Steven Millhauser | Zaubernacht

Originaltitel: Enchanted Night (2000)

In diesem silbrig leuchtenden, magischen Mondnachtstück kreisen die Menschen einer Kleinstadt um ihre persönlichen existentiellen Fragen.

Kommt alle her, ihr Träumer, ihr Verliebten, ihr Liebeskranken, ihr Einsamen, ihr Lebenskünstler, ihr Mondsüchtigen. Ihr alle seid willkommen in dieser verzauberten Nacht, in der das Unbelebte und das beinahe Abgestorbene erwacht.
Versammeln wir uns doch um die mondleuchtende Novelle Enchanted Night [Zaubernacht] von Steven Millhauser, die die Verlierer sprechen lässt, die Melancholiker, die Traurigen, all die Unerfüllten und Sehnenden.
Steven Millhausers einmalige magische Augustsommernacht zieht die Menschen einer amerikanischen Kleinstadt hypnotisch aus ihren Häusern und gibt ihnen eine lebensbegrüßende Stimme.
Es ist kurz vor Mitternacht und Beinahe-Vollmond. Der 14-jährigen Laura kribbelt es am ganzen Körper. Alles zieht sie nach draußen. Genauso wie den 39-jährigen Stubenhocker Haverstraw, dessen “Leben schmerzt“, und die 20-jährige Janet, “erfüllt von Sehnsucht“ und “toll vom Mond“. Sie alle tun etwas, das sie noch nie getan haben. Janet bietet sich dem Mond dar, nicht ahnend, dass sie ins Visier eines dunklen Verfolgers geraten ist, dem “Mann mit dem glänzend schwarzen Haar“, der “ein neues Stück für seine Sammlung“ erspäht hat.
Aber keine Angst, nichts zerstört den Wunderbann dieser einzigartigen Nacht. Nichts Böses passiert, keinerlei Autoritäten sorgen für Ordung und Korrektheit, und keinerlei Eltern bekommen mit, dass ihre Kinder in die Mondnacht ausschwärmen.
Aber nicht nur die Lebenden lassen sich vom silbernen Mondlicht durch ihre Welt lenken, auch das Unbelebte erwacht und kreuzt die Welt der Lebenden. Die auf Dachböden und Rumpelkammern verbannten Spielzeugfiguren und Kuscheltiere der Kinder erwachen zum Leben, und die wunderschöne Schaufensterpuppenfrau hütet ihr Geheimnis nur noch so lange, bis der 28-jährige Coop leer und einsam vor ihrem Schaufenster auftaucht und sie dazu veranlasst, zum ersten Mal auf die Straße herauszutreten. “Seine Wertlosigkeit lähmt ihn“, wird Coop zuvor noch charakterisiert, aber als sich seine und die Hand der Schaufensterpuppe umschließen, erfüllt ihn nur noch Glück.
In anmutiger, mondtaumelnder, insbesondere junge Menschen mit großer Sensibilität beleuchtenden Sprache – die Sabrina Gmeiner mit schlafwandlerischer Sensibilität in ein traumverlorenes Deutsch übertragen hat – arrangiert Steven Millhauser in Novellenlänge ein literarisches Bühnenstück mit multiplem Stimmumfang. Ein Mondbuch, das glücklich macht.

Deutsche Übersetzung: Zaubernacht, übersetzt von Sabrina Gmeiner (Wien: Septime, 2016)

Steven Millhauser | Das Jademädchen

Originaltitel: Cathay (1984)

Sprache zu beherrschen wie ein Instrument ist Steven Millhausers Motivation in diesem unfassbar ideenreichen Lexikon zum imaginären Land Cathay

Eine der Obsessionen, mit denen Steven Millhauser seine Erzählungen, Novellen und Romane signiert, ist eine Neigung zum totalen Beschreibungs-Exzess. Man kann natürlich einen Menschen oder ein Ding mit einem Satz oder sogar mit einem Wort beschreiben, was aber für Millhauser kein gangbarer Weg ist. Er konkretisiert manchmal so ausufernd, als wolle er die englische Sprache bis ans absolute Limit führen. Erst wenn keine Worte mehr vorhanden sind, um einen weiteren schönen Satz zu formen, sieht er sich am Ziel. Im ungünstigen Fall macht diese Grille Millhausers manchmal etwas müde. Im besten Fall führt es zu etwas Atemberaubenden wie der Erzählung “Cathay“ [“Das Jademädchen“].
“Cathay“ ist angelegt wie der lexikalische Teil eines Reiseführers. Es gibt keinen Protagonisten, an den man sich klammern kann, und es gibt auch keinen Handlungsfaden, den man von Anfang bis Ende verfolgen kann. Nur eine alphabetisch geordnete Auflistung von Stichworten, die Cathay charakterisieren, nebst meist kürzerer, in bewusst neutralem und Emotionen verbietendem Schreibstil gehaltener Erklärungstexte.
Das, was sich so trocken anhört, ist in Wahrheit ein Fest der Fantasie. Das imaginäre Kaiserreich Cathay ist ein Land der Superlative. Alles ist extrem groß oder extrem klein, prunkvoll und voller Schönheit. Dem, was Millhauser dann auffährt, folgt man nur zu gern mit offenstehendem Mund. Der kurze Text steht kurz vorm Platzen vor lauter Ideen und Unmöglichkeiten, die ohne Probleme für ein umfangreiches Romanepos gereicht hätten. Geblendet von all dem wundervollen Pomp verfolgt man mit Hochgenuss ein exquisites Sprachkunstwerk, das letztlich in ein Duell der Zauberer mündet, aus dem ein einmaliges Mädchengeschöpf aus Jade hervorgeht.

Deutsche Übersetzung: “Das Jademädchen“, übersetzt von Rolf Jurkeit, in: Rolf Jurkeit (Hrsg.), Twilight Zone – Magisches Licht (München: Heyne, 1986)