauchte, eine optische Illusion. 04 AquarellÜber das trostlose Land tobte ein Schneesturm. Der Zug knurrte und ächzte und fuhr schließlich doch wieder weiter in die dunkle Nacht hinein.
Der Weihnachtsbaum-Mann vom letzten Sitz des Abteils erhob sich, lehnte vorsichtig die Fichte an die Seite und schniefte. Herr Ulysses hob seinen Kopf aus der Tasche und schaute ihn verwundert an.
“Wer in die Herzen sieht, der erblickt die Finsternis.” Der Weihnachtsbaum-Mann lächelte kurz und unbeholfen. So wie Kinder lächeln, bevor sie zu weinen beginnen.
Babette war er schon beim Einsteigen aufgefallen, aber nicht nur wegen des Baums, an dem an zwei Stellen sonderbarerweise Lametta-Streifen hingen wie silbrige Zungen, sondern vielmehr wegen eines unguten und sehr vagen Gefühls in ihrem Bauch. Als hätte sie etwas Schlechtes gegessen. Meistens konnte sie wenigstens etwas bei den Menschen sehen oder vermuten. Bruchstücke, verschwommene Dinge aus der Vergangenheit, gegenwärtige Gedanken. Aber bei ihm war nur abgrundtiefe Schwärze, die sie frieren ließ. Mehr erschaudern als es der kälteste Wintereinbruch der Geschichte hätte tun können. In seinem Herzen ist ein Loch und in diesem Loch verendende Träume. Hatte sich Babette gedacht und sich von ihm abgewandt.
“He! Geht das heute noch weiter?” Vor dem Weihnachtsbaum-Mann ein älteres Ehepaar, das sich zu Beginn der Reise gestritten und sich dann nur noch angeschwiegen hatte. Wie Babette waren sie auf dem Weg zu ihrem Kind. Er hielt es jedoch für völlig übertrieben, extra an Weihnachten nach Prag zu fahren, mit vorgezogenem Feiertags-Aufschlag der Bahn, nur um ihn zu überraschen. Vermutlich, aber das hätte er nie laut ausgesprochen, hing er sowieso irgendwo rum, rauchte Pot und verprasste sein Geld, anstatt zu lernen. Sie jedoch wäre um die ganze Welt gereist, so groß war die Sehnsucht und das Heimweh nach seinen Herzschlägen. Manche Menschen, und das wusste Babette nur zu gut, kann man schon nach einer Sekunde durchschauen. Bis zum Grund der Seele, dem meeresblauen Himmel dort unten und noch weiter. Bei manchen Menschen war das keine große Kunst. Andere hingegen musste Babette berühren, um etwas fühlen zu können, aber das funktionierte manchmal auch nur halbwegs. Früher war das anders gewesen. Alles hell, jede Vision ein Blitzeinschlag. Vielleicht lag es an ihrem Alter, aber vielleicht, und davon war sie immer mehr überzeugt, lag es auch am Alter des Katers.
Melchior wankte herein und gähnte. Vermutlich war er eingenickt gewesen. Seine Augen waren vom Schnaps und den schlechten Träumen glasig. Dieses Mal kam er ohne seinen Rollwagen mit den Getränkekannen und den Snacks herein, weshalb er irgendwie nackt und unbeholfen aussah. Babette lächelte ihm zu, aber er bemerkte es nicht.
“Sturmschaden. Bäume auf dem Gleis, das kann dauern”, sagte er, ohne jemanden anzusehen.
“Das darf doch nicht wahr sein, verdammt noch mal! Immer nur Ärger, wären wir nur zu Hause geblieben. Hab ich es dir nicht gesagt? Hab ich doch!”
“Paul! Bitte! Reiß dich zusammen! Und gib Ruhe, du fällst ja auf. Die Leute schauen schon.” Die Frau rügte ihren Mann, ohne ihren Blick vom beinahe hypnotischen Schneesturm abzuwenden, mit einer Stimme, die leise und laut zugleich war. Sie fragte sich vielmehr, ob es ihrem Jungen gut ging oder er gerade unterwegs und vielleicht in das Unwetter gekommen war. Ihre Hände zitterten. Paul schmollte und blickte umher.
“Sturmschaden? Das kann dauern. Hat vielleicht jemand Lust auf ein Kartenspiel? An Weihnachten spielen wir alle um die Herzen!” Der Weihnachtsbaum-Mann setzte sich wieder und winkte unbeholfen dem Mädchen zu, das mit ihrer Mutter einige Sitze weiter saß. Wie ein Zauberer holte er aus seiner Jackentasche einige Karten heraus und ließ sie in seiner Hand verschwinden. 05 AquarellDas Mädchen blickte nur kurz hin und drückte sich ängstlich an ihre Mutter. Der Zug ruckelte, fuhr aber nicht weiter. Draußen ein knarrendes Geräusch, erst leise, dann lauter werdend. Ein Ast kratzte an das Dach des Wagons, das Mädchen schrie hell auf.
“Sara, Sara, keine Angst. Alles gut”, flüsterte die Mutter und umschloss sie mit ihren Armen. Um sich herum eine Unmenge von Taschen und Tüten, von Koffern und Schachteln. Ein wackelnder Reiseberg. In Prag wartet ein Onkel und eine Tante und eine Überraschung auf Sara, dachte sich Babette.
“Das sind die Weihnachts-Ungeheuer, die kommen zu den bösen Leuten.” Der Weihnachtsbaum-Mann zog eine Herz-Dame hinter seinem Ohr hervor.
“Seien Sie still!” Babette hatte es gesagt, ohne ihn anzusehen. Herr Ulysses sprang auf ihren Schoß, die Augen weit aufgerissen.
“Bald sind wir alle ganz still.” Der Weihnachtsbaum-Mann ließ die Karten fallen, eine rutschte aus seinem Jackenärmel und flatterte durch die Luft. Pik Sieben, die neben seinem kleinen Koffer neben der Fichte liegen blieb. Eine Sturmböe schüttelte den Wagon und Herr Ulysses krallte sich am Kleid fest. Babette blickte aus dem Fenster, ein wildes Schneetreiben. Der Himmel riss auf und offenbarte einen bleichen vollen Mond. Die Beleuchtung flackerte kurz, und für einen Augenblick war es finster. Jetzt schrie auch Magdalena auf, ihr Buch fiel zu Boden. Die Notbeleuchtung sprang klackernd an und malte Schatten auf die Gesichter der Wartenden.
“Ist Ihnen nicht gut? Sie sind ja weiß wie Schnee”, fragte Magdalena, aber Babette konnte nicht antworten. Für eine Sekunde war ihr so gewesen als würde bald in diesem Zug jemand sterben. Sie blickte besorgt zu dem Mädchen.

oie_transparent

2.

“Ich würde sagen, wir setzen uns erst mal um. Dann ist es auch gemütlicher.” Magdalena deutete auf die zwei Vierer-Bänke, die sich gegenüber lagen. Das Reservierungs-Schild aus Pappe war längst umgefallen. Melchior hatte keine sonderlich guten Nachrichten gebracht. Der unfreiwillige Aufenthalt im Schneetreiben konnte noch eine ganze Weile andauern.
Der Weihnachtsbaum-Mann schaute still aus dem Fenster und atmete die Scheibe blind. Und da war es wieder, dieses eigenartige Gefühl in Babettes Magengrube. Zwar war die unselige Vision ein wenig verblichen, dennoch spürte sie die Angst noch immer in ihren Knochen vibrieren. Doch sie hatte sich schon öfters getäuscht und hoffte es auch für dieses Mal. Vor allem wenn sie müde war, spielte ihr Kopf und ihre Seele verrückt, und müde war sie schon seit der Abfahrt in München gewesen. Die Nacht zuvor war sie schlaflos geblieben, immer wieder aufhorchend, ob Nele anrufen würde, die versprochen hatte, sich nach dem Arzttermin und dem CT sofort zu melden. Stattdessen hatte sie erst am Morgen danach von sich hören lassen. Ja, Verdacht auf eine Raumforderung. Nein, noch keine weiteren Test-Ergebnisse. Aber geglaubt hatte ihr das Babette nicht wirklich. Einmal im Monat arbeitete Babette für die örtliche Hospiz-Gruppe und kannte nur zu gut das verzweifelte Herumreden um Dinge, die eigentlich niemand aussprechen wollte. Und genauso hatte Nele geklungen. Verhalten, leise, als hätte sie geweint. Zudem war Herr Ulysses bei dem Telefonat ziemlich unruhig geworden, hatte sie sogar gekratzt bei dem Versuch, ihn zu beruhigen. Da hatte sie gar nicht anders gekonnt, als den nächsten Zug nach Prag zu nehmen.
“Das ist eine hervorragende Idee. Sie haben Erfahrungen damit, nicht wahr? Mit Menschen, die ein wenig Angst haben.” Babette setzte sich ans Fenster.
Magdalena lachte ein herzliches Lachen. “Als Krankenschwester hat man oft selbst genügend Angst. Und Sie haben eine gute Menschenkenntnis.”
“Wer hat denn Angst? Nur wegen dem bisschen Sturm? Dass ich nicht lache. Das ist doch nur ein lausiger Wind, mehr nicht.” Der Mann mit dem Toupet war aufgewacht und schob das Haarteil ungeschickt zurecht, so dass es jetzt wie eine Kindermütze mit hellem Futteral aussah. Mit einem Plumps ließ er sich neben Babette in den Sitz fallen und stöhnte.
“Also mir ist das unheimlich, das ist kein gutes Zeichen. Vollmond und Schneesturm, das ist nicht gut.” Die beiden setzten sich auf die gegenüberliegenden Plätze und stellten sich vor: “Mein Name ist Tereza, und das ist Sara.”
“Felix Tollkühn. Heiß‘ ich nur, bin ich nicht.” Der Mann mit Toupet lachte ein lautes brummiges Lachen, das man ihm gar nicht zugetraut hätte. Herr Ulysses zuckte erschrocken zusammen. Gegenüber nahm zögerlich das Ehepaar Platz. Er schmollte noch immer und blätterte in einer Illustrierten herum.
“Ich bin die Anne. Das ist Paul, mein Mann. Wir wollen unseren Sohn besuchen. Er studiert in Prag. Medizin studiert er. Ein guter Junge.”
“Studieren? Herumlungern trifft es wohl besser. Auf meine Kosten!”
Anne stieß mit ihrer Stiefelspitze gegen Pauls Bein, und er zuckte so stark zusammen, wie Herr Ulysses zusammengezuckt war.
“Das erinnert mich an meine Kindheit, ob Sie es glauben oder nicht. Die ganze Tollkühn-Sippe war da, das ganze Haus war voll. Gibt nichts Besseres als ein Haus voller Menschen. Zu Weihnachten sollte niemand alleine sein. Niemand. Deshalb fahre ich jetzt auch zu meinem Bruder. Hockt in Prag und wartet auf ein Wunder. Und wissen Sie, was das Beste war, damals? Ich sage es Ihnen. Jedes Jahr erzählte jemand eine Geschichte. Kennen Sie eine Geschichte? Sie sehen so aus.”
Magdalena schüttelte den Kopf und wurde rot.
“Jammerschade, ich hätte wetten können, Sie kennen eine Menge Geschichten. Ich würde ja selbst eine erzählen, aber immer wenn ich eine Geschichte erzähle, schlafen die Leute ein. Liegt an der Stimme, sagt meine Mutter. Vetter Alfred konnte Sachen erzählen, da konnte man eine ganze Woche lang nicht mehr schlafen. Kann nicht jeder, kann nicht jeder.”
Er schob sein Toupet erneut zurecht, flüsterte: “Ich wette, der hat bestimmt eine Geschichte auf Lager”, und hob seinen Kopf zum Weihnachtsbaum-Mann, der an die Scheibe ein krummes Herz gemalt hatte und mit sich selbst flüsterte.
Vielleicht, dachte sich Babette, ist es mit ihm so wie es damals mit dem alten Prohaska vom Waschsalon gewesen war. In dessen Nähe sie eine unglaublich dunkle und hässliche Eingebung gehabt hatte, die wiederum alle anderen Seelenbilder verfärbt, beinahe unkenntlich gemacht hatte. Einen Tag später hatte sich Prohaska im Hinterhof in eine laufende Kreissäge gestürzt, den Abschiedsbrief in seiner Jackentasche. Sie fragte sich, ob dieser merkwürdige Mann ebenfalls vorhatte, sich das Leben zu nehmen und nur noch nicht sicher war, wie er es am besten anstellen sollte. In der Tat versteckte sich hinter den billigen Kartentricks eine dunkle Traurigkeit, als hätte er etwas verloren, was sein Herz veranlasst hatte, nur noch mehr zu poltern wie Leichengräberschuhe auf gefrorener Friedhofserde.
“Oder?” Felix Tollkühn sah sie verwundert an. Magdalena ertappte sich währenddessen dabei, Diagnosen aus dem Augenwinkel heraus zu stellen, wie es Krankenschwestern immer tun. Babette hatte Wasser in den Beinen, nicht viel, aber immerhin. Und Paul, dem sie gegenübersaß, begann zu zittern. Vermutlich ein starker Raucher, dachte sie sich, oder ein Trinker, vielleicht sogar beides. Die Stirn von Tollkühn war tief rot verfärbt, als hätte er sich aufgekratzt. Ein Kontakt-Exanthem von dem albernen Haar-Ersatz, aber sie verschluckte die Frage danach und blickte wie Tollkühn zu Babette.
“Entschuldigen Sie, ich war mit meinen Gedanken wieder mal woanders. Was haben Sie gesagt?” Sie beobachtete den Weihnachtsbaum-Mann das Herz von der Scheibe wischen.
“Das geht mir auch so, ständig. Meine Mutter treibt das zum Wahnsinn, das kann ich ihnen sagen. Meine Mutter treibt ja vieles in den Wahnsinn. Ich habe gefragt, ob Sie nicht vielleicht eine gute Geschichte kennen. So wie es aussieht, dauert das hier noch eine Weile, und weshalb sollen wir uns nicht die Zeit mit einer guten Geschichte vertreiben, oder?”
Ein Windstoß rüttelte erneut an dem Wagon und ein weiterer hörte sich an wie der jammernde Schrei eines schmerzerfüllten Wesens, so hell, so hässlich, so fremd. Sara drückte ihr Gesicht in die Bauchmulde ihrer Mutter.
“Das ist nur der Wind, keine Angst”, flüsterte Magdalena, aber Babette sah, dass sie das Geschenk so fest umklammerte, dass ihre Knöchel ganz weiß geworden waren.
“Es holt einen von uns. Da draußen ist es. Das Weihnachts-Ungeheuer”, murmelte der Weihnachtsbaum-Mann, die Nase an der Scheibe platt gedrückt.
Vielleicht ist er aber auch völlig verrückt, dachte sich Babette. Jeder Gedanke und jeglicher Traum in ihm wie ein wild flatternder Sperling. Wir müssen auf ihn aufpassen, auch das war in ihrem Kopf, während sie versuchte, etwas in dem Fremden zu erkennen. Einen Gedanken, ein loses Bild, irgendetwas, aber eine Dunkelheit überspannte jegliches Bemühen. Als Kind war ihr das alles leichter gefallen, war es für Babette sogar selbstverständlich gewesen. Bis zur Schule hatte sie geglaubt, jeder Mensch könnte das, so leicht wie man auf einem Bein hüpfen kann. In jedem Menschen sei etwas verborgen, die sonderbare Gabe Unausgesprochenes hörbar zu machen, so wie in jedem Menschen etwas Unaussprechliches steckt. Damals war Herr Ulysses noch viel jünger gewesen, natürlich, wie sie ja auch. Ein wilder Kater, der in den Nächten nach den Fledermäusen Ausschau hielt und den geheimen Pfaden zu noch geheimeren Orten folgte. Der aber immer zu ihren Füßen lag, sobald sie am Morgen aufwachte. 06 AquarellManchmal war sein Fell voller Blut gewesen, als hätte er ein anderes Tier tot gebissen, und sie musste ihn vor der Schule waschen, damit er nicht zu stinken anfing.
An die erste deutliche Wahrnehmung konnte sich Babette noch sehr gut erinnern. Vermutlich war es nicht tatsächlich die erste Vision, denn der Kater war ja immer schon da gewesen. Sie war mit ihm geboren worden, aber doch die erste, die stark genug gewesen war, um sie nicht wieder vergessen zu können. Ende der vierziger Jahre, in dem kleinen Dorf unweit von Dachau. Der Krieg noch nicht lange zu Ende. Vater war nach Hause gekommen, viel später als gewöhnlich, von seiner Arbeit im Rathaus. Und plötzlich hatte sie ihn gesehen, wie man eine Wochenschau im kleinen Kino sehen konnte. Im niedrigen Hinterzimmer über unzählige Aktenordner gebeugt, mit tausenden Namen darin von Deportationen. Wenngleich Babette damals das Wort noch nicht verstanden hatte, hatte sie dennoch gefühlt, dass es ein schmerzliches Wort war. Ein Wort wie ein Schuss aus dem Hinterhalt. In einem viel zu kleinen Holzofen hatte ihr Vater Papierfetzen für Papierfetzen verbrannt, Fotografie für Fotografie, obwohl es Sommer gewesen war und er von der Hitze und dem abseitigen Tun schwitzte. Und obwohl er zu Hause Mutter immer erzählt hatte, dass er es immer noch nicht glauben konnte, was die Amerikaner dort in Dachau gefunden hatten.
Babette war aber bereits klug genug gewesen ihren Mund zu halten, die offenbarte Lüge bestehen zu lassen. Auch wenn sie das als Kind noch nicht gewusst hatte, hatte sie es vielleicht bereits gespürt: Manchmal brauchen Menschen eine lange Zeit, um die Wahrheit aus einer Sache herauszuschälen. Sie freizulegen mit allen Schmerzen und aller Not, wie man eine Zwiebel schält über Jahre hinweg. Um eine Wahrheit zu gebären, die erträglicher war als die tatsächliche.
“Du hast es immer gewusst, nicht wahr?” hatte ihr Vater schließlich Babette zugeflüstert, nachdem der Priester bereits zum zweiten Mal zu ihnen nach Hause gekommen war und es überall nach Weihrauch und dem Sterben gerochen hatte. Einundzwanzig Jahre war sie damals gewesen und Vater nur noch ein kleines Etwas im Bett mit Knochenzeichnungen unter dem Laken. Sie hatte genickt, und er war gestorben, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, an einem regnerischen Herbsttag mit Rauchfahnen von den Schornsteinen der Häuser.
Leuten, die behaupteten in die Zukunft schauen zu können, glaubte deshalb Babette kein Wort. Das zweite Gesicht war nur ein Aberglaube, mehr nicht. Kirmeszauber und Folklore des fahrenden Volkes, um die dunklen Nächte aufzuhellen, oder bestimmten Menschen Angst einzuflößen. Für die Zukunft muss man die Vergangenheit kennen, und für die Gegenwart ein schlagendes Herz. Das war ihre Meinung und ihre Erfahrung. Vielleicht, aber das war nur eine Vermutung, hatte sie immer schon die Gabe gehabt, und der Kater hatte sie nur verstärkt. Deshalb saß sie in diesem Zug. Sie würde nahe bei Nele sein müssen, um alles sehen, alles spüren zu können. Vielleicht würde sie sogar versuchen, Herrn Ulysses in ihren Schoß zu setzen, aber dessen war sie nicht sicher. Ganz und gar nicht sicher.
Natürlich musste Babette sofort an ihren Onkel Kaspar denken, dessen Namen sie als Kind furchtbar lustig gefunden hatte. Ihr Lieblingsonkel, der im Gegensatz zu Onkel Anton immer noch ein Kind geblieben war und keiner dieser schrecklichen Erwachsenen, die scheinbar alles über Kinder und deren geheimes Leben vergessen haben. Onkel Kaspar hatte immer etwas in einer seiner Taschen für sie versteckt gehalten, hatte seine eigenen Geheimnisse. Ein Kaleidoskop, eine geheimnisvolle Flaschenpost, eine meeresblaue Murmel. Die meisten Dinge waren längst verloren gegangen, waren in alle Winde verstreut durch Umzüge und der Eigenart der Zeit, Dinge aus Kindheitstagen in einem unsichtbaren Walbauch zu verschlucken. Wenn er zu Besuch kam, hat er sie zuerst in den Himmel gehoben, mit beiden Händen ganz weit hinauf, als würde er sie den Engeln zeigen wollen. Daran konnte sich Babette noch gut erinnern, an das Achterbahn-Gefühl im Bauch und an seine Bartstoppeln, wenn er ihr Gesicht daran rieb. In seiner Seelenvergangenheit waren keine dunklen Stellen, keine offenen Särge, keine verdorrten Narben und keine Hässlichkeiten zu finden gewesen, und das hatte ihr als Kind Mut gemacht. Hatte sie hoffen und träumen lassen, auch so ein Erwachsener werden zu können.
An einem Oktobertag war dann Herr Ulysses plötzlich auf seinen Schoß gesprungen, was er noch nie getan hatte, nicht einmal bei ihr selbst. Er hat sich streicheln lassen, das wohl, aber bei dem Versuch ihn hochzuheben war er immer ärgerlich geworden. Doch damals, bei Onkel Kaspar, schien er verändert, als wäre es ein fremder Kater, der nur zufällig genauso aussah wie Herr Ulysses. Mutter, die in der Küche Spätäpfel geschält hatte, erschrak so sehr, dass sie sich in den Finger schnitt. Und obwohl sie stark blutete, rannte sie zu dem Kater, nahm ihn und warf ihn hinunter. Dabei biss Herr Ulysses ihr in die andere Hand, machte ein Geräusch, als würde ein Kind laut schreien und hüpfte schließlich zurück auf Onkel Kaspars Schoß.
Hätte Babette damals schon geahnt, was sie danach wusste, hätte sie Onkel Kaspar nicht mehr gehen lassen. Niemals. Hätte ihn für alle Ewigkeit umarmt und Herrn Ulysses verflucht für alle Zeit.
Zwei Tage später war Babette aufgewacht und hatte sich gewundert, weshalb ihre Mutter am Bettrand saß und weinte. Für einen Augenblick hatte sie geglaubt, es sei etwas mit Herrn Ulysses geschehen, und ihre Mutter würde gleich so etwas sagen wie: „Es gibt auch einen Himmel für Tiere, weißt du?“ Aber dann erfuhr Babette es und verstand gleichzeitig den Zusammenhang, auf eine Art, die nur Kindern eigen ist. Trotz, oder vielleicht vor allem, weil sie erst acht Jahre alt gewesen war.
Onkel Kaspar hatte zu Hause das defekte Stromkabel des Radiogerätes in die Steckdose gesteckt, das er schon hundertmal selbst repariert hatte, um ein wenig Jazz aus Amerika zu hören. Onkel Kaspar war sofort tot gewesen.
Aber war das wirklich möglich? Hatte Herr Ulysses seinen Tod gerochen? Bis zur Beerdigung an einem Sturmtag glaubte Babette das tatsächlich, aber dann wurde der Glauben auf eine eigenartige Art und Weise weniger. Wie Halsschmerzen weniger werden, oder ein Schnupfen, und man danach niemals glauben kann, dass es wirklich so schlimm gewesen ist. Im Dezember war dann Babette davon überzeugt, dass es nur ein Zufall gewesen war, mehr nicht. Ein Zufall gewesen sein musste.
Um sich das selbst zu beweisen versuchte Babette zuerst, den Kater bei sich selbst auf den Schoß zu nehmen. Aber egal wie sie es auch anstellte, es ging schief. Letztendlich verpasste ihr Herr Ulysses einen tiefen Kratzer quer über die Wange, dessen Narbe man immer noch sehen konnte, wenn das Licht darauf fiel, und versteckte sich fauchend unter dem Bett. Herr Ulysses hüpfte niemandem mehr auf den Schoß, und bis zum Frühjahr vergaß Babette die Sache schließlich wieder. Bis zweierlei Dinge geschahen.
An einem viel zu warmen Frühsommertag, der Schnee war kaum geschmolzen gewesen, folgte ihr wieder einmal Herr Ulysses zur Schule. Das machte er nicht immer, aber doch manchmal. Meistens setzte er sich bei den Wiesenrändern nieder, um auf die schlaftrunkenen Mäuse zu warten. Doch dieses Mal strich er mit ihr in das Schulgebäude. Und da musste Babette wieder an Onkel Kaspar denken. Denn es war ein Wunder, dass ihre Lehrerin Frau Simmler immer noch lebte, so alt wie sie war. Mindestens hundert Jahre alt, wenn nicht sogar älter. In dem eisigen Winter hatte sie sich zudem einen Husten zugezogen, der sie wie eine Dampflok rasseln ließ. Babette war überzeugt, wenn jemand bald sterben würde, dann wohl Frau Simmler. Herr Ulysses blinzelte sie an und für einen Moment sah es tatsächlich so aus, als würde er zum Sprung ansetzen. Und Babette dachte sich: Morgen bist du tot, du alte Hexe. Aber der Kater streckte sich nur, grummelte und ließ von ihr ab. Stattdessen schlich er durch die Bänke, streifte an Kinderbeinen vorbei, miaute laut und hüpfte schließlich empor in die Arme von Afra Kreider, die erst entsetzt aufschrie, aber dann die Hitze des Katers fühlte und sich an ihn wärmte, weil ihr so unendlich kalt war.
Afra starb nicht einen Tag später sondern erst nach zwei Monaten, in einer kalten Vollmondnacht. An Leukämie, die unentdeckt geblieben war, weil niemand mit ihr zum Arzt gegangen war. Während draußen fremde Katzen geschrien hatten wie Kinder, deren Herzen aus dem Leib gerissen werden.

