[Rezension] Sarah Waters – Die Muschelöffnerin

Originalveröffentlichung:
Tipping the Velvet (1998)

Sarah_Waters_Die_Muscheloeffnerin

Direkt mit ihrem Erstling Tipping the Velvet gelang es Sarah Waters, dem Literatur-Kanon einen sehr wichtigen Roman hinzuzufügen. Da aber „wichtig“ noch lange nicht „gut“ heißt, bleibt zu klären, ob Tipping the Velvet auch ein guter Roman ist. Der Charme von Erstlingsromanen liegt ja oft in einer Art positiver Unprofessionalität der noch nicht von Markterfordernissen zerfressenen Schriftstellerseele. Auch Sarah Waters hatte für diesen Roman keinerlei Erwartungsdruck seitens eines Verlags oder einer Leserschaft, doch von positiver Unprofessionalität kann hier wirklich keine Rede sein. Sie hatte gerade ihre Doktorarbeit in Englischer Literatur – Wolfskins and Togas: Lesbian and Gay Historical Fictions, 1870 to the Present – beendet, als sie direkt ihre Recherchen an die Hand nahm und ihren ersten Roman ansteuerte. Ihre begeisterte Lektüre viktorianischer Literatur verbunden mit ihrer akademischen Ausbildung haben sicherlich ihren Beitrag dazu geleistet, dass man Tipping the Velvet niemals für einen Erstlingsroman halten würde, wenn man es nicht besser wüsste. Denn Waters ist stets die Herrin über ihren nicht einfachen Stoff und beeindruckt mit ihrer Ausgereiftheit in Dramaturgie und Personencharakterisierungen.
Tipping the Velvet ist ein Bildungsroman, der sieben Jahre im Leben des Austernmädchens Nancy Astley beschreibt. Zu Beginn wird Nancy gerade 18. Am Ende ist sie eine 25-jährige Frau, die genau weiß, wo ihr Platz in der Gesellschaft ist.
Wir befinden uns im viktorianischen England Ende der 1880er Jahre. In einem kleinen Fischereinest an der Küste von Kent arbeitet die unscheinbare Nancy im Austernrestaurant ihrer Eltern. Sie erweckt nicht den Eindruck, dass ihr etwas fehlt im Leben, doch das ändert sich drastisch, als sie das hiesige Theater besucht und dort die Gesangsnummer einer jungen in einen Herrenanzug gekleideten Frau verfolgt. Es handelt sich um die aufstrebende Künstlerin Kitty Butler, die zum Abschluss ihrer Show jeweils einem Mädchen im Publikum eine Rose überreicht. Nancy ist nun nicht mehr davon abzubringen, ab jetzt regelmäßig Kittys Vorstellungen zu besuchen. Show um Show vergeht, ohne dass Nancy diejenige ist, die die Rose erhält. Als es dann so weit ist und Kitty Nancy zum Gespräch in ihren Umkleideraum bittet, ist für Nancy klar, dass sie sich in Kitty verliebt hat. Für Nancy ist das die einzige ihr mögliche Art, einen anderen Menschen zu lieben, doch der Preis, den sie dafür zahlen muss, ist hoch.
Kitty und Nancy freunden sich an, und Nancy wird Kittys Garderobiere. Als Kitty sie dann fragt, ob sie sie für eine neue Stufe ihrer Karriere nach London begleiten würde, kann Nancy gar nicht anders, als ihrer großen Liebe zu folgen. Der Abschied von ihrer Familie und die Entfremdung von ihrer Schwester, die als Einzige in Nancys Gedanken eingeweiht ist und diese kategorisch ablehnt, sind ein Meisterstück psychologischer Einfühlung.
In London wird Kittys Gesangsnummer in neue Höhen geleitet, als Nancy, die ebenfalls ein Talent zum Singen hat, als ihre Partnerin mit auf der Bühne steht. Die Nummer wird ein großer Erfolg, und die Londoner Theater und Varietés, in denen sie auftreten, werden immer größer und berühmter.
Kitty, die längst geahnt hat, dass Nancy sie liebt, ist inzwischen auf Nancy zugegangen. Ein Liebespaar dürfen die beiden allerdings nur nachts auf ihrem Zimmer sein.
Als bisheriger Höhepunkt der beiden Mädchen, Nancy ist gerade mal 19, rückt eine Weihnachtsaufführung im renommierten Britannia näher. Doch innerhalb von Sekunden wird Nancys glückliche Welt mit gnadenloser Härte zerstört. Mittellos wird sie in den Moloch London ausgespuckt. An das Beste von Paul Auster erinnernd (Moon Palace [Mond über Manhattan] kommt mir in den Sinn) lässt Nancy sich, ihres Herzens beraubt, durch London treiben und beginnt ihre persönliche Odyssee, die einige Jahre dauern soll und sie u.a. als männlich verkleideter Stricher und als Lustsklavin einer wohlhabenden Sapphistin durch Bereiche navigiert, die der bürgerlichen Welt verborgen sind.
Der Titel des Buches – im Text der deutschen Ausgabe mit Den Samt berührt übersetzt (leider jedoch nicht als Buchtitel genutzt) – ist ein viktorianischer Slangausdruck für den Cunnilingus. Ein solcher Titel signalisiert natürlich: Sex. Im finsteren Mittelteil formuliert Sarah Waters auch zahlreiche explizite Sexszenen aus, die ins Obszöne und Pornographische übergehen. Teilweise sind diese Szenen die einzigen im Buch, die ich für nicht ganz gelungen halte. Natürlich geht es im Mittelteil nicht um Liebe und Sinnlichkeit, sondern um reine sexuelle Befriedigung. Trotzdem verlieren derart graphisch dargestellte Szenen an Kraft, wenn sie sich wiederholen. Schon allein deshalb würde ich Tipping the Velvet nicht als perfekt bezeichnen wollen. Aber, um zur Ausgangsfrage zurückzukommen: Ja, Tipping the Velvet ist ein gutes Buch. Den ersten Teil des Romans würde ich sogar als makellos bezeichnen. Und die Beschreibungen eines vergangenen Londons mit seinen Theatern und Pferdekutschen lassen einen literarischen Ort entstehen, den man beinahe glaubt, selbst gesehen zu haben.
Sarah Waters hat sich definitiv mit Tipping the Velvet für einen Entwicklungsroman entschieden, der auf sprachliche Schnörkel gänzlich verzichtet und klassisch linear erzählt. Sprachlich stellt Waters keine hohen Anforderungen an die Leser, und doch ist da einiges, was sie schon in ihrem Erstling weit über den Durchschnitt der schreibenden Zunft erhebt. Tipping the Velvet saugt einen als Leser ins Geschehen hinein, sodass man nicht ablassen möchte. Schon Charles Dickens wusste genau, dass man seine Leser damit packt, indem man mit ihren Emotionen spielt. Das macht auch Sarah Waters. Doch weshalb ersaufen schlechtere Autoren in ihrem eigenen Zuckerguss, während Waters eine Stärke ausstrahlt, die uns bei ihr hält? Ich habe lange darüber nachgedacht, wie Sarah Waters es schafft, dass ihre Charaktere uns so wirklichkeitsnah erscheinen. Ich glaube, es liegt auch daran, dass Waters sehr gut darin ist, zu beschreiben, wie ihre Protagonisten aufeinander wirken. Damit meine ich, dass zwischen ihnen nicht nur ein Textdialog stattfindet. Mit außergewöhnlicher Subtilität zeigt Waters uns auch auf, wie die Charaktere jeweils auf das Gesagte reagieren. Die kleinsten Nuancen dieser Reaktionen bewirken schon, dass wir als Leser die Sprechenden so deutlich vor uns sehen und uns derart intensiv in sie hineinversetzen.
Am Ende ist Nancy eine starke, mutige Frau, die es geschafft hat, das Erlebte für ein besseres Leben zu nutzen. Was kann man sich mehr wünschen?

