Algernon Blackwood | Der Zentaur

Originalveröffentlichung:
The Centaur (1911)

Algernon Blackwood - Der Zentaur

In seinem mystischen Schlüsselroman schreibt sich Algernon Blackwood, der große Erzähler unheimlicher Geschichten, in einem zeitweise delirierenden Schreibstil voller rauschhafter Naturbeschreibungen die eigenen inneren Untiefen von der Seele.

Autoren, die in ihren Werken aus den Tiefen ihres Selbst schöpfen und somit die Literatur als Medium ihrer eigenen Befindlichkeiten nutzen, lassen sich oft auf ein Schlüsselthema fokussieren, über das sie letztlich immer wieder schreiben. Es ist spannend für Leute wie mich, ein solches Sujet im Werkkontext eines Autors herauszuarbeiten, aber ein wahrer Glücksfall ist es, wenn ein Schriftsteller uns ein Schlüsselwerk an die Hand gibt, das sein gesamtes Restwerk in einem neuen Licht erscheinen lässt, es quasi auf ein völlig anderes Fundament stellt. Hat man ein solches Werk gelesen, raunt es einem zu, dass man nun ausreichend gerüstet sei, mit diesem neu gewonnenen Wissen noch einmal ganz am Anfang der Bibliographie desjenigen einzusteigen.
Was beispielsweise für das Verständnis Arthur Machens dessen Roman The Hill of Dreams [Der Berg der Träume] ist, ist The Centaur [Der Zentaur] für das Gesamtwerk Algernon Blackwoods. Blackwood hatte unter anderem mit seiner Novelle “The Willows“ [“Die Weiden“] (1907) der englischen Schauerliteratur einen unsterblichen Beitrag spendiert, aber welcher spirituelle Treibstoff den Autor zeit seines Lebens offenbar antrieb, das eröffnet uns erst der Roman The Centaur.
Ginge es hier nur um Plot, würde der Umfang einer Kurzgeschichte ausreichen, um das Geschehen abzubilden. Aber wie schon dargelegt ist The Centaur für Algernon Blackwood wesentlich mehr als einfach nur eine Geschichte. Es ist Manifest, Grundsatzprogramm und persönliche Bibel in einem.
Derjenige, der uns die Geschichte erzählt, ist ein unbeteiligter Ich-Erzähler, der am Ende gar nicht mehr so unbeteiligt wirkt. Er erzählt uns von seinem Freund Terence O’Malley, einem Iren, der alles ist, nur kein moderner Mensch, der mit dem Strom schwimmt. O’Malley hat eine Vision, die ihn lenkt. Zusätzlich angestachelt von den Werken des deutschen Psychologen, Physikers und Naturphilosophen Gustav Theodor Fechner sucht O’Malley sein Leben lang nach dem Grund dafür, warum er sich anderen Menschen nicht zugehörig fühlt und kommt – wie Fechner – immer mehr zu der Überzeugung, dass die Erde beseelt ist und wir Menschen einst eigentlich fester Bestandteil davon waren, jedoch zunehmend diese spirituelle Zugehörigkeit vergessen haben und durch den voranschreitenden Fortschritt zu Skeptikern allem Unerklärlichen gegenüber geworden sind.
Zum Zeitpunkt, da der Erzähler beginnt, ist O’Malley bereits ein Aussteiger, der der modernen Welt adieu gesagt hat und die Aura der Ur-Welt mit all seinen Sinnen spürt und von höchst willkommenen Einflüsterungen, Düften und Erscheinungen begleitet wird. Er begibt sich per Schiff auf seine persönliche Reise zu den Quellen der Ur-Erde, eine Reise, die auch zur inneren Odyssee wird. Auf dem Schiff lernt er einen mysteriösen nicht sprechenden Russen kennen, in dem er sofort einen weiteren Suchenden erkennt und zu dem er sich kompromisslos hingezogen fühlt. Der ebenfalls an Bord weilende deutsche Arzt Stahl scheint mehr über den geheimnisvollen Russen zu wissen und kennt sich auch mit O’Malleys Philosophie der beseelten Erde aus. Fortan treffen die drei immer wieder in unterschiedlichen Konstellationen zusammen.
Erst im Kaukasus findet O’Malley das, was er sein Leben lang gesucht hat. In der dortigen Abgeschiedenheit ist die Erde noch unberührt von Skepsis und Fortschritt. In einem visionären Bilderrausch taucht O’Malley ein in die Aura der Vorzeit, fühlt sich von Göttern gestreift und von Fabelwesen begleitet: “Vor sich sah er die uralten Gestalten der Mythen und Legenden, immer noch lebendig in irgendeinem wunderbaren Garten der vorzeitlichen Welt, einem so entlegenen Winkel, dass die Menschheit ihn noch nicht mit den hässlichen Spuren ihres Lebens besudelt hatte.“
The Centaur ist alles andere als ein Spannungsroman. Das ist eine Zelebration. Algernon Blackwood feiert die Sprache mit jedem Satz. Die Anmut und Pracht von O’Malleys Visionen gehören zum Schönsten, was man in einem Buch finden kann. Natürlich könnte man Blackwood vorwerfen, sich immer und immer wieder mit seinen Thesen zur Allbeseelung des Universums zu wiederholen, aber nur so erreicht er die nachhaltige Wirkung, die The Centaur letztlich innehat.
Da stellt sich wie so oft die Frage, ob sich das alles nur im Kopf des Protagonisten abspielt oder als reales Erleben anzusehen ist. Das grandiose Ende des Romans, welches auch eine grandiose Kurzgeschichte fulminant hätte abschließen könnte, legt uns nahe, dass die Ereignisse nicht nur auf O’Malley begrenzt sind.
Eine völlig andere Interpretationsposition führt auf sehr direktem Wege zur Sexualität der Charaktere, die durchgängig schwul zu sein scheinen. Nicht eine einzige Frau hat Einzug in The Centaur gehalten, nicht einmal in einer Nebenrolle. Und über der gesamten Konstellation O’Malley/Stahl/Russe schwebt eine homoerotische Atmosphäre. Wenn beispielsweise der Russe O’Malley anlächelt, “mischten sich bei O’Malley Beunruhigung und ein Gefühl des Wunderbaren, wie er es noch nie erlebt hatte.“ Als O’Malley spontan die Hand des Russen umschlingt, “zuckte er leicht erschrocken zusammen, da sich die Berührung so wunderbar, so kraftvoll anfühlte – fast so, als hätte ihn eine Windböe oder eine Meereswoge erfasst.“
Während O’Malley im Bann des Russen ist, scheint Dr. Stahl O’Malley zugeneigt zu sein: “Im Dunkeln tastete er [Stahl] nach der Hand seines Gefährten und drückte sie einen Augenblick.“
Wie ich schon weiter oben sagte, vergisst der Ich-Erzähler zeitweise seinen neutralen Standpunkt, denn auch er outet sich, wenn er O’Malleys “feingliedrigen Hände“ und “die zarten, sensiblen Lippen“ feiert.
Dies alles sind nur einige Beispiele, die eine weitere Ebene von The Centaur entblößen und direkt zu den sexuellen Repressalien der menschlichen Gemeinschaft führt, die offenbar ebenfalls ein gewichtiger Grund sind, warum O’Malley diesem Leben entfliehen möchte.
Was auch immer jeder aus The Centaur mit nimmt, mich hat Algernon Blackwood in eine Welt der Wunder geführt.