oie_transparent

3.

Babette nippte an dem frisch gebrühten Tee, den Melchior zusammen mit belegten Broten aus dem Bord-Restaurant gebracht hatte, ohne dass jemand dafür etwas bezahlen musste. Sein Chef würde ihm dafür zwar die Hölle heiß machen, und vielleicht würde er Melchior deshalb sogar hinauswerfen, aber das war ihm ziemlich egal. Helfe den Menschen, wenn sie Hilfe brauchen, und wenn es auch nur ein gutes Wort ist, hatte seine Mutter ihm beigebracht, obwohl sie selbst nichts gehabt hatten. Babette hatte ihn gebeten, hierzubleiben, und er hatte dankend angenommen. Der Schneesturm hatte zugenommen, und die Geräusche, die er draußen gehört hatte, unweit der Türen, hatten ihm Angst gemacht. Katzengeheule, obwohl das gar nicht sein konnte.
“Ihrer Frau geht’s gut, glauben Sie mir”, hatte Babette zu ihm gesagt, so leise, dass nur er es hatte verstehen können. Und während er noch überlegte, wann er der alten Dame von seiner Frau erzählt hatte, hatte Babette noch etwas in sein Ohr geflüstert. Mo Cuishle. Das hatte er ihr auf keinen Fall erzählt – dessen war er sich sicher. So angetrunken hatte er gar nicht sein können, um den Kosenamen zu verraten, den er in manchen Nächten seiner Frau zuflüsterte, wenn die Wölfe draußen heulten. Mo Cuishle, so nannte er sie seitdem sie sich im Kino beim Film One Million Dollar Baby zum ersten Mal geküsst hatten.
Die Frage, woher sie das wusste, kam nicht aus seinem Mund, denn Babette blinzelte ihm zu, und das Blinzeln machte jedes Wort überflüssig. Er nickte und war tatsächlich beruhigt. Alles würde gut werden, das konnte er fühlen.
“Ich habe ja Kerzen dabei, das hätte ich ja fast vergessen. Was ist ein Heiliger Abend ohne Kerzen?” Anne kramte in ihrer Tasche und fand schließlich einen Satz Adventskerzen.
“Hast du dir gedacht, der Junge hat seine Stromrechnung nicht bezahlt?” Paul schüttelte den Kopf, aber Anne beachtete ihn gar nicht. Er würde sich schon wieder beruhigen.
“Die darf man doch anzünden, oder? Wegen Feuergefahr und so.” Magdalena sah zu Melchior, und der zuckte mit seinen Schultern. “Wenn Sie nichts dagegen haben, dass ich ab und zu eine Zigarette hier rauche, haben Sie meinen Segen.”
“Das hört sich gut an, sehr gut sogar.” Paul lächelte zum ersten Mal seit der Zugfahrt. Zwar hatte er vor einer Stunde heimlich eine Zigarette auf der Toilette geraucht, trotzdem hatte er das Gefühl, völlig auf Entzug zu sein. Melchior zündete ihm eine Lucky Strike ohne Filter an, und Paul paffte den Rauch empor als würde er Winterwolken zeichnen wollen.
“Mein Vetter hat auch immer geraucht als gäbe es kein Morgen. Gott habe ihn selig. War kein schöner Tod, so ganz und gar nicht”, erzählte Felix Tollkühn und lachte erneut laut auf.
Der Weihnachtsbaum-Mann hob den kleinen Koffer auf die Oberschenkel und öffnete ihn. Eine Sekunde lang glaubte Babette ein großes blitzendes Messer zu sehen, ein Schlachtermesser, aber ihre Augen hatten ihr einen Streich gespielt, und erst jetzt merkte sie, wie müde sie doch war. Der Mann blickte lediglich hinein, so eigenartig ängstlich, als würde ein anderes Auge herausblicken. Dann sagte er tonlos: “So dunkel wie um Mitternacht, lichtlos, so werden wir sein, wenn wir nicht achtgeben auf die Herzen, die wir lieben.” Er verschloss den Koffer wieder und legte seine Hände darauf, schniefte. Die Stimmung drohte zu kippen, Paul wollte etwas sagen, vielleicht so etwas wie: “Was bist denn du für ein Spinner?” Babette konnte es fühlen, konnte es in ihrem Magen spüren, und sie bekam Angst. Hier drinnen im Zugabteil wären sie verloren, und wenngleich der merkwürdige Mann kein Messer aus dem Koffer gezogen hatte, konnte es doch sein, dass er eines besaß. Vielleicht sogar ein noch größeres, als sie sich vorstellen konnte. Unter dem Mantel versteckt, an dessen Rändern Streusalz getrocknet war und dem Mantelaufschlägen ein Aussehen von dreckigem Papier verlieh.
“Doch, doch, ich kenne eine Geschichte”, sagte sie deshalb hastig und lauter als gewollt, obwohl sie gar keine erzählen wollte.
“Hab‘ ich es doch gewusst. Verrückte und alte Damen kennen immer eine Geschichte. Sagt jedenfalls meine Mutter, und die ist beides.” Felix klatschte sich auf den Oberschenkel, was sich wie ein fleischiger Schuss anhörte und lachte abermals.
“Sie müssen es nicht erzählen, wenn es ihnen unangenehm ist”, flüsterte Melchior, weil er es gefühlt hatte, diese Unsicherheit, und berührte für eine kurzen Moment ihren Arm. Zuckte zurück. Einen Lichtblitz lang hatte er gequälte Stimmen singen hören können, bis ganz tief hinein in seinen Kopf singen hören, und das hatte sich angefühlt wie damals, als er als kleiner Junge einen Weidezaun angefasst und einen Stromschlag verpasst bekommen hatte.
“Das geht schon in Ordnung, denke ich. Es ist aber keine Weihnachtsgeschichte, o nein. Es ist schlichtweg die Geschichte meiner Katze. Einem wunderlichen Kater, das muss ich wohl dazusagen. Dem wunderlichsten Kater, von dem Sie je gehört haben werden.”
Herr Ulysses schaute kurz aus der Tasche heraus, leckte sich über den grinsenden Mund, blinzelte müde, und während draußen die Gespenster Schneespuren malten, begann Babette zu erzählen.

Die Geschichte einer Katze

Allerheiligen war lange vorbei, und der erste Schnee an einem frühen Tauwetter-Tag, bevor der richtige Winter kommen sollte, schon wieder geschmolzen, als es passierte. Babettes Mutter Frida stürzte vom Küchenstuhl und brach sich das Becken. Ende der siebziger Jahre, vielleicht auch ein wenig später. Da lag sie nun in dem Krankenhausbett mit den schneeweißen Bezügen und dem schneeweißen Gesicht. Und sah klein aus, viel kleiner als sie wirklich war. Damit fing es an. Damit, dass Frida vom Küchenstuhl gefallen war, weil sie die Gardinen hatte waschen wollen, obwohl sowieso niemand mehr im Haus rauchte. Als Kind kann man sich nicht vorstellen, dass die eigenen Eltern überhaupt sterben, aber dann wird man älter, und die Nächte werden eigenartigerweise länger und kürzer zugleich, und das Leben nimmt merkwürdige Wendungen. Damit beginnt eigentlich die ganze Geschichte. Denn manchmal müssen im Leben Dinge laut ausgesprochen werden, um sie gänzlich zu verstehen, sie zu befreien vom Taumellicht der eigenen Wahrnehmung.
Nachdem Babettes Vater gestorben war, war sie von zu Hause ausgezogen. Ihre Freundin Hanne wohnte damals in Schwabing, eine ganz kleine Wohnung mit Balkon, und Babette nahm eines der Zimmer, in dem es nach Räucherstäbchen roch und ein wenig nach Gras. Zusammen mit Herrn Ulysses, natürlich. Wo hätte sie ihn auch lassen sollen? Hanne sorgte dafür, dass Babette eine Arbeit bekam. Erst in der Drogerie unter der Wohnung, die ihr nicht sonderlich gut gefiel, später dann bei der Friedhofs-Gärtnerei. Zusammen mit dem Totengräber Brenner kümmerten sie sich vor allem um den Ostfriedhof. Gelernt hatte das Babette nie, aber vielleicht kann jeder Mensch tatsächlich etwas besonders gut. Sie konnte sich jedenfalls besonders gut um Gräber kümmern, um frisch ausgehobene und längst vergessene, und um die dürren Bäume, manchmal auch um die Leichenhalle mit den Wachsflecken auf dem Beton. Das war eine gute Zeit, und Babette dachte gerne an sie zurück. Dann lernte sie ihren Mann kennen, und sie bekamen eine Tochter. Das Mädchen mit den Mitternachtsaugen. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.
Die Wahrheit des Katers begann für Babette erst an jenem Tag, als sie bei ihrer Mutter am Krankenhausbett saß und Mutter nach Herrn Ulysses fragte, was sie sonst nie getan hatte. Der Arzt, mit dem Babette vor dem Zimmer gesprochen, eher geflüstert hatte, war guter Dinge gewesen. Zwar musste ihre Mutter eine Zeit lang das Bett hüten, aber ansonsten war sie bei bester Gesundheit. Vielleicht ein wenig traurig, das sicherlich, aber die Traurigkeit war keine Krankheit, die man mit einem Gipsverband oder einem Streckbett hätte behandeln können. Zu dieser Zeit nannte man das auch noch nicht Depression, außer die Leute wollten sich umbringen. Aber das wollte Babettes Mutter gar nicht. Sie wollte nur sterben, aber das ist etwas ganz anderes.
“Er hat noch zwei Leben, nur noch zwei Leben. Und um eines möchte ich dich bitten. Heute und jetzt”, flüsterte Babettes Mutter und weinte. Und Babette weinte mit, weil sie glaubte, ihre Mutter hätte sich nicht nur das Becken gebrochen, sondern wäre auch irgendwie eigenartig im Kopf geworden. Doch dann erfuhr Babette die ganze dunkelgraue Wahrheit über Herrn Ulysses, und sie wünschte sich, ihre Mutter wäre krank im Kopf.

Mit Babette schwanger ging Frida in der Nacht zu Allerheiligen spazieren, runter zu den Bachläufen. Dort, wo seit zwei Wochen der Herbst-Zirkus sein großes, vom Wind zerschundenes Zelt aufgestellt hatte. Schon von weitem konnte man den Elefanten hören und einen sehr alten Löwen, der mehr gähnte als brüllte. Ihr Arzt hatte Frida geraten, viel und lange spazieren zu gehen, und das tat sie auch. Tatsächlich waren die Rückenschmerzen besser geworden, und die kühle Herbstluft tat ihr gut. Plötzlich aber hatte sie einen Schatten bemerkt und zuerst geglaubt, es wäre eine von diesen großen Ratten, die immer wieder mal aus den Kanälen kamen. Vor zwei, drei Jahren hatte eine davon die Köchin des Pfarrers im Bett tot gebissen, jedenfalls hatten sich das die Leute erzählt. Aber die Leute erzählten sich auch, dass mit dem Zirkus das Schlechte, wenn nicht gar das Böse in die Stadt gekommen war. 09 AquarellAber es war gar keine Ratte, sondern nur eine streunende Katze. Katzen hatte Frida immer schon gern gemocht, und sie bückte sich mühsam hinunter, um sie zu streicheln. Die Katze schmiegte sich an ihre Beine und schnurrte. Neben dem Jahrmarktswagen mit flirrenden Lichtern hinter den Fenstern. Jemand spielte auf einer verstimmten Gitarre, eine Frau lachte. Ein Hund bellte heiser, und der Wind war merkwürdig. Als wollte er zu einem Sturm werden.
Plötzlich fühlte sich Frida unwohl, und sie fror, obwohl sie sich extra den Wintermantel angezogen hatte. Das sind die Hormone, dachte sie sich und strich über den Bauch. Spürte die Gänsehaut über ihren ganzen Körper wandern. Lange unheimliche Schatten von den Bäumen, und auf einmal hatte sie das Bedürfnis nach Hause zu gehen. Ganz schnell von hier zu verschwinden und alle Türen hinter sich fest zu verschließen. Sie rannte nicht, aber doch beinahe. Und sah die Gespenster auf den Bäumen hocken, sah die Geister aus den Abflussrohren steigen, das Jaulen des Herbstwindes laut in ihren Ohren.
Zu Hause angekommen wunderte sich Frida über sich selbst. Wie hatte sie sich von der Dunkelheit nur ins Bockshorn jagen lassen können. War sie doch sonst nicht so ängstlich. Im warmen Küchenlicht und während des Schnarchens ihres Mannes, der am Tisch eingeschlafen war, schien alles Geschehene unwirklich und gering. Der Geburtstermin war für die Weihnachtstage angesetzt, und sie machte sich Sorgen. Nur ihrer Dummheit wegen, in Schatten hässliche Gesichter hineinzufantasieren, tat ihr jetzt der Bauch weh. Wie in aller Welt hatte ihre Einbildungskraft nur so mit ihr durchgehen können? Frida setzte sich in ihren Lieblingsstuhl am Ofen und bemerkte erst jetzt, dass sie schwer atmete, als hätte sie die ganze Zeit die Luft angehalten gehabt. Gerade mit Zwillingen im Bauch sollte sie besser auf sich achtgeben, das hatte auch der Doktor gesagt. Sie würde einfach nicht mehr runter zum Zirkus gehen, vor allem nicht mitten in der Nacht, ermahnte sich Frida. Wie dumm von mir, aber jetzt musste sie lachen und das Lachen tat ihr gut. Als kleines Kind war sie auch schon sehr schreckhaft gewesen, hatte beim Mäusetrippeln auf dem Dachboden gleich an Gespenster geglaubt, die Knochen abnagend eines Tages unter ihrem Bett liegen würden.
Aber was war das? Ein Kratzen an der Tür, so leise, dass sie sich getäuscht haben musste. Der Herbstwind riss Äste von den Bäumen und hob die Schindeln auf dem Dach empor. Das war alles. Blickte mit zusammengekniffenen Augen zu der alten Tür und horchte. Es begann zu regnen, und ganz weit weg hörte Frida Donnergrollen. Doch dann hörte sie abermals ein zartes Kratzen, und schließlich ging sie zur Tür, blickte zurück auf ihren Mann und öffnete sie zögerlich.
Die Katze musste ihr gefolgt sein, über alle verwinkelten Gassen und Wege bis hin zu ihrem Haus. Sie leckte sich die Pfoten, blickte empor und strich ins Haus als hätte sie es immer schon getan. Mit einem leisen Miauen setzte sie sich nahe des Ofens und schloss sofort die Augen.
Frida betrachtete die Katze. Wie ein Streuner sah das Tier gar nicht aus, wohlgenährt und das Fell glänzend. Keine Kampfspuren, keine blutige Nase, als wäre die Katze ganz einfach von einem Haus in ein anderes gezogen. Vielleicht, und das kam ihr natürlich in den Sinn, gehörte die Katze zum Zirkus.
“Kannst du denn was Besonderes?” fragte sie deshalb leise. Später würde sie mit Schaudern an diese Frage zurückdenken. O ja, diese Katze konnte etwas sehr Besonderes, aber davon konnte Frida noch nichts wissen.
Im fahlen Schein der Küchenlampe bemerkte Frida, dass die Katze ein Namensschild um den Hals trug, und sie war ein wenig enttäuscht. Jetzt würde sie ganz sicher den Besitzer finden können. Dabei hatten sie nie ein Haustier haben wollen, aber es fühlte sich auf eine sehr merkwürdige Art und Weise richtig an, dass die Katze hier eingerollt lag und schlief.
Den Finger unter dem Halsband, zog Frida daran, um das kleine Metallschild lesen zu können. Es klimperte ein wenig, und sie erschauerte erneut. Das Klimpern wie ein Totenglöckchen, ganz weit entfernt.
Herr Ulysses, was für ein seltsamer Name”, flüsterte Frida und da passierte zweierlei. Die Katze bewegte sich ruckartig von ihr weg und das Halsband riss entzwei, und Frida spürte gleichzeitig einen nie dagewesenen Schmerz als würde jemand ihren Bauch mit einem stumpfen Messer aufschneiden, aber die Schmerzen wichen, und eine unglaubliche Wärme erfüllte sie als sich Herr Ulysses kaum eine Stunde später auf ihren Bauch legte, um weiterzuschlafen. “Dich gebe ich nie wieder her”, flüsterte Frida und nie im Leben würde sie vergessen können, dass bei diesen Worten ein Blitz in den Baum neben ihrem Haus einschlug und ihn spaltete.
Frida gebar ihre Zwillinge am 31. Dezember, während der Kater unter dem Bett schlief – und ein Kind starb. Die Hebamme bekreuzigte sich in der Stube und verspritzte Weihwasser in alle Fugen des Hauses. Vom Tod überschattet war ein Leben gezeichnet, und das ahnte sie. Herr Ulysses, und auch das würde Frida nie im Leben vergessen können, legte sich nahe dem gesunden Kind, und sie bekam Angst. Obwohl sie die Angst noch nicht beschreiben konnte, war es wohl die größte Angst, die sie jemals gefühlt hatte, tief in ihren Eingeweiden. Doch Babette blieb am Leben, war sogar gesünder als alle anderen Kinder. Wenn sie schrie, legte sich Herr Ulysses sogleich an ihre Seite, und alles war gut, als könnte er mit ihr sprechen. Und vielleicht war es auch so. Er ist nicht mehr meine Katze, dachte sich Frida in schlaflosen Nächten. Er hat sich zuerst mich ausgesucht und jetzt das Mädchen. Daran konnte es gar keinen Zweifel geben. Wo das Mädchen war, war auch Herr Ulysses, und zweimal war es inzwischen passiert, dass Frida von Herrn Ulysses gebissen wurde, als sie Babette aus der Wiege geholt hatte.
Als es wieder Herbst wurde und der Zirkus wieder in die Stadt kam, beschloss Frida deshalb, den Kater an den Ort zu bringen, von dem er ihr gefolgt war. Während Herr Ulysses schlief, warf sie eine der alten Decken über den Kater und steckte ihn in eine der Holzkisten für Kohlebriketts. Die Geräusche, die aus der Kiste drangen, konnten unmöglich von einem Tier stammen. Frida blieb mehrmals stehen weil ihr Herz stolperte bei diesen unheimlichen, schrecklichen Lauten und sich der Himmel zu verändern schien. Dunkler wurde.
“Die Katze hat dem Messerwerfer gehört, aber der ist tot. Und dann hat sie dem Dompteur gehört, aber der ist auch tot, mausetot. Und jetzt gehört sie dir”, sagte ein kleiner Junge, der mit Äpfeln jonglierte, nahe dem flatterndem Zirkuszelt.
“Ich will ihn aber nicht mehr haben, so einfach ist das.” Frida schob die Kiste mit ihrem Fuß dem Jungen entgegen, aber der sah nicht hin.
“Das geht nicht.”
“Das geht nicht?”
“Er wird dir folgen, wohin du gehst. Außer ins Grab, da gräbt er sich heraus. Habs mit eigenen Augen gesehen. Und dann hat er wieder sieben Leben, hat er. Jetzt nicht mehr. Nur noch vier.” Der Junge lächelte ein merkwürdiges Lächeln.
“Katzen haben keine sieben Leben.” Frida hatte gar nichts sagen wollen, aber die Worte waren einfach aus ihrem Mund gekommen. Und da erzählte es ihr der Junge mit den Äpfeln zwischen den Wolken.

“Du hast doch nicht wirklich daran geglaubt, was dir der Zirkusjunge erzählt hat, oder?” Babette hielt die Hand ihrer Mutter fest in der ihrigen und fühlte Schmerzen in der Brust. Ihre Mutter, die in Babettes Kindheit unsterblich schien, war nur noch ein Schattengebilde mit Augenringen und grauen stumpfen Haaren. Frida weinte, doch selbst ihre Tränen waren nur noch trockene Staubkörner.
“Natürlich hab‘ ich das nicht geglaubt, für wie dumm hältst du mich?” Frida lächelte, und Babette lächelte mit. Niemand würde glauben können, dass eine Katze wie Herr Ulysses jemanden umbringen konnte.
“Bis ich es ausprobiert habe. An unserer Nachbarin. Hatte Darmkrebs, die Arme. Wir konnten sie schreien hören, die ganze Nacht. Über Monate lang, immer wieder diese Schreie. Kannst du dir das vorstellen? Der Krebs hat sie aufgefressen, ganz langsam, aber sterben hat er sie nicht lassen. Da bin ich eines Morgens zu ihr gegangen, und der Kater ist mir nachgelaufen. Vielleicht hat er das Verderben gerochen, und das, was ich vorhatte. Wer weiß das schon. Ich habe sie angesehen und nur noch Eines gewollt: sie erlösen. Und sie hat das gespürt, dessen bin ich sicher. Und auch der Kater hat es gespürt. Er kann alles spüren. Ich habe ihn hochgehoben, und er hat seinen Kopf an meinem Gesicht gerieben. Dann habe ich es in sein linkes Ohr geflüstert. Dieses Wort. Er hat sich auf ihre Brust gelegt und hat alles von ihr genommen. Alles. Sie sah anders aus, ganz anders. Jünger, viel jünger und gesund. Stell dir das mal vor! Ich weiß, es ist schwer. Er hat sie nicht sofort sterben lassen, und das fand ich wunderbar. Er hat ihr noch einen Tag voller Leben gegeben. Vielleicht hat er sogar den Krebs aus ihr genommen, wer kann das schon sagen. Sie ist jedenfalls ohne Schmerzen gestorben, und das war gut.”
“Das ist unrecht”, sagte Babette, ohne darüber nachzudenken.
“Krebs ist unrecht. Schmerzen sind unrecht. Alles ist unrecht.” Frida zog Babette zu ihrem Gesicht hinunter, und Babette spürte die Hitze und die Kälte gleichermaßen. Hörte jenes Wort, das vor unendlichen Jahren, der Zirkus-Junge in Fridas Ohr geflüstert hatte.
“Ich kann nicht”, flüsterte Babette. Doch Frida war eingeschlafen um von einem himmelblauen Himmel zu träumen, einem Himmel ohne Traurigkeit. Babette aber träumte von pechschwarzen Abgründen ohne zu schlafen, schlich über die Friedhöfe und flehte die Vögel um einen Ratschlag an. 10 AquarellBei ihrer Arbeit mit Brenner, dem Totengräber, hatte sie natürlich auch Selbstmörder in Särgen liegen sehen. Mit aufgeschnittenen Pulsadern und vergifteten Mägen, mit Stricken um den Hälsen und Schusslöchern im Kopf. Oder die ganz Verzweifelten, die sich frierend auf eine Eisenbahnschiene gelegt hatten, um unsichtbar zu werden für alle Zeit. Nein, das wollte sie nicht, und die Vorstellung, ihre Mutter würde zu Hause den Tod selbst herbei holen, ließ ihr den Atem stocken. Riss Babette entzwei, ließ ihr Herz pochen und stolpern, ließ die Geister ihrer Kindheit entweichen. Wann ist ein Leben erschöpft, wann ist es nur noch ein Warten auf die Dunkelheit? Ist es nur richtig, die Entscheidung der letzten Atemzüge irgendwelchen Krankheiten zu überlassen, oder darf jeder Mensch sich selbst aus der Welt stehlen? Noch vor wenigen Tagen hätte sie darauf eine Antwort gewusst, doch jetzt war alles bleiern schwer.
Letztendlich entscheiden wir immer nach dem Gefühl und nach einem Herzschlag, den wir glauben in den Träumen zu vernehmen. Und so wachte Babette drei Tage später an einem tristen wolkenverhangenen Tag auf, steckte Herrn Ulysses in die Katzenbox und fuhr zum Krankenhaus. Vielleicht sind manche Entscheidungen im Nachhinein falsch und töricht, aber dennoch offenbaren sie immer eine Seelenlandkarte. Meeresblau, blutrot und dunkelgrau, mit blinden Wegen und Geheimnissen hinter diesen Wegen. Vermutlich ist es aber auch so, dass wir Entscheidungen einatmen müssen, um sie Jahre später beurteilen zu können.
Frida starb nach einem wundervollen Tag, an dem sie völlig befreit war von jeglicher Traurigkeit, an dem sie wie früher war. Für die verbleibenden Stunden das Leben neu auslotend schob Babette ihre Mutter im Rollstuhl in den kleinen Krankenhaus-Park mit den hohen Bäumen. 11 AquarellUnd fanden dort zwischen imaginärem Tanz und wahren Tränen, zwischen Schweigen und Lachen jenes verlorene Leben wieder, das von den Strömungen der Zeit weggerissen worden war. Am späten Abend brachte Babette ihre Mutter erschöpft zu Bett und wollte noch bleiben, aber Frida schickte sie weg. Am nächsten Morgen hatte sie tot im Bett gelegen.

oie_transparent

4.

“Ihre Mutter ist tatsächlich gestorben?” fragte Magdalena  leise und blickte besorgt zu dem Kater in der Reisetasche. Der Sturm hatte ein wenig nachgelassen, dafür schneite es stärker als zuvor. Babette nickte und streichelte Herrn Ulysses.
“Das nenn ich mal eine Geschichte. Eine Teufelskatze! Das haben Sie sich ja schön ausgedacht, hätte mein Vetter nicht besser gekonnt.” Felix Tollkühn wischte sich über den Mund.
“Ist das der Kater?” Sara deutete auf Herrn Ulysses, zog aber ihren Finger gleich wieder zurück.
“Ja, das ist Herr Ulysses. Aber er tut dir nichts.”
“Ich wette, der ist nicht älter als zehn Jahre. Wette ich.” Felix Tollkühn schob wieder einmal sein Toupet zurück, und wollte für einen Augenblick den Kater anfassen, ließ es aber dann doch.
“Das Ungeheuer ist längst hier. Hier unter uns”, flüsterte der Weihnachtsbaum-Mann und versteckte sich hinter seiner Fichte.
Merkwürdig, Babettes Bauchgefühl hatte sich plötzlich erneut verändert. Der Weihnachtsbaum-Mann tat ihr jetzt nur noch leid. Stattdessen fühlte sie etwas Sonderbares bei Felix Tollkühn, tief zwischen seinen Eingeweiden, als hätte sich ein Nebel gelegt. Vielleicht auch, weil sich Menschen irgendwann verraten, egal welches Geheimnis tief in ihnen ruht, und auch weil manchmal Zeit vonnöten ist, um den Schrecken aus dem Schatten zu locken.
„Wetten Sie lieber nicht. Nein, Sie sollten darauf nicht wetten“, sagte Babette und spürte Angst. Etwas schien verändert zu sein, aber sie konnte es noch nicht verstehen.
“Ich habe mit meiner Mutter gewettet, dass es nicht weh tut. Gar nicht weh tut. Hat leider nicht gestimmt. Was für ein Pech, nicht wahr?” Tollkühn lachte, aber dieses Mal war sein Lachen hässlich. Sara fing an zu weinen.
“Wer wird denn weinen? Es tut doch auch gar nicht weh. Wenn man richtig schneidet, tut es nie weh.” Er nahm sein Toupet vom Kopf, und plötzlich sahen alle, was so offensichtlich gewesen war, dass es niemand sehen wollte. Das ist gar keine aufgekratzte Haut auf seinem Kopf, dachte Magdalena mit flirrendem Herzen. Das ist Blut, aber nicht seines, und das Toupet ist kein Toupet sondern abgetrennte Kopfhaut.
Dann ging alles sehr schnell, wie ein Blitzeinschlag an einem wolkenlosen Sommertag. Felix Tollkühn sprang auf und zog das Mädchen an sich heran als hätte er es schon hundert Mal in seinen Gedanken getan. Sara schrie grell auf, doch seine Hand verschloss sogleich ihren Mund. Das Toupet war auf den Boden gefallen, und sie alle sahen gelblich gewordene Kopfhaut, mit Blut verschmiert.
“Hat das der Wunderkater vielleicht auch gerochen? Sieht nicht danach aus, sieht gar nicht danach aus. Wie war das mit dem Wetten? Ich wette, das Mädchen wird schreien. O ja. Man schreit nur nicht, wenn man gut schneidet, aber dieses Mal werde ich besonders schlecht schneiden. Versprochen. Das Messer ist ja auch schon stumpf geworden, so ein Gesicht kann man nur schwer schneiden. Haben Sie das gewusst? Ich hätte wetten können, so ein Gesicht schneidet sich wie Butter!” Aus seiner Hosentasche zog er eines dieser altmodischen Rasiermesser mit Bernsteingriff und klappte es auf. Das Neonlicht der Zugbeleuchtung spiegelte sich in der zerkratzten Klinge.
“Können Sie sich vorstellen wie das ist? Weihnachten mit der alten Schachtel? Mach‘ dieses, mach‘ jenes. Der Weihnachtsbaum steht schief, Felix! Geh mal zum Friseur, Felix, dir fallen ja die Haare schon aus, Felix. Das hat sie jetzt davon!” Er äffte seine Mutter nach und seine Stimme überschlug sich dabei.
“Lassen Sie das Mädchen los!” Melchior rutschte auf dem Hautstück aus, ein Blutstrich auf dem Linoleum-Boden und strauchelte nach vorne. Zum Glück, denn so erwischte ihn das Rasiermesser nur an der Wange, anstatt an der Kehle. Blut spritzte aus einer klaffenden Wunde über Paul und Anne, die zuerst schrie, dann eigenartig lachte und schließlich ohnmächtig wurde.
“Erst kommt das Mädchen, dann der Verrückte. Und dann die Alte. Und zum Schluss der Wunderkater. Sein Fell bringe ich dann meinem Bruder mit. Dem Herrn Anwalt. Nimm dir ein Beispiel an deinem Bruder, Felix! Hast du gehört, wie viel Geld Balthasar verdient, Felix?” Tollkühn schnaubte, Speichelfäden hingen von seinen Lippen herab. Das Messer nahe Saras rechtem Auge, sie konnte sich selbst im Stahlschliff weinen sehen.
“Weihnachten ist das Fest der Überraschungen, o ja. Und wir schneiden, und wir schneiden. So tief hinein ins Fleisch, bis auf die Knochen. Stille Nacht, heilige Nacht! Wir schneiden bis es ganz still wird!” Jetzt schrie Felix Tollkühn, und Babette konnte für eine Sekunde alles sehen. Das viele Blut in einem Wohnzimmer, einen offenen Bauch mit Weihnachtsschmuck darin. Mit elf Jahren hatte Felix seinem Hund die Kehle durchgeschnitten, sieben Jahre später einem Obdachlosen. Sie hatte davon in der Zeitung gelesen. Von einer Blutnacht mit vier ausgeweideten Prostituierten, um Weihnachten herum.
Später würden sich alle Beteiligten nur schwer daran erinnern können, was dann passierte, während die riesigen Schneeflocken die Wagonscheiben blind machten. Während Melchior zwischen den Sitzen lag und seine Hand auf die Wunde presste und Blut zwischen seinen Fingern rann, wurde alles übertönt von einem schrecklichen unmenschlichen Schrei. Der Kater sprang plötzlich über Babettes Schulter auf die Schulter des Mädchens, und für eine Sekunde lang konnte Felix Tollkühn überrascht in die gelb gewordenen Augen des Tieres blicken als würde er in einen Spiegel sehen. Nur ganz kurz, denn dann biss ihm Herr Ulysses die Nase ab, schlug mit seiner Tatze gegen sein linkes Auge und spaltete das Augenlid mit seinen Krallen.
Das Letzte, was Felix Tollkühn sah, war roter Schneefall. So rot wie frisches Herzblut. Dann wurde es dunkel.

oie_transparent

5.

Ein Schneesturm in Babettes Kopf, weiterhin, auch als sie längst wohlig warm im Neles Gästebett lag und durch das schmale Fenster einen gütigen Mond über Prag betrachtete.
Vielleicht hätte sie es früher erkennen müssen, fühlen müssen. Aber die Traurigkeit des Weihnachtsbaum-Mannes hatte alles überschattet – eine solche Traurigkeit, wie sie Babette noch nie bei einem Menschen erlebt hatte. Seine Frau und seine Kinder, ein Mädchen und ein Junge, waren vor sieben Jahren am Weihnachtsabend auf der Fahrt von München nach Prag mit dem Auto verunglückt. Alle drei waren sofort tot gewesen. Drei schlagende Herzen. Drei Herzen aus Pappmaché in seinem Koffer. Manchmal braucht es einen erneuten Schrecken, um die Stille zu durchbrechen. Und sie alle hatten geschwiegen, während sie das Blut in dem Zugabteil weggewischt hatten. Auch Babette. Nur der Weihnachtsbaum-Mann hatte von seinem Leben erzählt, und sie hatte sich gedacht: Ja, jeder hat eine Geschichte, und hinter jeder Geschichte steckt eine weitere. Jene, von denen wir nur selten hören. Jedes Jahr fährt er mit einem Weihnachtsbaum nach Prag, um dann die Stelle zu suchen, wo Herzen verbrannt sind. Um wiederum seine mitgebrachten Papierherzen zu verbrennen. Nur um den Nachthimmel zu erhellen.
Ja, das hatte der eigenartige Weihnachtsbaum-Mann erzählt, während Magdalena notdürftig die Wunde von Melchior versorgt und Sara am Fenster gestanden hatte, um den leblosen Körper zu betrachten. Während die anderen alles gesäubert hatten, mit dem Versprechen, nie ein Wort darüber zu verlieren – und auch, oder vor allem nicht darüber, dass sie Felix Tollkühn aus dem Zug geworfen hatten, nachdem er ohnmächtig geworden war und sich Herr Ulysses auf seinen Bauch gesetzt hatte.
“Er bewegt sich”, hatte Sara geschrien und Babette hatte geglaubt, sie würde den Zug meinen, der sich gerade in Bewegung setzte. Aber dann blickte sie nach draußen und sah, was das Mädchen gemeint hatte. Felix Tollkühn hatte sich hochgerappelt und torkelte dem Zug hinterher. Sein Mund war offen und eine Augenhöhle leer. 12 AquarellEs fielen Schneeflocken hinein, das konnte Babette noch sehen, bevor er in der Dunkelheit verschwand.

Natürlich war Babette viel zu spät bei Nele angekommen, erst am frühen Morgen, und sie hatte das Schlimmste befürchtet. Aber als Nele dann die Tür geöffnet hatte, war plötzlich jeder Kummer und jede Sorge verflogen gewesen. Babette hatte ihre Nele umarmt und gespürt, dass sie selbst lange vor ihrem Mädchen sterben würde. Sie hatten am Küchentisch Kaffee getrunken, und Herr Ulysses war müde um Neles Beine gestrichen.
“Ist er immer noch so schlecht gelaunt?” hatte Nele gefragt und versucht ihn hochzuheben, wie sie es manchmal als Kind getan hatte. Eine kleine Narbe an ihrem Kinn erinnerte noch daran. Narben, auch das wusste Babette, erinnern uns an das Leben.
Natürlich hatte Babette Angst gehabt, aber nur eine Schrecksekunde lang, denn Herr Ulysses hatte wild gefaucht und war aus ihren Händen gesprungen.
“Ja, meistens schlecht gelaunt. Liegt am Alter”, hatte Babette gesagt und Nele auf die Stirn geküsst. Keine schlechte Aura, keine dunklen Vorahnungen. Alles war gut.
Und jetzt? Jetzt wartete Babette auf Herrn Ulysses. Der am späten Abend einfach verschwunden gewesen war. Vermutlich war er auf der Suche nach einem dunklen Herzen.
Um sich daran zu laben.

Druckfreundliches PDF im Buchdesign

Text: Copyright © 2015 by Richard Lorenz (Homepage)
Illustrationen: Copyright © 2015 by Alexandra F. (PROJEKT wort:rausch)
Lektorat: Frank Duwald und  Eric Hantsch
Layout/Satz PDF und Design Promo-Kampagne: Eric Hantsch (Edition CL)

Weitere Links:

Richard Lorenz – Das Treffen der traurigen Menschen in Franks Tabakladen während eines Schneesturms [Erzählung]
Interview mit Richard Lorenz
Interview mit Richard Lorenz – Teil 2
Interview mit Alexandra F. – Malerin, Dichterin, Fotografin

Interview mit Alexandra F. – Malerin, Dichterin, Fotografin

Protraitfoto Alexandra F.Alexandra F. ist dandelion-Lesern keine Unbekannte, ist sie doch die Fotografin des dandelion-Headers. Alexandra F., Jahrgang 1972 und in Wien lebend, malt, fotografiert (vorzugsweise verlassene Orte) und schreibt kraftvolle Lyrik. Der Anfrage, die Weihnachtsgeschichte “So dunkel die Nacht“ von Richard Lorenz zu illustrieren, begegnete sie erst mit spürbarer Skepsis, was sich aber schnell änderte.

FRAGE

Mir schien es als wärst du nach anfänglichen Zweifeln, ob es überhaupt das Richtige für dich sei, nach gewissen Vorgaben zu zeichnen, plötzlich hochgradig inspiriert gewesen, “So dunkel die Nacht“ von Richard Lorenz zu illustrieren. Was hat deine Zweifel letztendlich so schnell zerstreut?

ALEXANDRA F.

Grundsätzlich halte ich mich meist von Auftragsarbeiten fern. Nachdem ich mich aber auf die Geschichte eingelassen hatte, habe ich schnell erfahren, dass der Inhalt und der Stil mir sehr entgegengekommen. Die Betrachtungsweise, der Blickwinkel auf die Dinge und die melancholische düstere Stimmung darin haben mich begeistert und inspiriert.
Außerdem war die “Vorgabe“, diese Reihe in schwarz-weiß zu malen eine neue Herausforderung für mich, hatte ich ja gerade erst damit begonnen, monochrom zu aquarellieren. So hat sich dies sehr gut darin eingefügt und es war letztlich so, dass ich gar nicht aufhören wollte, den Personen und Szenen in der Geschichte Leben einzuhauchen.

FRAGE

Nimmst du von dem Projekt irgendetwas für dich mit?

ALEXANDRA F.

Sicherlich…, wie ich immer etwas mitnehme, wenn mich etwas inspiriert hat. Stimmungen, Worte, Befindlichkeiten. Und natürlich die Aquarelle, die die Geschichte begleitet und meine Begeisterung am monochromen Aquarellieren verstärkt haben.
Und vielleicht auch – um zum Beginn unseres Gesprächs zurückzukommen, auch die Gewissheit, dass Auftragsarbeit nicht gleich Auftragsarbeit ist.