Deutsche Übersetzung: Der Zentaur, übersetzt von Usch Kiausch (Leipzig: Festa, 2014)

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Originalveröffentlichung:
The Deferred Appointment (1914)

Eine der kürzesten Schauergeschichten aller Zeiten beeindruckt mit beunruhigender Atmosphäre.

„The Deferred Appointment“ [„Aufgeschoben“] ist eine aufs Allernötigste reduzierte Kürzestgeschichte, die ähnlich Arthur Machens faszinierenden  Prosavignetten in Ornaments in Jade Blackwoods Meisterschaft zeigt, mit nur wenigen Sätzen eine dichte, stimmungsvoll-unheimliche Atmosphäre zu zeichnen. Lediglich eine kurze Satzfolge braucht er, um die makellose Beschreibung eines unwirtlichen, grauen Londoner Wintertages zu entwerfen.
Damit ist der perfekte Boden für die komprimierte Handlung erschaffen. Ein krank aussehender Mann erscheint wortlos in einem Fotoatelier. Wie sich herausstellt, ist der Mann eine Viertelstunde zuvor gestorben.
Das Unheimliche kriecht förmlich in diesen stürmischen, verschneiten Tag hinein und hinterlässt ein erlesenes Schauergefühl, wie es nur ein Meister mit derart wenig Text zu produzieren in der Lage ist.

Empfehlenswerte Übersetzung: „Aufgeschoben“, übersetzt von Anonymus, in: Michael Görden (Hrsg.), Schrecksekunden – Gespensterbuch 4 (Bergisch-Gladbach: Bastei-Lübbe, 1984)