FRAGE

Liest du als Lyrikerin sonst auch Prosa, sprich Romane und Erzählungen?

ALEXANDRA F.

Ja, sehr gerne und viel und breit gefächert. Meist lese ich parallel an mehreren Büchern, die sich aufteilen in Fachliteratur (am liebsten Philosophie, Psychologie, Geschichte, Kunst und vieles mehr), einen Roman und nebenbei natürlich auch immer wieder Lyrik, weil ich die Verdichtung darin sehr mag.

FRAGE

Welches sind deine Lieblingsromane?

ALEXANDRA F.

Was mir jetzt sofort einfällt und sich eingeprägt hat: Der Gott der kleinen Dinge von Arundhati Roy, Terror von Dan Simmons und Das Gedächtnis der Libellen von Marica Bodrozic.

FRAGE

Du bist eine Hälfte des Künstlerduos Projekt wort:rausch. Wer ist die andere Hälfte?

ALEXANDRA F.

Die andere Hälfte, M. Schuetze lebt in Norddeutschland. Mit diesem Projekt – der Poesie in Wort und Bild – haben wir vieles, das wir schon jeder für sich in seinem Leben künstlerisch gelebt hat, gemeinsam zusammengefasst. Im Jahr 2012 begann eine intensive Zusammenarbeit, allerdings ohne die Individualität des Einzelnen zu verlieren, was jedem von uns auch sehr wichtig war und ist.

FRAGE

Wie kann man sich eure Zusammenarbeit vorstellen?

ALEXANDRA F.

Virtuell einerseits, wenn wir Konzepte erstellen, planen und jeder an seinem jeweiligen Wohnort für sich schreibt, malt, fotografiert und Ideen sammelt. Andererseits gibt es grenzübergreifende Projekte, die verbunden sind mit gemeinsamen Fototouren…, wie zum Beispiel unser Projekt “Vergessene W.Orte“, wo wir dann auch länderübergreifend arbeiten – bis jetzt europaweit, von Nord nach Süd, von Hamburg bis Florenz.

FRAGE

Würdest du uns ein bisschen über dich erzählen? Wer bist du? Was machst du?

ALEXANDRA F.

Ich bin sicherlich zum Teil, was man in den Texten liest und in den Fotografien und Bildern sieht.
Das Projekt ist allerdings eine Möglichkeit für mich, meine Person in den Hintergrund zu stellen und die Arbeiten in den Vordergrund zu rücken und für sich sprechen zu lassen.
Kunst war für mich in jeder Form immer schon ein sehr wichtiger und intensiver Teil meines Lebens, eine Berufung vielleicht und – wie Ruskin so treffend sagte – eine Möglichkeit, mit sinnlichen Mitteln den Geist zu erheben, dem Schmerz einen Sinn abzugewinnen und den Ursprung des Schönen zu ergründen.
Für mich ist der kreative Ausdruck ein Lebensgefühl, eine Notwendigkeit, ein Bedürfnis, sicherlich aber auch eine Möglichkeit, mich immer wieder weiterzuentwickeln und neue Herausforderungen anzunehmen und auszuleben.
Abseits der Kunst habe ich einen normalen Berufsalltag. Meine Person würde ich allerdings mehr über meine kreativen Arbeiten definieren.
Wie sagte Goethe: “Die Kunst ist eine Vermittlerin des Unaussprechlichen“…, und in diesem Sinne kann ich mit meinen kreativen Arbeiten viel mehr sagen als in ein paar Worten.

Links:

Alexandra F. auf Facebook (als Alexandra Wortrausch)
Projekt wort:rausch
Projekt wort:rausch auf Facebook

 

Bild

Ankündigung

Sein bislang neuestes Werk, die Novelle „So dunkel die Nacht“, schrieb Richard Lorenz im Herbst exklusiv für dandelion.
Die Geschichte umfasst mehr als 10.000 Wörter und enthält zahlreiche wunderschöne A4-Aquarelle der Wiener Künstlerin Alexandra F.
Ebenfalls enthalten sein wird ein kostenloser PDF-Download, der die Geschichte im Buchlayout von Eric Hantsch zum Ausdrucken anbietet.

Promo, Tag 5

Interview mit Richard Lorenz – Teil 2

Im ersten Teil des Interviews ging es in erster Linie um Amerika-Plakate. Jetzt gilt es zu ergründen, was danach kommt.

RLCopyright © 2014 by Deliah Lorenz

FRAGE

Es ist jetzt gut ein halbes Jahr seit dem ersten Teil unseres Interviews und meiner Lektüre von Amerika-Plakate vergangen, und ich bin erstaunt, wie präsent einige der Charaktere in meinem Kopf immer noch sind. Für mich ist es insbesondere Suzanne, der ich nachtrauere. Wie ergeht es denn dir mit deinen Schöpfungen? Wendest du dich nach Beendigung eines Werkes wie Amerika-Plakate sofort neuen Charakteren zu oder begleiten dich die „alten“ auch noch länger?

RICHARD LORENZ

Die Figuren, über die ich schreibe, existieren weiter. In Traumgeästen, im Zwielicht. Amerika-Plakate verfügt über zahlreiche Menschen, die mich stets begleiten. Die mir stets neue Begebenheiten erzählen. Leibrand zum Beispiel hat ja nicht nur das erlebt, was in dem Roman beschrieben wurde – würde ich das alles schreiben, wäre es vermutlich ein Lebenswerk. Vor allem in neuen Projekten treffe ich Leute, die immer wieder Schnittstellen zu Leibrand, Brenner oder auch Suzanne aufweisen. Die sich kennen.
Vor allem geht ja das Leben für zum Beispiel Suzanne weiter. Was macht sie gerade? Das sind tatsächlich Fragen, die mich beschäftigen. So entstehen Erzählungen für mich alleine. Skizzen, aus denen ganz andere Dinge entstehen können.
Ich mag den Gedanken des Einflusses von Geschehnissen auf Menschen. Dass jeder Schritt, jedes Wort, etwas bewirkt, verändert. Vielleicht schreibe ich eines Tages Amerika-Plakate neu, aus der Sicht von Suzanne. Wer weiß, alles ist möglich.
Da ich mir bei Amerika-Plakate aus Naivität den Luxus geleistet habe, die Figuren nicht glattgestrichen oder das Setting nach möglichen Verkaufschancen ausgesucht zu haben, sind mir Ort und Personen der Erzählung sehr nahe, sehr sympathisch. So kann ich von ihnen weiter träumen. Und ob du es glaubst oder nicht, manchmal bekomme ich eine Postkarte von ihnen. Aus Amerika, Brooklyn. Letztes Haus links.

FRAGE

Heißt das konkret, dass die realistische Chance besteht, dass wir Leibrand oder Suzanne in näherer Zukunft wieder begegnen werden?

RICHARD LORENZ

Ich denke das könnte passieren. Aktuell taucht Leibrand am Rande ja auch in der Kurzgeschichte „Das Treffen der traurigen Menschen in Franks Tabakladen während eines Schneesturms“ auf. Wie eben auch jener Frank, der in dem Roman eine kleine Nebenrolle als Tabakladen-Besitzer erfüllt.
Im Grunde gibt es zahlreiche Schrankgeschichten, die als Skizzen existieren. Die ideale Vorstellung wäre eine erweiterte Ausgabe von Amerika-Plakate mit einem Extra-Band jener Nebengeschichten, sozusagen eine beiliegende Kurzgeschichten-Sammlung. Ja, das würde mir gefallen.

FRAGE

Seit unserem letzten Gespräch ist, so empfinde ich es zumindest, die allgemeine Aufmerksamkeit in der Facebook- und Literaturblogger-Szene dir gegenüber sehr stark gestiegen. Wie hast du die letzten Monate publicitymäßig empfunden?

RICHARD LORENZ

Natürlich empfinde ich es als sehr angenehm, dass der Roman Aufmerksamkeit bekommt. Es gab einige sehr nette Menschen, die das Wagnis dieses Romanes auf sich nahmen. Dafür, und das kann ich ehrlich sagen, bin ich ihnen unendlich dankbar. Solche mutigen Leser holen sich ein schwieriges Werk, und ich denke bei Amerika-Plakate kann man davon sprechen, aus dem Schatten der Merkwürdigkeit. Es folgten tatsächlich großartige wunderschöne Besprechungen.
Ich glaube auch, dass es eine Mär ist, an den dummen Leser zu glauben, der ausschließlich einfachen Handlungssträngen folgen kann. Der keine abseitigen Bücher mehr lesen kann oder will – jedenfalls keine deutschen Publikationen. Wir sehen das an dem aktuellen Erfolg von Neil Gaiman. Könnte ein deutscher unbekannter Autor so etwas publizieren? Ich persönlich habe da so meine Zweifel.

FRAGE

Amerika-Plakate wird ja immer als dein Erstlingsroman angesehen, aber Kinderland ist ja schon eher erschienen…

RICHARD LORENZ

Das ist richtig. Dennoch ist Amerika-Plakate tatsächlich der Debüt-Roman, der eigentlich ein wenig früher auf den Markt hätte kommen sollen. Kinderland war dann das Folgeprojekt, eine Fingerübung sozusagen. Ist Amerika-Plakate eher ein Kammerspiel, öffnete ich mit Kinderland die Linse auf Weitwinkel im Sinne der Absonderlichkeiten eines Tim Burton. Im Nachhinein denke ich, dass es nicht hundertprozentig funktioniert hat, weshalb ich auch eine Überarbeitung anstrebe. Erschienen ist es ja bei einem Münchner digital-first-Verlag in fünf Teilen, also nur als eBook.
Während der Arbeit an Kinderland arbeitete ich auch noch an einer kürzeren Geschichte – Charlie Parker und der letzte Schnee. Charlie Parker trifft Moondog und ein Gespenst – eine schöne Geschichte, wie ich finde.

FRAGE

Was ist aus der Geschichte geworden?

RICHARD LORENZ

Die Geschichte um Charlie Parker und seine letzten Tage liegt aktuell bei der Edition Phantasia. Wie man die kürzere Geschichte am besten umsetzt, ist noch nicht ganz geklärt. Eine angedachte Möglichkeit wäre eine limitierte illustrierte Ausgabe – was natürlich Joachim Körber entscheiden muss. Aber ich denke, es wäre eine schöne Art, der Erzählung gerecht zu werden.
Natürlich wäre es möglich, die Kurzgeschichte als eBook zu publizieren, was mir jedoch stark missfallen würde. Ich denke nach wie vor, dass sich manche Erzählungen besser im Print-Bereich gestalten lassen.

FRAGE

Dein neuer, noch nicht erschienener Roman Frost, Erna Piaf und der Heilige ist denkbar anders als Amerika-Plakate aber trotzdem sofort als ein Roman von Richard Lorenz erkennbar. War es eine bewusste Entscheidung von dir, diesen Roman direkter, weniger komplex und visionär zu schreiben?

RICHARD LORENZ

Nach Amerika-Plakate war es mir tatsächlich fast schon ein Bedürfnis, eine rasche klare Geschichte zu erzählen. Wenngleich die Erzählung vermutlich gar nicht so rasch und klar erzählt ist, wie sie mir erscheint – jedenfalls nicht im Vergleich zu anderen Autoren.
Frost, Erna Piaf und der Heilige kommt mir selbst vor wie ein Traumgebilde. Der Ansatz war ja der Umgang mit dem Tod und dem Glauben. Dem Verlust, an ein Himmelreich glauben zu können. Und letztendlich natürlich auch mit dem Thema Sterbehilfe.
Frost ist wie Leibrand eher ein zerbrochener Mensch. Ein Hoffender und Liebender. Mir gefallen vor allem die Randfiguren des Romans. Das Merkwürdige. Das Eigenartige und das Herausfallen aus einem Leben. Geschichten müssen so sein, denn Geschichten sollen ja das Leben spiegeln. Ich mag nach wie vor keine glattgeschliffenen Erzählungen, als wäre das Leben eine One-Man-Show. Das ist einfach nicht richtig. Denn das Leben ist fahrig, ungenau. Oft genug merkwürdig. Eigentlich müsste das Beschreiben einer Sterbeszene unlesbar, weil so verwirrend, sein – tausend Eindrücke. Aber oft genug habe ich solche Szenen gelesen, als hätte der Autor vom Kuchenbacken geschrieben.
Ich habe es sehr gemocht, diesen Roman zu schreiben.

FRAGE

Die erste Hälfte ist sehr dunkel. Doch dann kommt Amelie, der Engel, der die finsteren Herzen mit Licht erfüllt …

RICHARD LORENZ

Das ist richtig. Die erste Hälfte ist bewusst sehr dunkel gehalten, um den Kontrast besser darstellen zu können. Amelie entzündet Frost, könnte man sagen. In einer Zeit, in der Frost an sich selbst und der Welt zweifelt.
So stellt Frost das Sterben und Amelie das Leben dar. Gegenseitig können sie sich heilen.
Ich glaube, wir brauchen solche Menschen, die uns befreien. Uns lieben. Sterbende brauchen solche Menschen, natürlich. Aber es ist immer noch schwer, mit Sterbenden umzugehen, sie zu begleiten. Weil wir Angst vor diesem Anblick haben. Angst, den Tod am Krankenbett zu sehen, weil er uns an die eigene Sterblichkeit erinnert. Aber auch an das Glück, noch am Leben sein zu können, zu dürfen. Mit der Verdrängung des Sterbens verdrängen wir auch maßgeblich das Leben. Und damit verdrängen wir natürlich auch die Selbstbestimmung und die Frage nach aktiver Sterbehilfe.

FRAGE

Die Liebesgeschichte wird ja nur angerissen, und trotzdem überstrahlt sie alles andere. Auch die Liebesgeschichte zwischen Leibrand und Suzanne findet in Amerika-Plakate nicht statt, obwohl sie das ganze Buch zusammen hält. Ist es dir lieber, dass die Leserinnen und Leser sich selbst vorstellen, wie das Zusammensein ein Liebespaars aussehen könnte?

RICHARD LORENZ

Die Liebe entfaltet vor allem in der erste Phase zwischen zwei Menschen eine starke Magie, wie ich finde. Wenn Geheimnisse noch nicht ganz offen gelegt sind. Gerade das ist für mich als Autor interessant. Den Umstand zu beschreiben, dass alles mit einem Geheimnis kippen könnte. Oder anders gesagt, dass die Liebe beweisen muss, wie stark sie ist. Eine ausgereifte Liebesgeschichte bietet wenig Reibungspunkte. Das Unfertige reizt. Der Duft ihrer Haare, ihre Bewegungen. Sehnsüchte und Träume, der erste Kuss um Mitternacht. Alles das. Nichts ist stärker, nichts ist mächtiger. Und nichts prägt uns so sehr. Leibrand zehrte ein Leben lang davon. Und Frost? Frost wünschte sich nichts sehnlicher.

FRAGE

Leibrand beherrscht selbst noch nach seinem Tod, die Herzen und Gedanken vieler Menschen in deinen Werken. Er strahlt etwas Übermenschliches aus. Ist er eine Art Messias?

RICHARD LORENZ

Das ist eine schwierige Frage. Ich persönlich sehe ihn nicht als Messias, wenngleich natürlich Anleihen im Glauben, wie zum Beispiel die Erlösung, vorhanden sind. Ich würde mir wünschen, dass wir alle Menschen so behandeln nach ihrem Sterben. Dass niemand vergessen ist. Und die Erinnerungen und die begonnenen Taten weiterleben, zu Ende geführt werden. Lebendig gehalten werden.
Das Leben bietet eine Vielfalt an Geheimnissen. Aber auch das Sterben. Wir sollten uns an die Toten erinnern, aber nicht im Sinne von Friedhofs-Besuchen. Jeder Mensch hat eine Gabe in sich verankert, die Welt zu bewegen. Zu verändern. Leider nutzen wenige Menschen dieses Talent. Deshalb strahlen vielleicht auch Menschen, die aus der Welt fallen. Sie erschrecken und beeindrucken uns gleichzeitig, weil gerade diese Menschen uns zeigen, was ein Leben sein kann. Und ein Leben ist eben nicht nur Haus, Garten, Urlaub. Sondern vor allem die Herzschläge und die Träume. Leibrand fügt sich der Welt nicht ein, und doch ist in ihm mehr Leben als in vielen anderen Menschen. Weil er das Leben atmet und letztendlich daran zerbricht. Davor haben wir eine ausgeprägte Angst. Daran zu zerbrechen. Und deshalb sind wir meistens Gaukler des Lebens – die mit billigen Zauberkunststücken versuchen das Leben zu imitieren.

[Erzählung] Richard Lorenz – Das Treffen der traurigen Menschen in Franks Tabakladen während eines Schneesturms

Titelzug-transparent

Der wahre Sinn der Kunst liegt nicht darin, schöne Objekte zu schaffen.
Es ist vielmehr eine Methode, um zu verstehen. Ein Weg, die Welt zu durchdringen und den eigenen Platz zu finden.
Paul Auster

 

Kapitel 1
Vom Hoffen auf ein Leben

1

Wenn Frank seine Augen schloss, dann konnte er seinen Vater hinter der Theke stehen sehen. Die Hände abgestützt, immer mit Krawatte unter dem Kinn. Wässrig blau die Augen, wie windstille Meere. Oben im Flur hingen noch alle seine Krawatten im Kleiderschrank, als wären es herausgerissene glänzende Zungen. Bis heute hatte Frank keine davon tragen können.
Nach dem Krieg hatte sein Vater den Tabakladen hier in Giesing aufgemacht, zwischen den verwinkelten Straßen und den verwilderten Hinterhöfen. Damals hatte ja noch beinahe jeder geraucht. Natürlich auch sein Vater. Jeden Tag drei Schachteln Lucky Strikes ohne Filter. An manchen Schultagen konnte Frank seinen Vater unten lange husten hören, bevor die ersten Leute kamen, um die Zeitung zu kaufen. Später hatte er dann auch Lotterielose verkauft und Groschenhefte.
Frank blickte auf und sah durch das schmale Schaufenster nach draußen. Das Licht merkwürdig und die Schatten gebrochen. Seit zwei Tagen schneite es unaufhörlich, und Frank nickte. So soll es sein zur Weihnachtszeit, dachte er sich, zog eine Zigarette aus der Packung, zündete sie an und fühlte sich plötzlich alt und schwermütig. Und tatsächlich war Frank nun schon älter als sein Vater geworden war.
Draußen schlitterte ein Auto auf der rissigen Straße entlang, ein Mann mit Weihnachtspaketen unter dem Arm verschwand in einer Seitenstraße. Flackernd die Straßenlaternen, die ersten Sturmböen bogen die Äste der kranken Bäume zu Boden.
Es war ein 24. Dezember wie heute gewesen, als Franks Vater den Laden früher als gewohnt zusperrte. Ungewöhnlich früh sogar. Schneetreiben und Gespenster, die jeden Namen kannten. In den späten siebziger Jahren, als die letzten RAF-Spukgestalten noch in den Ecken lauerten, war sein Vater zur Donnersbergerbrücke gefahren, hatte sich auf das vereiste Geländer gestellt und solange gewartet, bis er die ersten Lichter eines Güterzuges sehen konnte. Dann war er einfach gesprungen. Zu Hause der Weihnachtsbaum in der Ecke, schief gewachsen wie ein schiefes Leben. Mit Kerzen, die noch niemand angezündet hatte.
Wir sind das, was das Leben aus uns macht, dachte sich Frank und nickte abermals. Überlegte einen Augenblick, ob er es laut ausgesprochen hatte. Aus dem Hinterzimmer mit dem Tisch und den Stühlen drang leise aus dem Grundig-Radiogerät Stille Nacht.
Einige Jahre lang war Frank jedes Weihnachten zu dieser Brücke gegangen und hatte gewartet, bis alle verschwunden waren. Hatte sich auf das Geländer gestellt und sich gefragt, wie es sei zu fliegen. Natürlich war er nie gesprungen, wenngleich sich jedes Jahr mehr etwas abschälte ihn ihm; das Unverständnis des Sterbens in einer eisigen Dezembernacht.
“Und wir wären gerne, was wir nie erreichen”, flüsterte Frank und strich sich schnell über den Mund. Inhalierte den Rauch und drückte die Zigarette zu früh aus. Nicht mehr allzu lange, und er würde seine wenigen Freunde durch den Schnee stapfen sehen. Schon von Weitem würde er sie erkennen können, an ihrem Wanken und Taumeln. Mit müden Knochen und müden Augen. Sie waren noch alles, was er hatte in dieser großen, dunklen Stadt. Außer Martha drüben vom Waschsalon, die er manchmal besuchte, wenn er heimlich ihr Parfüm riechen wollte, um sich lebendig zu fühlen. Martha, die mindestens genauso alt war wie er selbst und wegen ihres schlimmen Rückens Morphium-Tabletten nehmen musste, und die er oft vor dem Salon stehen sah, rauchend. Den Blick hilflos zum Himmel gerichtet.
Und natürlich außer Nellie. Aber Nellie war keine Freundin. Sie war vielmehr wie ein Herzschlag. Manchmal stolpernd, manchmal rasend. Schon seit Anfang November hatte Frank überlegt, ob er diesen Heiligen Abend tatsächlich von Nellie erzählen sollte und davon, dass niemand vergessen ist auf dieser Welt.
Martha schlüpfte aus der Waschsalontür und zündete sich hastig eine Zigarette an. Rauchte viel zu hastig. Auch ihr hatte er von Nellie erzählt, aber natürlich nicht die ganze Geschichte. Nichts davon, dass er sie tatsächlich manches Mal spüren konnte. Tief im Bauch.
“Wir hoffen auf ein Leben, das wir immerzu suchen. Und nur manchmal finden. In den Herzen anderer, du weißt”, hatte einmal Leibrand zu ihm gesagt, als die ersten Herbststürme die Wolken nach Osten getrieben hatten, lange bevor Frank von Nellie zum ersten Mal gehört hatte. Wie eine Vorahnung hatte er es damals gesagt, denn einige Monate später war Leibrand tot. Und er fehlte, dieser merkwürdige Mann, der vielleicht alles verstanden hätte. Leibrand hatte immerzu von Brooklyn geträumt, von seinem ganz eigenen Amerika. Mit den dunklen Wegen und den hellen geheimnisvollen Orten. Mit den Träumen und den Fragmenten, den Skizzen des Lebens.
Frank drehte sich um und blickte auf das Bild, das Leibrand gemalt und ihm dann geschenkt hatte. Amerika-Plakate. Zu Weihnachten vor hundert Jahren. Am gleichen Tag war Leibrand inmitten des Ladens umgefallen, als hätte ihn jemand einfach umgestoßen. Und Herr im Himmel, Frank konnte sich noch sehr genau an das Gefühl erinnern, als er ihn dort ohnmächtig liegen sah. Er hatte damals an seinen Vater denken müssen, der auf den Bahngleisen gelegen war, aus der Dunkelheit herabgefallen, wartend auf den letzten Atemhauch. Oft hatte sich Frank gefragt, ob Leibrand davon gewusst, oder vielleicht auch nur gespürt hatte. Und dass das Bild in seinem Kopf gewesen war, einen vom Güterzug zerrissenen Vater in einer mondlosen Weihnachtsnacht. Von den Träumen, dass er selbst an seinem Tod schuld sei und sonst niemand. Davon, dass er es hätte spüren müssen.
Aber als Leibrand da gelegen hatte, mit geschlossenen Augen und weit ausgestreckten Armen, war irgendwie jede Schuld von Frank genommen worden. Gib mir Zuversicht, gib mir Hoffnung und Schutz vor dem Sturm. Worte, die Frank damals in seinem Bauch gehört hatte.
Er hob seine Hand und winkte Martha, die ihn bemerkte und auch winkte. Im fahlen Licht der Straßenlampe glaubte er zu sehen, dass sie lächelte, und für einen Moment wollte er hinüber gehen und sie in den Arm schließen. Für alle Zeit, für immer und ewig.
Aber noch bevor er einen Schritt wagen konnte, war sie wieder im Waschsalon verschwunden, und der Schnee verdeckte ihre Spuren.
Von einem Herzschlag zum anderen.

Kapitel 2
Das Treffen der traurigen Leute

1

Das Hinterzimmer war aufgeräumter als gewohnt, auf dem schmalen Tisch leere Aschenbecher und elf Flaschen billiger Wein, den Frank im Supermarkt gekauft hatte. Durch das schmale schmutzige Fenster konnte er in hell beleuchtete Wohnungen sehen, erblickte hohe Weihnachtsbäume und Wartende. Dort ein trauriges Kind, das die Nase platt drücke am Fensterglas. Eigentlich hatte er auch einen Baum besorgen wollen, es dann aber doch wieder vergessen. Seufzend zündete er zwei Kerzen an, die er noch unter der Theke gefunden hatte. Für alle Fälle, falls doch mal wieder der Strom ausfallen würde. Rauschend das Radiogerät, aus der Ferne dumpfe Kirchenglocken. Später dann würde er Essen besorgen, von einem der Läden einige Straßen weiter, die immer geöffnet hatten. Wie leere Herzen.
In solchen Momenten fragte sich Frank besonders, weshalb er nie eine Frau gefunden hatte. Eine Frau wie Martha vielleicht, mit der er zusammen die Tage hätte verbringen können. Mit Weihnachtsbaum und Geschenken, mit guten Träumen und guten Augenblicken. Vielleicht deshalb, weil so gut wie nie Frauen in seinen Laden kamen, nicht einmal für die Lottoscheine. Und wo hätte er auch Frauen kennenlernen sollen? Manchmal schlief er nach acht Uhr abends hier im Laden ein und träumte von seinem verlorenen Leben, zwischen Wellengang und Mondfinsternis. Weit offen die Ladentüre. Krähen, die in seinen Schuhen schliefen.
Dabei hatte er früher vorgehabt, wegzugehen. Früher, weit vor Vaters Tod. Jeder Weg noch offen und hell beleuchtet, nichts verwinkelt und verborgen. Wenngleich er sich auch nur noch fahrig erinnern konnte, weshalb, waren die Gedanken daran warm und gütig. Letztendlich war er aber nie weiter gekommen als bis zu dem kleinen Laden mit der schiefen Tür, deren Schloss in den Wintermonaten zufror. Mit dem abgetretenen Linoleum und den nikotingelben Wänden. Mit der verlassenen Wohnung darüber, den tausend Zimmern und den tausend Gespenstern. Den Gerüchen einer anderen Zeit und den Schattenverwischungen von Kindheitstagen.
Eigentlich war Frank nie gerne in der Wohnung gewesen, hatte dort immer schlecht geträumt. Selbst wenn er nicht geschlafen hatte. Als würden die toten Ungeziefer unter den Tapeten mit ihm sprechen und von den Alpträumen des Lebens erzählen. Von der Einsamkeit, dunkelgraue Episoden. Vielleicht waren sie deshalb auch immer ein wenig länger geblieben, seine Freunde. Weil sie es gespürt hatten, zwischen zwei Zigarettenzügen.
Warum in aller Welt hatte er auch nie Martha gefragt, nie zu einem Kaffee eingeladen? Natürlich hatte er es immer wieder mal vorgehabt, es dann aber doch nicht getan.
“Frohe Weihnachten”, sagte plötzlich eine Stimme, und Frank erschrak.
“Herr im Himmel. Willst du, dass ich zu Weihnachten einen Herzinfarkt bekomme?”
“Der Herr ist dein Hirte”, sagte Abraham leise, hustete und lachte unbeholfen. Dabei rutschten seine falschen Zähne klackernd ein wenig nach vorne. Er schob sie wieder zurück. Abraham war schon in den Laden gekommen, als Franks Vater noch gelebt hatte. Jeden Tag zwei Päckchen Roth-Händle. Eine davon glomm zwischen seinen Fingern.
In vielen Leuten steckt ein wenig Leibrand, dachte sich Frank, als er Abraham ansah. Die Hose alt und schmutzig, der Mantel abgestoßen. Eingetrockneter Vogeldreck auf dem uralten Hut.
“Diese verfluchten Menschen”, sagte Abraham ohne Umschweife, als er sich setzte.
“Ja”, sagte Frank, goss ihm Wein in ein Glas.
“Ausgelacht haben sie mich. Stell dir das mal vor. Nur weil ich mit den Mäusen geredet habe. Als ich noch die Straßen gekehrt habe, habe ich immer mit den Mäusen geredet. Mit den Menschen kann man ja nicht reden. Kommt ja doch nur Unsinn dabei raus.”

weinglas1

“Trink ein wenig”, sagte Frank und füllte erneut Wein in das Glas.
Wir brauchen traurige Menschen. Auch das dachte sich Frank gerade. Denn alleine in der Traurigkeit steckte jene Hoffnung, die das Leben offenbarte.
“Alles wird gut”, flüsterte Frank, obwohl er selbst nicht mehr so recht daran glaubte. Manchmal sah er Abraham durch die Straßen gehen, wankend als wäre er betrunken. Aber es war nicht der Schnaps, der seine Schritte unsicher machte, sondern alleine das verzweifelte Leben. Von Ost nach West, wenn man nicht weiß, wer oder was man ist. Lieder von Kurt Weill brummend, manchmal den Blick ungläubig zum Himmel gerichtet. Fünfzig Jahre lang die Straßen der Stadt gekehrt, so hatte Abraham immer mehr verloren und zum Schluss sich selbst. Wie eine Uhr oder ein Portemonnaie, für alle Zeit verloren.
Der alte Mann schniefte und wischte sich die Nase mit dem Mantelärmel sauber, hustete lange.
“Weine wie ein kleines Kind. Sollte mich was schämen. Und das zu Weihnachten.” Die falschen Zähne klackten laut aufeinander.
Vielleicht sollten sich ganz andere Leute schämen, dachte sich Frank, aber sprach es nicht aus, sondern strich stattdessen über Abrahams Kopf. Vor vier, fünf Jahren war Abrahams Frau an einem Schlaganfall gestorben, daran konnte sich Frank noch gut erinnern. Sie hatte tot im Bett neben Abraham gelegen. Auch daran, dass er danach versucht hatte, sich einfach tot zu rauchen. Sieben Schachteln Zigaretten am Tag, aber außer einer schweren Bronchitis war überhaupt nichts geschehen.
Draußen ratterte die Straßenbahn vorbei, Funken stoben empor. Ein Mann mit Hund auf dem Schoß saß im hinteren Abteil und schlief. Seine Träume waren hell und dunkel zugleich.
Während der Hund über das Gesicht des Schlafenden leckte, als wolle er ihn aus einem hundertjährigen Traum erwecken, begann es bereits heftiger zu schneien.

2

Eine halbe Stunde später waren sie alle angekommen. Zuletzt Paul, dem sie vor einem Jahr das Bein amputiert hatten, und der deshalb immer viel zu spät kam. Und weil er oft Schmerzen hatte, vor allem an den kalten Tagen, saß Paul dicht neben dem knackenden Gasofen in dem abgewetzten Stuhl, den Frank auf dem Sperrmüll gefunden hatte, und rieb sich die Hände.
Dann waren da noch Bloch und Blumenstein. Und natürlich Anna, die ja gar nicht selbst rauchte. Ihr Mann hatte geraucht, wie ein Schlot sogar. Frank konnte sich nur fahrig an ihren Mann erinnern, denn er war bereits seit über zwanzig Jahren tot. Dennoch kam Anna einmal in der Woche in den Tabakladen, um Zigaretten für ihren Mann zu kaufen. Immer eine Stange Camel und zwei Lotterie-Lose. Eines für sich, eines für ihren Mann. Der nie viel von Lotterie-Losen gehalten hatte.
Immer schon hatte Frank sie danach fragen wollen, was sie mit den Zigaretten-Stangen machte, aber jedes Mal kam ihm die Frage falsch vor. Als würde er danach fragen, weshalb die Leute auf den Friedhof gingen, wenn sie ja doch mit niemanden sprechen konnten.
“Soll ich das Fenster aufmachen, Anna? Frische Luft?” fragte Frank und schaltete die Kaffeemaschine ein. Später würden sie reichlich davon brauchen können, weit nach Mitternacht.
“Dann hole ich mir womöglich den Tod”, sagte Anna, schüttelte den Kopf und trank Schnaps aus einem Flachmann. Sie prostete dem lieben Gott zu, weil der liebe Gott manchmal mit ihr einen trank. Am Stehausschank, im Hautbahnhof.
Bloch zündete die Zigarette von Blumenstein an, und Blumenstein die Zigarette von Bloch. Rauchkringel stiegen zur Decke empor, Bloch kicherte.
“Also? Wer hat einen neuen Roman?” fragte Paul leise, nippte am billigen Wein und rieb seinen Beinstumpf.
Frank setzte sich neben Anna und fragte sich, wie das alles nur hatte passieren können. Wie all die Geschichten in ihre Köpfe gekommen waren. Zuerst in den Bauch und dann in ihre Köpfe. Obwohl er es ahnte, vielleicht sogar wusste. Gib den traurigen Menschen eine Geschichte, damit sie nicht umsonst weinen. Hatte das nicht Leibrand gesagt, oder hatte sich das Frank nur eingebildet. Auf jeden Fall hätte es Leibrand sagen können, soviel stand fest.

Ja, gib den traurigen Menschen eine Geschichte.
Und Beine zum Tanzen.
Von Ost nach West, taumelnd.
Bis der Schnee aufhört
vom Himmel zu fallen.

Frank selbst hatte sich vor Leibrand nie für Geschichten interessiert, hatte kaum Bücher gelesen. Aber dann war dieser merkwürdige Leibrand in seinen Laden gekommen, und alles war danach anders gewesen. Als hätte dieser Leibrand all die Geschichten in sie hineingeträumt. Im Hinterzimmer rauchend Bloch und Blumenstein, Anna mit ihrem Flachmann und Paul noch mit zwei Beinen. Die allesamt den Tag nicht mochten und deshalb warteten, bis der Abend kommen würde. Und mit dem Abend die Dämmerung, in deren Schattengeäst man sich auf den Weg nach Hause machen konnte. Zu den hungrigen Traumgestalten, die von einem Leben erzählten, das nie erreicht wurde.
“Ich habe zwei neue Romane und sieben Kurzgeschichten”, sagte Bloch und rieb sich die Nase. Früher einmal war er Lokführer gewesen, ein halbes Leben lang. Heute, mit weit über sechzig Jahren, saß er in einer der billigen Dachwohnungen am Ausläufer der Stadt, mit dem Rattengetrippel im Gebälk. Gerade noch Geld genug, um sich Zigaretten zu kaufen und billigen Schnaps. Denn wenn nichts mehr bleibt, dann folgt man den Rauchschwaden zum Himmel. Aus Alkohol, der fast schon blind macht, gemalt die Flügel, um die Wolken zu erreichen.
“Drei Mäuse-Bücher, jawohl. Drei Mäuse-Bücher”. Abraham schniefte, zog aus seiner Hose ein altes Taschentuch und schnäuzte laut.

mäuse1
“Dafür habe ich sieben Romane geschrieben”, sagte Blumenstein, und Bloch kicherte abermals, weil er Blumenstein sehr bewunderte. Blumenstein schrieb Bücher, die so eigenartig waren, dass man sie kaum lesen konnte und doch lesen musste, sobald man damit angefangen hatte.
“Um Himmels willen, sieben Romane?” fragte Bloch und ließ dabei Asche auf den Boden fallen.
“Eigentlich wären es mehr geworden, hab mir aber Zeit gelassen. Truman Capote hat es auch so gemacht, hab ich mal gelesen. Hat sich auch Zeit gelassen.”
“Natürlich. Salinger ja auch.”, sagte Bloch und hustete heiser. Vermutlich hätte er auch sieben Romane, wenn nicht sogar mehr, geschafft. Aber in den Sommermonaten war er obdachlos gewesen, weil er seine Arbeit als Hausmeister verloren hatte. Gott sei Dank hatte ihm sein Freund Harvey einen Job als Aushilfsbriefträger beschafft und sogar eine neue Schreibmaschine geschenkt.
“Hat jemand was verkauft?” fragte Anna und trank einen weiteren Schluck Schnaps. Anna schrieb jeden Tag ein neues Gedicht für ihren toten Mann, das wussten sie alle.
“Was für ein Witz”, lachte Blumenstein, zündete sich am Zigarettenstummel eine frische Zigarette an und zog seine Mütze vom Kopf. Abraham weinte wieder ein wenig.
“Ich hab eine Geschichte eingetauscht gegen warme Socken. Halten bei mir ja länger, die Socken”, sagte Paul und legte das hoch genähte Hosenbein über das Knie.
“Ist eine schlechte Zeit für merkwürdige Bücher. Das denke ich mir oft”, sagte Anna ohne aufzusehen. Sie blickte häufig zu Boden. Oder hinauf zum Himmel.
Frank zündete sich eine Zigarette an und dachte nach. Wann das alles begonnen hatte. Früher schon hatten sie sich am Weihnachtsabend hier getroffen. Getrunken und geraucht und von den Dingen erzählt, die weder wahr noch gelogen waren. Vielmehr einer eigenen, tieferen Wahrheit inne. Eigentlich nur, um nicht alleine zu sein, während hinter all den anderen Fenstern sich Menschen umarmten und miteinander glücklich waren. Aber nachdem Leibrand gefallen war, hatte sich alles irgendwie verändert. Nicht sofort, vielmehr langsam, zögerlich. Bis an einem Weihnachtsabend vor vielen Jahren Blumenberg gesagt hatte: “Ihr werdet es nicht glauben, aber ich habe einen Roman geschrieben. Ich weiß auch nicht warum, aber es ist so. Soll ich etwas vorlesen?”
Was war danach geschehen? Frank versuchte sich zu erinnern, aber die Bilder waren verschwommen. Unklar. Nur so viel wusste er heute noch: Aus ihnen allen war mehr geworden, als sie jemals gewesen waren. Jedes Wort aus Blumenbergs Mund hatte den Himmel näher gebracht. Hatte den alten Schmutz von den Wänden des Hinterzimmers verschwinden und das Licht der Neonröhre glänzen lassen. Aus den Hoffnungslosen waren traurige Leute geworden. Von einem Atemzug zum anderen.
“Ein Schneesturm. Da. Gut, dass wir einen Platz haben”, sagte Bloch in die Stille hinein und Anna nickte, ohne hinauszusehen.
Fahl das Licht der Straßenlampen, gebrochene Schatten auf dem Weiß der Straßen. Ein zitternder Hund, der kurz vor dem Laden stehen blieb und nach den wilden Flocken schnappte, bevor er im Schneetreiben verschwand.
“Wer will heute eine Geschichte erzählen?” fragte Paul und schloss seine Augen.
“Ich denke, es ist Zeit, euch von Nellie zu erzählen. Ja, das denke ich”, flüsterte Frank, zündete sich eine Zigarette an, blies den ersten Rauch zur Decke empor und begann mit ein wenig Zittern ums Herz herum mit seiner Geschichte.

Während sich Kinder hinter Weihnachtsbäumen versteckten.
Während sich zwei Liebende auf der Straßenseite gegenüber fest umschlangen, um nicht hinzufallen.
Und natürlich während der Wolfsmann in den Hinterhöfen lauerte, weil jemand zu viel an das Sterben dachte und nicht an das Leben.

Kapitel 3
Nellie

1

Es fing an, nachdem Leibrand aus dem Fenster gefallen war. Damals, aus dem Fenster des Krankenhauses, inmitten einer Winternacht. Die Lungen voller Krebs, der Kopf voller Träume.
Jeder Mensch fehlt. Und Leibrand fehlte Frank sehr. Vielleicht gerade deshalb, weil er ihn nicht besonders gut gekannt, sondern vielmehr gefühlt hatte.
Einige Wochen nach Neujahr, als es noch einmal so richtig geschneit hatte, war er schließlich hinunter gegangen zu jenem Krankenhaus mit den großen Fenstern und den schiefen Dächern. Obwohl er nicht gewusst hatte, was er dort suchte. Oder gar finden wollte. Mit den Gesprächen und den eigenen kleinen Wahrheiten, die man hören konnte, hatte es begonnen. Vor dem Krankenhaus, bei den Wartenden und den stillen Hoffnungslosen. Die mit Zigaretten zwischen den Fingern schlaflos die Kälte nicht mehr spürten. Auch Obdachlose, die sich zu ihnen gesellten wie streunende Katzen und über die eigenen Krankheiten jammerten. Von offenen Beinen und offenen Seelen. Von kaputten Herzen, die kein Katheter mehr reparieren konnte. Nicht einmal der beste Chirurg der Welt.
So war Frank im ersten Jahr dort draußen im Schein der fahlen Außenbeleuchtung dem sterbenden Beckett begegnet, der nie schlafen konnte wegen der schlechten Matratzen und den schlechten Träumen. Dem er schon am zweiten Tag Zigaretten mitgebracht hatte, weil er Stummel rauchte, die er in seinen Hosentaschen versteckt hatte, aus Angst vor den Schwestern. Lange Stunden bevor Frank den Tabakladen aufsperrte, suchte er diesen Ort auf, der eigentlich so hässlich war wie kein anderer, und doch auf eine magische Art und Weise schön.
“Es gibt überall Menschen, die tatsächlich unsichtbar sind. Wir haben sie unsichtbar gemacht”, hatte Beckett plötzlich gesagt und auf all die Rauchenden gezeigt. Dabei die Hose hochgezogen, die an ausgeleierten Trägern hing.
“Aber glaub ja nicht, dass sie nicht alle ein Geheimnis haben. Ein Geheimnis, dass es wert ist, daran zu glauben. Ja?”
Frank hatte genickt, wenngleich er es nicht verstanden hatte.
“Wir liegen alle da drinnen in den Betten und erfahren Dinge, die wir nicht wissen wollen. Dass wir sterben oder eigentlich schon tot sind. Und dann geschieht etwas. Soll ich es dir verraten?” hatte Beckett gefragt und Frank hatte genickt. Während der Schnee gefallen war und ihre Fußspuren überdeckt hatte, als wären sie niemals hier gewesen.
“Dann denkt man plötzlich an Dinge, die man längst vergessen hat. Keine großen Sachen.”
“An was hast du gedacht?” hatte Frank gefragt und zu Beckett geblickt.
“Ich? Ich dachte an meinen Elefanten. Auf einem Elefanten zu reiten. Das wollte ich immer schon. Als Kind war das mein guter Gedanke beim Einschlafen, das Gute-Nacht-Gebet. Auf einem riesigen Elefanten zu sitzen, um den Himmel anzufassen. Das funktioniert nur auf einem Elefanten, glaube es mir. Das habe ich wohl verpasst.”
Dann hatte Beckett gelacht, mit schiefen Zähnen und asthmatischen Atemzügen. Drei Tage später war Beckett gestorben. Herzstillstand, mitten in der Nacht, wie Frank von einem anderen Patienten erfahren hatte.
Dieses erste Geheimnis der unsichtbaren Menschen ließ Frank nicht mehr los, und lange Zeit wusste er nicht so recht, was er tun sollte. Der Winter ging und auch der Frühling. Mit der Schneeschmelze veränderten sich die Menschen vor dem Krankenhaus, und Frank ging nicht mehr dorthin, weil sie stumm wurden und auf den Sommer hofften. Und auf ein neues Leben.
Aber trotzdem dachte er jeden Tag an Beckett und seinen geträumten Elefanten, fragte sich, wie es wohl sei mit Wünschen, die nie in Erfüllung gingen. Nicht einmal über den Tod hinaus. Aber dann geschah an einem Augusttag etwas Merkwürdiges. Eine Parade zog plötzlich die Straße entlang, er konnte sie schon von Weitem hören. Das Geklapper und den Marktschreier, das Wiehern und die verbeulten Trompeten. Die Tür des Ladens weit offen, rannte Frank hinaus und sah einen traurigen Aufmarsch. Erschöpfte Pferde und zwei Clowns mit schiefen Nasen, ein dickbäuchiger Dompteur mit staubigem Zylinder auf dem Kopf. Ein kläffender Pudel, zwei längst müde gewordene Kamele. Die betrunkene Schönheit auf dem Zirkuswagen rief: “Nur heute in der Stadt, nur heute in der Stadt. Die pure Magie!” Seifenblasen, die zum Himmel stiegen und zu schnell zerplatzten. Aber auch ein Elefant, der mindestens schon zweihundert Jahre alt war und immer stehen blieb, als wolle er es nicht glauben, wohin die Reise geführt hatte.
Frank dachte nicht allzu lange nach, holte alles Geld aus der Kasse und lief der betrunkenen Schönheit nach. Durch Konfetti-Wolken und den schiefen Tönen des Trauermarsches, bezahlte ein Vermögen und fiel zweimal herunter, bevor Frank laut lachte und leise weinte.
Und ritt auf dem Elefanten, um den Himmel anzufassen. Nur einen Augenblick, aber lange genug, um herauszufinden, dass es gelingen konnte.
Und er dachte an Beckett mit den schiefen Zähnen.
Und er dachte an Leibrand.
Und schließlich an alle, die er längst vergessen hatte.

elefant1

 

2

“Du bist auf einem Elefanten geritten?” fragte Abraham und öffnete eine weitere Flasche Wein. Dichte Rauchschwaden hingen nahe der Zimmerdecke, und der Gasofen tuckerte leise. Die Lucky-Strikes-Neonwerbung im Laden flackerte und surrte.
“Ja, das bin ich tatsächlich. Zwar kein riesiger Elefant, aber immerhin. Ich denke, Beckett hätte es gefallen.”

“Ich bin mir sicher, dass es ihm gefallen hätte”, sagte Anna und klopfte an Franks Schulter. Sie trank den Flachmann leer und seufzte, weil sie zuviel getrunken hatte. Ihrem Mann gefiel gar nicht, wenn sie zuviel trank.
“Also ich hätte mich das nicht getraut”, sagte Bloch, und Blumenstein nickte.
“Frank ist ein mutiger Mann. Ja, das bist du”, sagte Anna und lächelte. Ihre Augen wässrig und hell. Sie strich über Franks Wangen, und er roch ihren Atem und den Schnaps. Roch ihr nahes Sterben.
“Aber du wolltest von Nellie erzählen, nicht wahr?” Bloch stand auf, ging in den Laden und holte sich aus dem großen Glas ein Briefchen Gratis-Streichhölzer. Eigentlich hatte Frank noch die Weihnachtsgirlanden aufhängen wollen, aber es genauso vergessen wie den Baum. Er sah nach draußen und betrachtete die Welt, die still geworden war. Still und langsam. Hell erleuchtet die Fenster, einzig und alleine ein Zeitungsverkäufer, der sich verlaufen hatte.
“Ja, Nellie. Natürlich, Nellie.”
Und so erzählte er weiter.

3

Zwei Winter später begegnete Frank um vier Uhr morgens vor dem Krankenhaus Jonas aus dem Walfischbauch. Jedenfalls nannte sich der Mann so. Jener Mann mit dem riesigen Bauch und dem schmalen Gesicht, den wenigen Haaren auf dem Kopf und den zittrigen Händen.
“Mich hat der Wal zu spät ausgespuckt. Zu spät, zu spät, zu spät!”
“Ja?” Frank gab ihm eine Zigarette. Jonas versuchte sie anzuzünden, was ihm nicht gelang. Er fluchte leise.
“Manchmal ist es zu spät. So ist das Leben. Manchmal hat man Glück, und manchmal entwischt einem das Glück. Hier.” Jonas aus dem Walfischbauch zog aus seiner schmutzigen Jacke eine Fotografie. Frank sah sich das Bild an, eine junge Frau mit dunklen langen Haaren und einer kleinen Narbe auf der Stirn. Die junge Frau lächelte.

plakat1

“Das ist Nellie. Meine Nellie.”
“Was ist passiert? Wegen der Narbe?” Frank hatte gar nicht fragen wollen, aber doch waren ihm die Worte entwischt, als er die Fotografie in die Hände nahm.
“Mit sieben Jahren ist sie vom Kirschbaum im Garten gefallen. Sie wollte hinauf, um die Wolken anzufassen. Was hat sie geschrien. Und was hatten wir Angst um sie. Angst um Kinder ist das Schlimmste, was es gibt.”
“Sie hat es überstanden”, flüsterte Frank und lächelte. Weiße Atemwolken über ihren Köpfen.
“Drei Jahre später ist ihre Mutter gestorben. Meine Frau. Ein Unfall, ich bin gefahren. Sie war nüchtern, weil sie nie etwas getrunken hat. Ich war nicht nüchtern, natürlich nicht. Ich weiß bis heute nicht ganz genau, was passiert ist. Als ich aufgewacht bin, lag sie da im Maisfeld. Neben dem Auto. Ihre Augen ganz weit offen und die Haare ganz voller Blut, als hätte sie sich heimlich die Haare gefärbt. Ganz schief der Kopf. Mein Gott, so hässlich schief. Außer blauen Flecken ist mir damals gar nichts passiert. Aber dann schon. Dann kam der Wal und verschluckte mich. Ganz tief hinein in den stinkenden Bauch mit den klirrenden Flaschen. Immer nur Schnaps, den ganzen Tag. Und Matrosenlieder, ganz leise. Piraten, die auf dem Wal getanzt haben.”
“Was ist mit Nellie geschehen?”
“Ich weiß es nicht”, sagte Jonas und schüttelte den Kopf. Zog an der Zigarette, hustete, wischte sich über den Mund. Frank sah hinunter und sah den Katheter-Beutel an seiner Hose hängen.
“Du weißt es nicht?” Frank schlug den Mantelkragen hoch und wischte sich den Schnee vom Gesicht.
“Sie ist verschwunden. Das Amt hat sie abgeholt, und sie ist einfach verschwunden. Das ist alles, was ich weiß. Nellie. Weiß ja nicht einmal, wie lange das nun alles schon her ist. Hat es bestimmt besser gehabt, sonst hätte sie vielleicht auch der Wal verschluckt.”
“Ja, vielleicht.”
“Im Walfischbauch sind auch die Ungeheuer. Die eigenen. Im Schatten warten sie auf einen. Warten solange, bis man schläft. Hast du noch eine Zigarette?”

wal1
Frank gab ihm das angerissene Päckchen, und Jonas nickte. Frank fragte sich, wie lange der Mann noch zu Leben hatte. Wie viele Atemzüge noch in ihm waren, und was ein Leben überhaupt war. Einige Straßen weiter hörten sie einen Krankenwagen die Stille des frühen Morgens durchbrechen. Jemand lachte, jemand hustete. Zwei Männer in dreckigen Morgenmänteln und nassen Schuhen schüttelten den frischen Schnee von dem Weihnachtsbaum neben der Krankenhaustür, weil sie nichts Besseres zu tun hatten.
“Und dann, vor ein paar Tagen kam ein Brief von Nellie. Mit dem Bild. Weihnachten macht die Menschen anders, das glaube ich. Vielleicht hat sie wieder einmal an mich gedacht. Einfach so. An ihren kaputten Vater.” Er lachte, die Zigarette fiel aus seinem Mund in den Schnee, ohne dass er es bemerkte.
“Sie will mich besuchen, hat sie geschrieben. Und ob es mir gut geht. Und dass wir vielleicht Silvester zusammen verbringen könnten. Ja, das hat sie geschrieben. Kann man sich das vorstellen? Auf ein ganz neues Jahr.”
Der Krankenwagen schlitterte die Auffahrt hoch und kam zum Stehen. Türen wurden aufgerissen, die zwei Männer in den Morgenmänteln verschwanden im Tumult. Aus dem Krankenhaus lief ein Arzt, der seinen Schuh verloren hatte. Das Maul des Krankenwagens öffnete sich. Auf der Liege ein Junge mit tausend Schläuchen und schneeweißer Haut. Jemand schrie laut.
Der Junge ist keine zehn Jahre alt und der Junge ist tot, dachte sich Frank und fror plötzlich, ganz tief drinnen.
Menschen über dem Jungen. Beatmungsbeutel, das Zischen des Sauerstoffes. Blut, das in eine Infusionsflasche zurücklief. Die Liege, die zu Boden krachte und zitternde Hände, die auf den Brustkorb des Jungen drückten. Immer und immer wieder. Spritzen, Ampullen und noch mehr Schläuche. Zersplittertes Glas am Boden. Atemwolken über allen Gesichtern, aus allen Mündern. Nur nicht aus dem Mund des Jungen, der mit offenen Augen zum Himmel starrte, als würde er alles sehen können.
“Jonas?” Frank sah sich um, doch Jonas war verschwunden.
Alles verlangsamte sich, jede Bewegung. Jeder Schneefall. Und schließlich hörte alles auf, wie das Leben des Jungen.

4

“Hast du ihn je wiedergesehen? Jonas aus dem Walfischbauch?” fragte Bloch und holte sich als Erster eine Tasse Kaffee. Frank sah hoch zur Uhr, die über der Tür hing. Nicht mehr lange und es würde Mitternacht sein. Er schüttelte den Kopf.
“Aber du hast nach ihm gesucht, so ist es doch?” fragte Abraham und knüllte das leere Zigaretten-Päckchen zusammen. Schob es in seine Hosentasche.
“Ich ging die nächsten Tage zum Krankenhaus, ja. Habe auf ihn gewartet. Eine Weile habe ich mir überlegt, nach ihm zu fragen. Aber das kam mir irgendwie falsch vor.”
“Weil er vielleicht wieder in dem Walfischbauch ist” sagte Anna und holte sich auch einen Kaffee. Suchte Milch und Zucker, fand aber beides nicht. Am Türrahmen blieb sie kurz stehen und betrachtete die Welt da draußen. Mit den Schneeverwehungen und den Windböen. Mit den Hoffnungen und den Traurigkeiten, die zum Himmel stoben.
“Ja. Weil ihn vielleicht der Wal dieses Mal ganz gefressen hat. Oder die Ungeheuer in dem Wal, wer weiß das schon”, sagte Frank und lächelte unbeholfen. Ein Streichholz flammte auf.

5

Jonas war verschwunden und verschluckt. Alles, was Frank geblieben war, waren seine Worte und die Fotografie von Nellie. Der schönen jungen Frau mit der Narbe auf der Stirn. Die Nächte durchzogen von eigenartigen blauen Träumen, dass etwas nicht erfüllt worden war; eine Hoffnung. Warum hatte der eigenartige kranke Mann das Bild nicht wieder an sich genommen? Frank dachte lange Zeit darüber nach, immer wieder. Vielleicht, weil man im Angesicht des Sterbens manchmal bis auf den Grund einer Seele sehen kann und er Frank vertraut hatte, das Richtige zu tun.
Und vielleicht lag es an der früheren Begegnung mit Leibrand, dass Frank sich entschloss, sich tatsächlich auf die Suche zu machen. Das Leben zu verändern, die dunklen Wege auszuleuchten. Endlich.
Wir alle hoffen auf ein gutes Leben, dachte sich Frank, und so war es auch. In seinen losen Träumen stellte sich Frank vor, dass Nellie sich ebenso auf die Suche machte. Nach dem Walfisch und den Gesängen, nach ihrem Vater und seinen Geschichten, die sie nie gehört hatte. Und dann hatte Frank schließlich doch noch eine Idee, die gut genug war, um ein Schicksal zu wenden.
Zwei Tage vor Silvester wurde Frank irgendwie zu Jonas aus dem Walfischbauch. Es geschah plötzlich, von einem Augenblick zum anderen. Er ging nach oben und zog sich einen Mantel seines Vaters an, der ihm viel zu groß war. Dann noch eine seiner Mützen, die er manchmal aufgezogen hatte als Kind, um sich erwachsen zu fühlen. Und er fühlte sich anders.
“Wir sind das, für was wir uns halten”, sagte er zu sich und ging die Straße hinunter zu dem Fotografen, der manchmal in den Tabakladen kam, um sich frische Zigarillos zu kaufen. Siebenundvierzig Abzüge der Fotografie wie siebenundvierzig Herzschläge, tief versteckt. Fürs Erste eine gute Zahl. Wankte davon und lauschte den Piratengesängen aus den Hinterhöfen, die man tatsächlich hören konnte, wenn man mit den richtigen Ohren zuhörte. Verschwand in Bars und dunklen Wirtstuben. Erzählte von einem guten Leben und wunderschönen Geschichten. Von der großen Sehnsucht nach einer Tochter. Nach Nellie.
“Ich kann ihnen erzählen, woher die Narbe kommt”. So fing Frank meistens an, und dann erzählte er von dem Kirschbaum und verwebte das geheime Leben von Jonas aus dem Walfischbauch mit der Wahrheit. Phrasierte von seinen unglaublichen Reisen, von seinen Erlebnissen in Brooklyn, Paris und Alaska. Dort überall hatte er Nellie gesucht, natürlich, und sie immer wieder verpasst. Hatte sie jeden Herzschlag lang vermisst. Träumte sich das Leben des fremden kranken Mannes auf dem Krankenhausvorplatz zurecht. Der Liebe wegen. Weit über den Tod hinaus.
Erzählte von den vielen Briefen, die er nie abgeschickt hatte, weil kein Wort das alles erklären hätte können. Von den vielen Büchern, die er für seine Tochter geschrieben hatte. Geschichten über Mäuse. Geschichten, die so schön waren, dass man sie lesen musste. Auch Gedichte, natürlich auch Gedichte. Nur für Nellie, ein ganzes Leben lang nur für Nellie. Die nicht da gewesen war und er nicht bei ihr.
So lange, bis Frank die Walfischgesänge hören konnte und er an seinen Vater denken musste, der bestimmt auch ein anderes Leben hinter dem eigentlichen Leben gehabt hatte. Eines, das nie erreicht worden war, so sehr sich sein Vater auch angestrengt hatte. Musste an den Jungen denken, der aus dem Maul des Krankenwagens gefallen war und zu einem Engel wurde, noch bevor er sich zum ersten Mal in seinem Leben hatte verlieben können.
Und so geschah es, dass Nellies Bild in Bars hing, in den kleinen Läden der Seitenstraßen, in Wirtstuben, in zahlreichen Buchläden und in U-Bahnhöfen. Sogar in zwei Kirchen, gleich neben Jesus Christus. Allein nur, weil die Menschen so angetan waren, von der Liebe und dem Begehren, dem Unausgesprochenen eine Stimme zu geben. Der Vermissten ein Gesicht zu geben und dem Suchenden eine Geschichte.
Eines Tages würde Nellie sicher an den richtigen Ort kommen und jemand würde sich an die Gespräche erinnern. Würde erzählen von dem Mann in einem viel zu großen Mantel und einer albernen Mütze, der sie gesucht hatte. Von ihr gesprochen hatte.
“Ja, Jonas hat der fremde Mann geheißen. Jetzt wo Sie es sagen. Die Narbe. Sie sind von einem Kirschbaum gefallen, nicht wahr?”, würde dieser Jemand sagen und dann beginnen zu berichten. Von dem geheimen Leben und den Träumen. Nellie würde vielleicht glücklich sein können, entschwindend das Bild ihres betrunkenen, nutzlosen Vaters. Weil in jedem Menschen etwas steckt, das wir nicht zu sehen vermögen. Tief im Bauch verborgen, wie einst Jonas im Walfischbauch.

Jemand wartet auf dich.
Vielleicht sogar ein Leben lang,
nie erfüllter Kuss.
Herr, sei uns gnädig,
damit wir nicht vergessen sind.
Schick uns einen Traum,
so himmelblau wie der Himmel
in einer guten Zeit.

Kapitel 4
Im Schneesturm tanzen die Gespenster

1

“Du verteilst die Fotografien immer noch, habe ich recht? Und mit dem Bild die Geschichten, die von ihr handeln”, fragte Blumenstein, schaltete die Kaffeemaschine aus und goss sich den bitter gewordenen Rest in ein Glas. Dean Martin sang von Wintertagen aus dem Radiogerät.
Frank nickte. “Ja, immer an den letzten Tagen des Jahres. Ich bin es ihm schuldig, irgendwie. Und Nellie auch.”
“Hast du sie jemals gesehen?” Paul zog aus seiner Hosentasche einige Schmerztabletten, legte sie auf die Zunge und schluckte sie hinunter.
“Das ist eine merkwürdige Sache, müsst ihr wissen. Manchmal nämlich glaube ich sie zu sehen. Oder möchte ich es glauben. Damit nichts umsonst ist. Manchmal sehe ich Nellie die Straße hinunter gehen oder auf den nächsten Bus warten. Ich schwöre, sie könnte es sein. Mit der Narbe auf der Stirn und den wunderschönen Haaren. Und sie lächelt. Lächelt so, als hätte sie gerade etwas Wundervolles gehört. Etwas, das sie vermisst hatte. Jedenfalls wünsche ich es mir, dass es so sei. Vielleicht ist es auch gar nicht Nellie, die ich sehe.”
“Aber vielleicht ist sie es doch”, sagte Anna, lächelte und dachte an ihren Mann. Den sie ja in manchen Nächten hören konnte. Draußen in der kleinen kalten Küche. Wenn er sich einen späten Kaffee kochte, weil er nicht schlafen konnte.
“Ja, vielleicht”, flüsterte Frank und dachte an den Stapel der Fotografien, die im Laden in einem Karton neben den Zigarettenstangen lagen.
“Vielleicht hat das alles Leibrand gewusst. Und wir schreiben deshalb Geschichten, die niemand verstehen kann. Außer wir. Und vielleicht außer Nellie. Das würde ich ihm zutrauen.” Abraham strich den Aschenbecher glatt und blickte in das leere Glas und sah ein Meer mit Möwen am Himmel. Dieses Mal weinte er nicht.
“Und das wäre doch schön”, sagte Bloch, lächelte.
“Ja. Nellie. Was für ein wunderbarer Name. Erzählst du uns von ihr? Nicht über sie, sondern von ihr? Du weißt doch alles” fragte Blumenstein, der sein altes Notizbuch herausgezogen hatte.
“Wir haben immer für sie geschrieben, nicht wahr? Für immer und vielleicht für alle Zeit”, flüsterte Paul und dachte an Leibrand. Der immer für das Leben und die Liebe gefallen war.
“Ich kann ja auch mal Gedichte nur für Nellie schreiben. Das würde mein Mann verstehen.”

2

Frank drehte sich noch einmal um, als er die Ladentüre schloss, um sich auf den Weg zu dem chinesischen Imbiss zu machen. Es war weit nach Mitternacht und die einzige Möglichkeit noch etwas zu Essen zu bekommen. In seinen Hosentaschen zählte er die Münzen und schlug den Kragen seiner Jacke hoch. Ganz leise konnte er die Stimmen seiner Freunde noch hören, so leise wie das Walfischsingen aus den fernen Straßen. Eiskalt die Luft, atmete er sie tief ein. Der Schneesturm hatte nachgelassen, die letzte Straßenbahn kroch langsam über die Kreuzung. Windböen bliesen Schneegestalten nach Osten. Losgerissene Weihnachtsgirlanden lagen wie schlafende Schlangen auf der Straße.
Sie würden zusammen essen, frischen Kaffee brühen und vielleicht würde er etwas von Nellie erzählen. Etwas Erträumtes, helle Episoden. Plötzlich glaubte Frank seinen Namen gehört zu haben, ganz leise, aber er hatte sich getäuscht. Blickte trotzdem hinüber zu dem Waschsalon, bei dem auch immer noch Licht brannte. Martha, die vielleicht wegen der Morphium-Tabletten eingeschlafen war. Aber dann öffnete sich die Tür, und er sah Martha. Noch bevor er nachdenken konnte, überquerte er die Straße, schlitterte über die Schneeverwehungen und fiel beinahe hin. Kaum in ihrer Nähe, roch er ihr Parfüm, und er musste lächeln.
“Frohe Weihnachten, Martha.” Den Lippenstift zittrig aufgetragen, lächelte auch sie.
“Frohe Weihnachten, Frank. Auch dir.” Sie zog aus ihrer Schürzentasche eine Zigarette, zündete sie an. Der Schnee machte ihre Haare weiß und nass. Sie lächelte.
“Du hast noch Kundschaft?” fragte Frank und blickte an ihr vorbei. Im Laden eine Frau mit unglaublich roten Haaren. Die rötesten Haare, die er jemals in seinem Leben gesehen hatte. Wie Feuer.
“Ja. Jedes Jahr am Weihnachtstag. Immer sie. Immer das gleiche Kleid. Ich mag sie sehr. Vielleicht gerade deshalb.”
“Ja?”
“Ja. Sie braucht das Kleid für Amerika, sagt sie. Weiß Gott, ob das stimmt, aber das ist egal.”
Frank sah abermals hin und fragte sich, woher er die Frau kannte. Es war nicht Nellie, natürlich nicht. Hatte er Leibrand von ihr erzählen hören, damals im Laden, nachdem er aufgewacht war?
“Jeder hat einen Traum”, flüsterte Martha und berührte Frank am Arm.
“Was hältst du davon, wenn du jetzt endlich deinen Laden zumachst, und wir holen uns etwas zu essen? Weil Weihnachten ist. Drüben warten meine Freunde, und sie würden dich bestimmt gern kennenlernen. Wir erzählen uns ein paar Geschichten.”
“Aber doch keine Geschichten, die sich alte Männer gern erzählen, oder?”
Frank lachte. “Sie werden dir gefallen, glaube es mir. Geschichten von Walfischen, Piraten. Und Mäusen.” Ohne darüber nachzudenken, beugte er sich vor und küsste ihre Wange. Martha berührte die Stelle und berührte dann seine Wange. Er nahm ihre Hand.
Die Frau mit den unglaublich roten Haaren strich aus der Tür, in ihren Händen den Karton mit ihrem Lieblingskleid. Sie hatte geweint, das sah Frank. Roch ihr Parfüm, von dem ihm schwindlig wurde. Hinter seinen Augen sah er Leibrand auf die Frau warten.
“Bis nächstes Jahr, Suzanne”, sagte Martha und winkte ihr solange, bis sie nicht mehr zu sehen war. Eine Sekunde lang glaubte Frank den toten Jungen dort stehen zu sehen, an jener Ecke, an der die Frau verschwunden war. Aber er blinzelte und niemand war dort. Außer Schneegespenster im Nachtwind.
“Manches Mal glaube ich, dass der Schnee nicht schmilzt auf ihren Haaren. Kannst du dir das vorstellen?” fragte Martha, holte ihren Mantel und machte das Licht aus.
Und natürlich konnte sich das Frank vorstellen.

Letztendlich konnte er sich alles vorstellen.

Text: Copyright © 2014 by Richard Lorenz
Illustrationen: Copyright © 2014 by Hanna-Linn Hava
Lektorat: Frank Duwald

Interview mit dem Verleger Joachim Körber zu „Amerika-Plakate“ von Richard Lorenz

Joachim Körber ist eine echte Institution in der Verlagswelt. Sein Verlag Edition Phantasia existiert seit dreißig Jahren und startete zunächst ausschließlich mit wohlfeilen streng limitierten Ausgaben prominenter Autoren. Das Verlagsprogramm umfasst inzwischen aber auch zahlreiche nicht-limitierte Bücher, darunter z.B. in deutschen Erstausgaben neuere Titel von Ray Bradbury, die nicht mehr bei Diogenes erscheinen sind. Relativ neu ist der Hardcover-Imprint kuk, der uns mit Amerika-Plakate von Richard Lorenz dieses Jahr einen herausragenden Roman beschert hat.

Körber
Foto: Hannelore Körber

FRAGE

Wenn ich mir vorstelle, Verleger zu sein und eines Tages ein Manuskript wie Amerika-Plakate im Briefkasten hätte … Wie war deine erste Reaktion auf den Roman?

JOACHIM KÖRBER

Also, zuerst einmal muss ich natürlich sagen, dass ich eine Menge Manuskripte bekomme, und die meisten davon sind leider wirklich schlecht. Fairerweise lese ich meist die erste Seite, das gibt einem schon einen Überblick, ob das eingereichte Manuskript was taugt. Wenn es stilistische und grammatikalische Mindestanforderungen erfüllt, lese ich noch etwas weiter, aber bei den meisten höre ich dann doch auf Seite zwei oder drei auf. Bei Amerika-Plakate habe ich schon auf der ersten Seite gemerkt, dass ich hier etwas auf dem Tisch habe, das es wert ist, genauer in Augenschein genommen zu werden, habe also weitergelesen und irgendwann festgestellt, dass ich schon auf Seite vierzig war! Ein Manuskript wie dieses bekommt man wirklich selten. Mich hat von Anfang an die sehr zarte, melancholische Grundstimmung angesprochen, natürlich auch die Tatsache, dass viel Popmusik drin vorkommt – die ja neben der Phantastik mein zweites großes Steckenpferd ist.
Es gibt eine Menge deutschsprachige Autoren, die – so sehe ich das jedenfalls – haben gute Ideen, sind aber keine überragenden Stilisten. Und es gibt einige wirklich herausragende Stilisten, die aber in manchen Fällen einfach nichts zu sagen haben. Amerika-Plakate vereinigt beides in sich, einen guten, durchdachten Schreibstil und eine schöne Geschichte. Ich bin froh, dass ich dieses erstaunliche Debüt veröffentlichen durfte und wünsche Richard Lorenz von Herzen Erfolg. Verdient hätte er ihn.

FRAGE

Glaubst du denn, dass Richard Lorenz eine realistische Chance auf Erfolg hat? Das, was er schreibt, ist nun wirklich sehr weit vom bestsellertauglichen Mainstream entfernt. Was würdest du ihm als erfahrener Verleger und Szene-Kenner raten, um das Größtmögliche an Erfolg für das Buch herauszuholen?

JOACHIM KÖRBER

Das ist eine gute Frage. Wenn ich recht informiert bin, hat Amerika-Plakate ja eine lange Odyssee durch verschiedene literarische Verlage hinter sich, deren Lektoren das Buch zwar allen sehr gefallen hat … aber keiner wollte es publizieren, da ihm niemand das Verkaufspotenzial zugetraut hat. Da habe ich es mit der Edition Phantasia natürlich sehr viel leichter. Ich muss zwar auch versuchen, mit meinen Büchern Geld zu verdienen, aber was meine Verkaufserwartungen angeht, liegt die Messlatte längst nicht so hoch wie in den großen Literaturverlagen oder gar den großen Publikumsverlagen, wo ja heutzutage, hat man manchmal den Eindruck, nichts mehr zählt als der Mammon. Ich muss kein Büro und kein Lager finanzieren, das mich jeden Monat Zehntausende kostet, und insofern bin ich schon mit deutlich geringeren Absatzzahlen zufrieden.
Dennoch muss ich natürlich sagen, dass das Buch tatsächlich „weit vom bestsellertauglichen Mainstream entfernt“ ist. Trotzdem war und bin ich der Meinung, dass man Literatur – und Kunst allgemein – nicht unbedingt ausschließlich nach kommerziellen Kriterien bemessen sollte. Ich entsinne mich, dass im Spiegel einmal jemand – ich meine, es war Hendryk Broder, bin aber nicht mehr sicher – schrecklich gegen die großen deutschen Theater und die Milliarden an Steuersubventionen gewettert hat, die sie verschlingen. Als Gegen- und Musterbeispiel führte er eine Aufführung des Weißen Rössl am Wolfgangsee auf, die irgendwo seit Jahrzehnten läuft und sich durch die Einnahmen trägt. Ich fand das einen ausgesprochen törichten Essay, denn ohne die Theatersubventionen würden wir dann irgendwann nur noch das Weiße Rössel oder Peter Steiners Theaterstadl zu sehen bekommen … und das kann ja wohl niemand ernsthaft wollen.
Mit der Literatur verhält es sich nicht anders. Darum bemühe ich mich, Bücher zuerst einmal nach literarischen Kriterien zu bewerten, und wenn mich ein Buch so packt wie Amerika-Plakate, dann mache ich es. Und wenn, dies als abschließende Bemerkung, ein kleiner Verlag wie meiner sagen kann, dass er ein Buch macht, auch wenn er am Ende vielleicht ein wenig draufzahlt, weil sich das angesichts stabiler Backlistumsätze dennoch irgendwie rechnet, dann sollte das einem großen Verlag, der Millionen umsetzt, an sich zweimal möglich sein.

FRAGE

Wie lief die Zusammenarbeit mit Lorenz ab? Hast du einfach sein Manuskript lektoriert und veröffentlicht oder gab es Gespräche und Diskussionen bezüglich des Textes?

JOACHIM KÖRBER

Da muss ich den Autor zuerst einmal loben … das Manuskript war nahezu perfekt, wie ich es bekommen habe. Das Lektorat hat sich hier tatsächlich mehr oder weniger darauf beschränkt, ein paar Tippfehler auszubügeln und einige Wortwiederholungen und dergleichen auszumerzen. Aber natürlich habe ich alle Änderungen mit dem Autor entweder per E-Mail oder am Telefon diskutiert.

FRAGE

Habt ihr euch persönlich kennengelernt oder ist Amerika-Plakate ein reiner E-Mail-Deal?

JOACHIM KÖRBER

Persönlich kennengelernt haben wir uns bisher leider noch nicht … es war tatsächlich zuerst einmal ein reiner E-Mail-Deal. Als ich dann gesagt habe, dass ich das Buch definitiv herausbringen werde, haben Richard Lorenz und ich gelegentlich telefoniert, was wir bis heute machen – und natürlich stehen wir über Facebook in Kontakt. Persönlich kennenlernen werde ich ihn hoffentlich im Dezember, wenn er mit dem Schauspieler und Autor Gregor Weber eine Lesung in München veranstaltet, die ich besuchen möchte.

FRAGE

Können wir unter dem kuk-Imprint zukünftig mit weiteren derartigen Entdeckungen rechnen?

JOACHIM KÖRBER

Das kommt darauf an – wenn ich wieder ein ähnlich gutes Manuskript bekomme, warum nicht? Ich bekomme ja schon eine ganze Menge Manuskripte angeboten, aber das meiste davon, muss ich leider sagen, taugt herzlich wenig. Und man muss auch weiter bedenken, dass ein winziger Ein-Mann-Verlag wie ich natürlich kaum finanziellen Spielraum für Werbung usw. hat, wodurch es einigermaßen schwer ist, neue, unbekannte Autoren am Markt zu etablieren. Dennoch, wie gesagt: Wenn mich wieder einmal ein Text so packt, warum nicht?

FRAGE

Was das Etablieren unbekannter Autoren am Markt anbelangt, widerspricht das merkwürdigerweise den Erfahrungen, die ich mit meinem Blog dandelion gemacht habe. Meine Rezension zu Amerika-Plakate hatte am ersten Online-Tag ca. die vierfache Klickrate als z.B. meine Besprechung zu Das Haus mit den sieben Giebeln von Nathaniel Hawthorne, das bei Manesse erschienen ist. Wenn man das als Maßstab nimmt, müsste ja Manesse deutlich weniger verkaufen als du. Kannst du dir das erklären?

JOACHIM KÖRBER

Das rührt jetzt an eine ganz grundsätzliche Diskussion, die ich ständig mit Autoren und Kollegen führe. Meiner Meinung nach ist das mit den Internet eine zwiespältige Sache. Grundsätzlich sagt die Anzahl von Klicks natürlich nichts über den kommerziellen Erfolg von etwas aus. Aus meiner persönlichen Erfahrung kann ich nur sagen: Wenn ich für ein Buch eine Besprechung in einem großen, meinungsbildenden Printmedium bekomme, Spiegel, Zeit, Süddeutsche, FAZ usw., dann gehen in den Tagen danach die Verkaufszahlen durch die Decke. Bei Besprechungen im Internet passiert meistens rein gar nichts … jedenfalls nicht unmittelbar. Manesse wird mit Sicherheit mehr Bücher verkaufen als ich, aber wir haben es hier auch mit zwei verschiedenen Dingen zu tun: Das Haus mit den sieben Giebeln ist ein Klassiker, und die ernten – das ist eine Branchenerfahrung – meist nicht dasselbe Interesse wie Neuerscheinungen. Amerika-Plakate ist natürlich im Moment durch die für mich erstaunlich große Zahl sehr überschwänglicher Rezensionen sehr viel präsenter als ein Autor wie Hawthorne. Das geht aber – wiederum aus meiner Erfahrung – vorüber … leider. Klassiker wie Hawthorne, Lovecraft usw. sind etabliert und werden immer irgendwie präsent sein, während neue Autoren, auch wenn sie vorübergehend ein hohes Maß an Aufmerksamkeit generieren, doch leider oft auch wieder verschwinden. Ich hoffe, dieses Schicksal bleibt Richard Lorenz erspart.

FRAGE

Welche Bücher aus dem Gesamtprogramm der Edition Phantasia kannst du den Lesern empfehlen, denen Amerika-Plakate gefallen hat?

JOACHIM KÖRBER

ALLE! Nein, das war natürlich ein Scherz. Aber ich würde sagen, wer Ray Bradbury schätzt, der dürfte Amerika-Plakate mögen, also kann ich die Bücher von Bradbury in meinem Programm durchaus empfehlen. Und mit den literarisch ebenfalls recht anspruchs- und gehaltvollen Titeln von Stefan Blankertz wäre man wohl auch nicht schlecht beraten, obwohl Dein Name sei Menschenfischer natürlich keine Phantastik ist.

FRAGE

Könntest du dir vorstellen, bei passenden Randbedingungen ein weiteres Buch von Richard Lorenz zu publizieren?

JOACHIM KÖRBER

Das könnte ich mir durchaus vorstellen. Sein Kinderland ist ja bisher „nur“ als E-Book-Serie erschienen … und wie man weiß, sind E-Books ja keine richtigen Bücher. [lacht] Nein … ehe jetzt ein Sturm der Entrüstung losbricht, auch das war ein Scherz! Trotzdem … davon eine schöne Print-Ausgabe wäre denkbar.
So paradox es vielleicht erscheinen mag, aber an sich wünsche ich Richard Lorenz natürlich, dass er es bald gar nicht mehr nötig hat, in einem Verlag wie meinem zu veröffentlichen, sondern einen großen Verlag findet, der mehr finanzielle Power im Rücken hat und ihm und seinen zukünftigen Büchern die Publikumsaufmerksamkeit sichern kann, die sie verdient hätten!

FRAGE

In diesem Fall bestünde aber die Möglichkeit, dass Richard Lorenz von genau so einem Verlag versaut, sprich kommerzialisiert wird.

JOACHIM KÖRBER

Die Gefahr besteht natürlich. Letztendlich kommt es dabei aber in erster Linie auf den Autor an und in welchem Maße er sich kommerzialisieren lässt. Ich habe vor Jahren einmal einen Werkstattbericht gelesen, wie ein Lektor eines großen, angesehenen Literaturverlages sich das Manuskript eines deutschen Autors (ich will hier keine Namen nennen, aber er ist durchaus ein „Darling“ des Feuilletons und im Literaturbetrieb sicher kein ganz Unbekannter) vorgenommen und dem Autor diktiert hat, was er wie zu ändern und umzuschreiben hätte. Am Ende kam ein Buch heraus, das kaum noch etwas mit dem ursprünglichen Manuskript zu tun hatte. Ich fand das ziemlich grässlich; es wurde unter dem Motto veröffentlicht, „wie Literatur entsteht“, und es kam so rüber, als wären die Literaten ja ohne ihre Lektoren gar nichts. Ich hätte mir so gravierende Eingriffe in meinen Text jedenfalls nicht gefallen lassen … und dann auch noch stolz Auskunft darüber gegeben. Ich weiß aus Gesprächen mit Richard Lorenz, dass er Angebote einiger Literaturverlage hatte, das Buch zu veröffentlichen … wenn er dies oder das umschreiben, das ganz rausnehmen und dafür mehr von dem da einfügen würde. Er ist stur geblieben und hat diesen Versuchungen widerstanden, und ich denke, das wird ihm auch weiterhin gelingen – hoffe ich. Natürlich muss man ab und an Kompromisse machen, und es ist sicherlich so, dass Lektoren, die einem Text distanzierter gegenüberstehen als man selbst, einem wertvolle Tipps geben können … aber ein Buch, das der ursprünglichen Absicht mehr oder weniger diametral entgegengesetzt ist, sollte dabei nicht rauskommen. [grinst]

Homepage der Edition Phantasia

Interview mit Richard Lorenz

Mit Richard Lorenz hat ein Ausnahmetalent die Buchwelt betreten. Sein erster Roman Amerika-Plakate ist im Frühjahr bei kuk, einem Imprint der legendären Edition Phantasia, erschienen und zeigt einen Autor, dessen Phantasie keine Grenzen zu kennen scheint.

lorenz1
Copyright © 2014 by Deliah Lorenz

FRAGE

Für mich bist du mit Amerika-Plakate wie aus dem Nichts auf der Literatur-Bildfläche erschienen. Wie sieht deine Schriftsteller-Vita bis zur Veröffentlichung dieses Romans aus?

RICHARD LORENZ

Eigentlich habe ich keine klassische Autoren-Vita. Zwar habe ich immer wieder veröffentlicht, jedoch ausschließlich Short-Storys. Angefangen vor zwanzig Jahren, zu Beginn stark geprägt von Stephen King. Vor zwanzig Jahren jedoch galt King noch als Schundliteratur, die in Bahnhofskiosken verkauft wurde.
Von Zeit zu Zeit habe ich bei Printmedien, also Tageszeitungen, publiziert. 1996 dann eine Short-Story-Sammlung bei einem Druckkostenzuschuss-Verlag, da man damals noch nicht wirklich gut informiert war und das Angebot verlockend war. Diese Sammlung ist heute nicht mehr erhältlich – verkauft haben sich davon vielleicht eine Handvoll Exemplare.
Verlage waren mir eigentlich immer relativ suspekt, gerade im Zeitalter vor dem Internet, mit der geringen Möglichkeit nach kleinen Verlagen zu suchen. Jahrelange Wartezeiten auf ein belangloses und unpersönliches Antwortschreiben. Deshalb wollte ich tatsächlich auch nicht publizieren. Die Branche war mir zu merkwürdig. Also habe ich weiterhin einfach nur geschrieben und zwei-, dreimal im Jahr Lesungen veranstaltet.
Vor Amerika-Plakate habe ich ausschließlich für mich geschrieben. Kurzgeschichten und Novellen. Und natürlich Lesungsprogramme. Das letzte war schließlich Amerika-Plakate. Aber das hat natürlich auch einen Vorteil. Man lernt die eigene Sprache besser kennen, und man findet schließlich auch die ganz eigenen Themen. Unabhängig vom Literaturmarkt. Meiner Meinung einer der größten Fehler der aktuellen Literatur-Szene: Die Anpassung.

FRAGE

Hast du denn keine Bedenken, dass auch dir diese Anpassung irgendwann droht? Gerade Amerika-Plakate strahlt für mich im besten Sinne diese positive Anarchie aus, die guten Erstlingsromanen manchmal zu eigen ist. Glaubst du, du wirst noch genauso frei schreiben können, wenn du erst einen festen Verlag und eine feste Leserschaft im Nacken hast?

RICHARD LORENZ

Das ist tatsächlich eine sehr interessante Frage, die ich natürlich auch von Amerika-Plakate her kenne. Die „Glättung“ des Romans. Einige größere und große Verlage haben durchaus Interesse an dem Roman bekundet – jedoch mit Einschränkungen. Zu phantastisch, zu merkwürdig, zu unnormal, zu sprunghaft. Alles das. Vermutlich hätte man sich mit einem dieser Verlage einigen können, denke ich mal. Aber nicht nur, dass ich das nicht wollte, vielmehr konnte ich es auch gar nicht. Die Grundstimmung des Romans ist phantastisch, magischer Realismus. Was auch immer. Daraus einen Günter-Grass-Roman zu machen, wäre durchaus schwierig gewesen.
Ich bin ja kein Genre-Schreiber. Ich erzähle Geschichten und bediene mich deren Elemente. Deshalb trifft auf Amerika-Plakate der Begriff Phantastik auch nur begrenzt zu – und wenn, dann im Sinne eines Ken Keseys.
Tatsächlich glaube ich, man sollte die Geschichten schreiben, die man in sich trägt, und nicht die Geschichten, die das Publikum hören möchte. Gerade durch den neuen Boom des Self-Publishing entsteht jener Eindruck: Schreibe, was sie lesen wollen, und du bist ein gemachter Mann. So etwas ängstigt mich. Denn dann wird es keine innovativen Bücher mehr geben. Nehmen wir zum Beispiel Forellenfischen in Amerika von Richard Brautigan. Diese Texte sind so abseitig und wundervoll gleichzeitig, dass sie überstehen. Weil sie wichtig waren und immer noch sind. Heute lese ich in Bücher-Foren, dass sie Bradburys Fahrenheit 451 für langweilig halten oder nicht verstehen. Aber Literatur muss nicht immer nur anspruchsvoll sein, sondern sie muss vor allem mutig sein.
Persönlich glaube ich, dass man meine Texte zwar glätten kann, aber sie von der Grundstruktur, von der Erzählung, immer abseitig bleiben. Diesen Anspruch habe ich. Abseitige Figuren in abseitigen Situationen. Magie, kein billiger Zauber.
Außerdem bin ich kein junger Autor mehr, was vermutlich ein Vorteil ist. Würde ich etwas schreiben sollen, was mir nicht gefällt, dann würde ich es lassen und wieder nur für mich schreiben. Was soll‘s? Denn wenn man eines bei der Arbeit mit Sterbenden lernt, dann wohl, dass man Dinge nicht mehr abändern kann. Und dass man gefälligst seinen Weg gehen soll.

FRAGE

Der Tod ist ja allgegenwärtig in Amerika-Plakate. Ich habe ihn aber in deinem Roman so verstanden, dass die Grenzen zwischen Leben und Tod fließend sind und die Toten auf die ein oder andere Art – z.B. durch Träume und Erinnerungen – trotzdem fortleben. Das hat etwas Tröstliches, was auch der Roman nach meinem Empfinden eindeutig an die Leser transportierst. Du hattest beruflich mit dem Tod zu tun?

RICHARD LORENZ

Ja, und ich denke, der Tod ist nichts Endgültiges. Damit meine ich jetzt nicht einmal das Himmelreich, sondern vielmehr, dass von jedem Menschen etwas zurückbleibt. Gedanken, Erinnerungen, Träume, Pläne. Eine Melange. Der Tod ist ein zentrales Thema, weil ich glaube, dass wir danach unser Leben ausrichten. Gewollt oder ungewollt. Wir haben Angst davor, und diese Angst treibt den Menschen an. Das Sterben ist der Motor des Lebens, würde ich sagen.
Beruflich hatte ich mit dem Sterben zu tun, natürlich. In der Krankenpflege, später dann im onkologischen Bereich, ist der Tod dein Schatten, in dem Gespenster tanzen. Das Leben verliert seine Konturen, wenn man Sterbende begleitet. Nichts mehr hat Bestand, und zu Recht sagt Thomas Bernhard diesbezüglich: Alles ist lächerlich.
Sämtliche Bemühungen, ein genormtes Leben zu leben, wirken bei der Zerbrechlichkeit des Seins merkwürdig und abseitig. Ich persönlich glaube nicht an Bücher wie: Wünsche von Sterbenden. Das ist billiger Budenzauber. Ihre Wünsche sind einfach: Keine Schmerzen und ein würdevolles Sterben.
Und manchmal erzählen sie von zu Hause. Und meistens sind das bessere Geschichten, als sie jemals in einem Buch zu finden sind.

FRAGE

Du hast bereits erwähnt, dass du mit Amerika-Plakate künstlerische Differenzen mit diversen Verlagen hattest. Wie bist du vorgegangen, als du fertig mit Schreiben warst, und wie bist du letztendlich bei kuk gelandet?

RICHARD LORENZ

Man muss vermutlich wissen, dass Amerika-Plakate grundsätzlich eine Kurzgeschichte ist. Ausgelöst durch ein Erlebnis in meiner Kindheit, als ein Nachbarsjunge und gleichzeitig Freund tatsächlich aus dem Fenster gesprungen und dabei irgendwie die Zeit stehen geblieben ist. Ein Sommertag mit hellblauen Sommerhimmel. Darüber wollte ich schreiben. Auch über die Affinität zu Amerika – aber eher dem Film-Amerika. Dem Amerika, wie man es sich als Kind vorstellt, wenn die Nächte lang sind.
Es entstand also die Kurzgeschichte, und eines Abends sah ich mir Bloch an, mit Dieter Pfaff. Eine der frühen Folgen mit Katharina Wackernagel als Tochter. Plötzlich hatte ich den Wunsch, sie zu fragen, ob sie nicht Lust hätte, die Short-Story als Audio-Geschichte einzusprechen. So schrieb ich ihre Agentur an, und wir wurden uns relativ schnell einig. Daraus entstand ein wundervoll eingesprochenes Projekt.
Völlig naiv dachte ich 2012, eine Literaturagentur könnte sich darum kümmern, dass diese Audio-Geschichte im Radio laufen würde. Stattdessen waren sie an einem Roman interessiert, und so versuchte ich mich an meiner ersten längeren Geschichte, basierend auf der Kurzgeschichte. Nach vier Monaten war der Roman dann fertig, und es war von vornherein klar, dass es damit schwierig werden könnte. Zeitsprünge, phantastische Elemente, all diese Sachen. Zudem konnte man Amerika-Plakate nicht so einfach einem Genre zuordnen, was ja scheinbar das Wichtigste überhaupt ist.
Dennoch waren einige Verlage daran interessiert, machten es aber dann doch nicht. Zu verkopft, zu merkwürdig, zu eigenartig. Wer soll das kaufen, wer soll das lesen? Gleichzeitig jammerten jedoch diese Verlage immer wieder, dass es an innovativer Literatur fehlen würde. Und vom Untergang des literarischen Abendlandes.
Eine Zeitlang sah es tatsächlich so aus, als würde Amerika-Plakate nicht bei einem Verlag erscheinen können. Anfang 2013 schrieb ich dann die Edition Phantasia an, da ich diesen kleinen Verlag immer schon sehr gerne mochte. Joachim Körbers Publikationen sind großartig, wenngleich ich mir nicht ganz sicher war, ob er diese Art Literatur machen würde. Nachdem ich ihm das gesamte Manuskript via email geschickt hatte, dauerte es dann nicht mehr lange. Körber war tatsächlich der erste Verleger, der gesagt hat: Das will ich machen, genau so. Für diesen Mut sollte man ihm einen Orden verleihen, finde ich. Oder ihn zum Ritter schlagen.

FRAGE

Joachim Körbers Verlag hat ja eine Jahrzehnte lange Tradition als Verlag für ausgesuchte phantastische Literatur. Wie wurde Amerika-Plakate denn bisher aufgenommen? Ich könnte mir vorstellen, dass bisher eher Leser und Rezensenten phantastischer Genres auf dich aufmerksam geworden sind – obwohl ich die Erfahrung gemacht habe, dass gerade sie zu den tolerantesten Buchkonsumenten überhaupt zählen.

RICHARD LORENZ

Pressearbeit gestaltet sich ja, wie man weiß, als sehr schwierig. Das heißt, um an Kultur-Reaktionen zu kommen, bedarf es Geduld und Mühe. Ohne großen Verlag im Rücken mit Hunderten von Freiexemplaren wird es schwierig – vor allem, wenn es sich nicht um Genre-Romane handelt. Hier helfen auch kaum Leserunden oder Facebook-Werbung. Der Markt ist völlig überschwemmt, leider.
Die Reaktionen waren bisher sehr positiv, wenn auch noch nicht sehr zahlreich. Auch hier scheint es für die Leute schwierig, da sie den Roman nicht zuordnen können. Was ist es nun? Gegenwartsliteratur, phantastische Literatur, magischer Realismus? Wer kann das schon so genau sagen? Für mich ist es einfach eine gute Erzählung. Nicht mehr, nicht weniger.
Natürlich hoffe ich weiterhin, dass der Roman auffallen wird.

lorenz2
Copyright © 2014 by Deliah Lorenz

FRAGE

Welche literarischen Vorbilder hast du? Nach Lektüre von Amerika-Plakate würde ich insbesondere auf Ray Bradbury und Paul Auster tippen. Was ich dabei aber bemerkenswert finde, ist, dass du eine völlig eigene Stimme hast. Ich behaupte, aus einem Stapel Neuerscheinungen würde ich dich ohne Probleme heraushören.

RICHARD LORENZ

Hier wird es schwierig, die Frage konkret zu beantworten, denn die Vorbilder sind eigentlich vielmehr Wegweiser dafür, wie eine gute Geschichte funktionieren kann, wenn sie das Zwielicht streift. Bradbury ist natürlich für mich ein zentraler Autor. Fahrenheit 451, Die Mars-Chroniken, auch seine Short-Stories. Wie Paul Austers Geschichten sind sie immer voller Liebe und Hoffnung. Das gefällt mir. Die New-York-Bücher von Auster – wundervoll. Vor allem „Auggie Wrens Weihnachtsgeschichte“, eine kurze Episode, die mich beeindruckt hat und es immer noch tut.
Aber auch Autoren wie Truman Capote mit seinen Beschreibungen oder Friedrich Ani, der für mich einen der besten deutschen Autoren darstellt. Stephen King natürlich, vor allem mit seinen untypischen Erzählungen. Frühling, Sommer, Herbst und Tod – für mich eines seiner besten Bücher.
Michael Chabon mit seinen Wonderboys oder T. C. Boyle. Neil Gaiman, der immer noch viel zu wenig Beachtung findet.
Ich mag Autoren und Bücher, die anders sind. Im positiven Sinne abseitig. Die mein Herz oder meine Seele berühren, die einen ganz eigenen Soundtrack inne haben. Diese Eigenschaft sollte gute Literatur immer haben – wenngleich das natürlich nicht immer die breite Masse anspricht. Vom Gefühl her gibt es in Deutschland kaum diese Nischen-Literatur, obwohl sie alle davon sprechen. Ich sehe ausschließlich Mainstream-Varianten, stapelweise auf Büchertischen. Als wäre Literatur nur noch billige Lift-Musik. Deshalb stehe ich auch dieser „Demokratisierung der Literatur“-Bewegung eher skeptisch gegenüber.
Wer schreibt, sollte meiner Meinung nach viel gelesen haben und weiterhin viel lesen. Von Büchern habe ich gelernt. Heutzutage gibt es ja überall Schreibwerkstätten und Workshops, und ich weiß tatsächlich nicht, was ich davon halten soll. Natürlich ist Schreiben ein Handwerk, so wie das Zaubern ein Handwerk ist. Aber dahinter gibt es noch etwas, und das kann man nicht erlernen.

FRAGE

Insbesondere mit Paul Auster teilst du ja eindeutig eine herzliche Zuneigung zu den Gestrauchelten…

RICHARD LORENZ

Paul Auster hat in der Tat einen wundervollen Blick auf die Gefallenen. Jene, die meist im Schatten des Lebens stehen. Ebenso wie Billy Wilder in seinen Filmen. Anti-Helden und Verlorene als Kontrast für ein Leben, das wir nicht verstehen.
Leibrand ist so angelegt. Ein Mann, der sich im Leben nicht wirklich zurecht findet, jedoch vermutlich das Leben atmet. Solche Menschen sind weitgehend Einzelgänger. Suchende. Diese Suche impliziert natürlich eine ständige Auseinandersetzung mit dem Leben. Für einen gut verdienenden Bankangestellten stellt sich selten die Frage nach dem Sein. So brauchen wir Zerbrochene, um das Leben zu verstehen. Deshalb haben wir vermutlich auch Probleme mit Obdachlosen und Bettlern, mit all den Gestrandeten. Sie zeigen uns die andere Seite des Lebens, und dass es ein schmaler Grat ist. Ein Abgrund, an dem wir alle stehen.
Solche Menschen sind so nahe am Leben, dass sie mich stark beeindrucken. Krankheiten und Tod der ständige Begleiter. Was passiert, wenn man nichts mehr zu verlieren hat? Das ist eine zentrale Frage, die wir uns stellen sollten. Und: Was bleibt, wenn wir alles verlieren?

FRAGE

Sämtliche Schrecken, die die Protagonisten in Amerika-Plakate heimsuchen, haben ihren Ursprung in der Kindheit. Der kindliche Kuss zwischen Leibrand und Suzanne stellt die Weichen für mindestens zwei Leben. Bist du ein Mensch, der die Kindheit stets mit sich herumträgt? Viele Menschen scheinen diese Zeit als Erwachsene ja völlig vergessen bzw. verdrängt zu haben.

RICHARD LORENZ

Um das Leben zu verstehen, ist es meiner Meinung nach sehr wichtig, jene Dinge in Gewahrsam zu halten, die uns als Kind geängstigt haben. Oder von denen wir geträumt haben. Nur so kann eine stetige Neu-Orientierung passieren. Ich glaube, als Kind sieht man das Leben wie eine riesige Landkarte mit unzähligen Straßen und Wegen, mit geheimnisvollen Plätzen und magischen Orten. Je älter man wird, desto kleiner wird diese Landkarte und die Magie verschwindet. Für Kinder zählen andere Werte als materielle Dinge – jedenfalls die meiste Zeit. Später scheinen wir die Hoffnungslosigkeit des Seins mit Wohlstand und Sicherheit abdecken zu wollen.
Tatsächlich entspringt der Schrecken in der Kindheit, prägt uns. Sämtliche Eindrücke sind als Kind hell, beinahe grell und nahe. Der Himmel ein Baldachin, zum Greifen nahe. Alles das verlieren wir auf eine Art und Weise, von einem Tag auf den anderen, wenn wir aufwachen und erwachsen sind. Eigene Kinder bringen dieses Gefühl zurück. Die Ängste vor der Dunkelheit, die Hoffnungen eines unendlichen Sommertages.
Ich selbst bin auf dem Land aufgewachsen, die RAF-Gespenster noch an jeder Ecke stehend. Der Vater dem Alkohol zugeneigt, die anderen Kinder oftmals bösartige Figuren. Es entstehen Geschichten, die man sich selbst erzählt. Die man sich vorbetet wie ein Vater-Unser, um nicht zu ersticken.
Dennoch: Die Sommer waren nie länger und die Grillen nie lauter. Wie sollte man das je vergessen können?

FRAGE

Genauso wie man die erste Liebe ein Leben lang wie eine für niemanden sichtbare Tätowierung in sich trägt?

RICHARD LORENZ

Jene Unsichtbarkeit von Wunden, Verletzungen sind ein interessantes Thema. Jeder von uns trägt diese Dinge in sich. Manchmal sind diese Schnittstellen wie ein Leuchtfeuer. Ob es nun die erste Liebe ist oder das Sterben eines Kindes – wir tragen es mit uns. Fabrizieren ein Traumgeäst darum.
Begegnungen sind allgemein ein starkes Thema eines jeden Geschichtenerzählers. Bindungen und Schwankungen. Aus Liebe entsteht Hass, solche Dinge.
Erzählungen wachsen aus diesen Leuchtfeuern, damit wir sie verstehen können. Oder damit wir sie niemals vergessen.
Leibrand erging es mit Suzanne so. Ein Kuss auf dem Jahrmarkt und eine lebenslange Suche nach dem Mädchen. Es hat etwas Zerbrechliches an sich, aber auch etwas Mutiges. Den Spuren weiter folgen, den Atem nach den Träumen ausrichten. Das sind große zentrale Themen, die einhergehen mit Schuld, Sühne und Erlösung.

FRAGE

Vier Monate für die Erweiterung von der Kurzgeschichte zum Roman Amerika-Plakate finde ich sehr schnell angesichts des sprachlich sehr anspruchsvollen Textes. Fällt dir das Schreiben in dieser Qualität generell leicht?

RICHARD LORENZ

Sobald ich den Sound einer Geschichte gefunden habe, fällt es mir relativ leicht, zügig zu schreiben. Wobei ich mich nur vage an ein Exposé halte, wenn überhaupt. Eine Geschichte zu „plotten“ stört mich persönlich ungemein, wird meiner Meinung nach auch überschätzt. Diesbezüglich gefällt mir auch das Absurde, wenn in Raymond Chandlers Romanen Figuren auftauchen und wieder verschwinden, weil sie schlichtweg vergessen wurden. So etwas ist mir sehr sympathisch, denn es zeigt den Atem eines Buches.
Heutige Bücher könnten auch von Robotern geschrieben worden sein. Nicht alle, aber viele. Gerade im Genre-Bereich – sie sind so blank gescheuert wie ARD-Sonntagsfilme.

FRAGE

Obwohl ich bei Amerika-Plakate schon den Eindruck habe, dass du die Handlung bereits von Anfang an im Kopf hattest. Bereits auf den ersten Seiten finden sich Echos späterer Ereignisse.

RICHARD LORENZ

Das stimmt. Da ich Erzählungen oft überarbeite, achte ich auf diese Dinge. Kleinigkeiten, die sich dann letztendlich einfügen und eine Geschichte abrunden. Für mich ist es natürlich schon wichtig, dass ein Roman schlüssig bleibt – egal wie abseitig oder absurd er auch sein mag.
Bei Amerika-Plakate wusste ich natürlich bereits den Schluss, jedenfalls Leibrands Ende der Geschichte. Es ist natürlich sehr hilfreich, wenn man bereits eine Vorahnung über den Schluss hat. Vieles in Amerika-Plakate wurde aber auch nur angerissen, vage gezeichnet. Phantastische Elemente können ganz schnell entzaubert werden, sobald man versucht sie zu erklären. Letztendlich gilt das vermutlich für die meisten Elemente eines Romans. Natürlich sollte man wissen, wovon man schreibt – aber man sollte nicht versuchen, alles zu erklären.
Vieles jedoch ist erst beim Schreiben entstanden, was ich eigentlich sehr gerne mag. Den Überraschungsmoment, wenn Dinge geschehen, die man nicht für möglich gehalten hätte. Ich denke, als Leser merkt man sehr schnell, was geplant wurde und was nicht. Bei Stephen King zum Beispiel merkt man es sehr stark.
Ich mag dieses Jazz-Gefühl, wenn eine Erzählung kurz aus dem Ruder läuft und sich dann aber wieder zusammenfindet. Sicherlich keine sehr einfache Angelegenheit, denn natürlich kann so eine Tagesarbeit in einer Sackgasse enden. Aber sie kann eben auch zurückführen zur Hauptstraße oder wenn man sehr viel Glück hat auf einen unbefahrenen Weg voller Löwenzahn.

FRAGE

Wie können wir uns einen typischen Tag im Leben des Schriftstellers Richard Lorenz vorstellen?

RICHARD LORENZ

Hoffen und beten, sozusagen.
Ich arbeite an neuen Projekten, also schreibe ich natürlich jeden Tag. Meistens am Nachmittag bis zum frühen Abend.
Letztendlich habe ich es mir zwar sehr beschwerlich vorgestellt, jedoch nicht so steinig. Nicht das Schreiben an sich, sondern vielmehr die Literatur-Welt. Nach wie vor ist diese Parallelwelt befremdlich für mich. Lesungen zu organisieren wird immer mehr zu einem Schattenboxen.
Wenn ich mir anschaue, welche Autoren heute bei großen Verlagen literarische Erzählungen publizieren, sehe ich kaum eine Möglichkeit für mich. Das soll kein Vorwurf sein, es sind bestimmt sehr gute Bücher. Aber ihre Biographien unterscheiden sich doch gewaltig von meiner eigenen. Die Zeiten eines Bukowskis, der aus der Gosse heraus wunderbare Gedichte publizierte, sind vorbei. Einen Überraschungs-Erfolg zu platzieren scheint fast unmöglich.
So sieht mein Tag aus: Nach einem Mausloch zu suchen, dahinter die Möglichkeit, bescheiden das tun zu dürfen, was man möchte. Aber wer kann das schon?

FRAGE

Was können wir neben Amerika-Plakate noch von dir lesen? Gibt es noch veröffentlichte Kurzgeschichten?

RICHARD LORENZ

Es gibt zahlreiche Kurzgeschichten und Gedichte. Versteckt in Telefonbüchern der Städte, vergraben auf Friedhöfen, mit Kreide an Häuserwänden geschrieben. Unter der Tapete meines Arbeitszimmers geklebt warten 47 Kurzgeschichten.
Die Gespenster kennen sie alle.

FRAGE

Es gibt da die elektronische Fortsetzungsgeschichte Kinderland. Kannst du uns bitte etwas darüber erzählen?

RICHARD LORENZ

Kinderland wurde als Serial-Novel konzipiert, die bei einem Münchner ebook-label herausgekommen ist. Fortsetzungs-Romane haben mir immer sehr imponiert.
Letztendlich ist Kinderland eine Erzählung um das Aufwachsen in einer kleinen Stadt, in der Kinder verloren gehen, vergessen werden. Es hat mich gereizt, etwas zu erzählen was im direkten Zusammenhang mit dem Konzentrationslager Dachau steht. Und dem Vergessen von Träumen und Traum-Episoden.
Kinderland ist im Gegensatz zu Amerika-Plakate eher eine Weitwinkel-Aufnahme mit vielen Figuren mit Anleihen einer Tim-Burton- Erzählstruktur. Natürlich wird so etwas sofort kategorisiert, in diesem Fall: Mystery. Damit kann ich mich aber bis heute nicht wirklich anfreunden.

FRAGE

Du hast nach Amerika-Plakate bereits einen neuen Roman, Frost, Erna Piaf und der Heilige geschrieben. Wie ist der aktuelle Status dieses Werkes?

RICHARD LORENZ

Zum aktuellen Status kann ich mich nicht äußern, weil noch alles in der Schwebe ist. Natürlich würde es mich sehr freuen, wenn das Buch seinen Weg finden würde. Denn ich glaube, es ist eine schöne Geschichte vom Leben und vom Sterben. Und von einer Suche, die in Paris endet.

FRAGE

Woran arbeitest du zur Zeit?

RICHARD LORENZ

Zur Zeit arbeite ich an einer weiteren literarischen Erzählung über einen Schriftsteller, der auch Salinger hätte sein können. Also verschroben, aus dem Leben gefallen. Salinger ist ja eine hochinteressante Persönlichkeit, und die Weigerung zu publizieren, finde ich äußerst sympathisch. Solche Figuren fehlen heute sehr, wie ich finde.
Wer weiß, vielleicht wird das sogar mein letzter Roman – also jedenfalls der letzte, der den Weg nach außen sucht. Weiß Gott, vielleicht tue ich es dann dem Protagonisten des aktuellen Romans gleich und schreibe nur noch für die Gespenster, die nachts an mein Bett kommen. Denn wir müssen alle unsere Wege gehen, und manche Wege sind mit der Zeit unpassierbar geworden.

Homepage von Richard Lorenz