Empfehlenswerte deutsche Übersetzung: Die Muschelöffnerin, übersetzt von Susanne Amrain, überarbeitet von Andrea Krug (Berlin: Krug & Schadenberg, 2011)

Lektorat: Uwe Voehl

[Rezension] Sarah Waters – Der Besucher

Originalveröffentlichung:
The Little Stranger (2009)

Besucher

Sarah Waters ist schon eine mutige Autorin. Nachdem sie sich mit vier preisgekrönten und in den Bestsellerlisten ansässigen Romanen mit hauptsächlich lesbischen Charakteren in die Herzen ihrer Leser geschrieben hat, wagt sie es, mit ihrem fünften Roman The Little Stranger Neuland zu betreten. Denn zum einen wird The Little Stranger in erster Person aus der Perspektive eines Mannes erzählt, zum anderen wählt Waters, nachdem sie in ihrem zweiten Roman Affinity [Selinas Geister] noch davor gekniffen hat, die Abzweigung, die das Übernatürliche in ihre Zeilen einlässt. In der Form einer postmodernen epischen Geistergeschichte zieht sich Waters insbesondere die Auswirkungen des 2. Weltkriegs auf das britische Standessystem in den Fokus.
Der umfangreiche Roman beginnt mit Glanz und Gloria im Jahr 1919, als der 10-jährige Erzähler Faraday (sein Vorname bleibt Geheimnis), einer der bürgerlichen Schaulustigen anlässlich eines großen Festes der Ayres‘, zum ersten Mal dem prunkvollen georgianischen Herrenhaus Hundreds Hall nahe kommt. In einer Szene, die die Saat des nachfolgenden Romans legt, gelingt es Faraday durch seine Mutter, die in Hundreds Hall beim Hauspersonal gearbeitet hat, ins Innere des Herrenhauses zu gelangen. Als er in einem Raum ein Stuckfries sieht, bricht er aus einem Relief aus Eicheln eine Eichel heraus und steckt sie ein. Seine Begründung dafür lautet: „Ich wollte mir einen Teil der Schönheit sichern, gerade so, wie ein Mann sich eine Locke von dem Haar des Mädchens bewahren möchte, in das er sich unsterblich verliebt hat.“
Fast dreißig Jahre später, 1947, führt ein Zufall Faraday erneut nach Hundreds Hall. Er ist inzwischen der Landarzt Dr. Faraday, und in Vertretung für den eigentlichen Hausarzt der Ayres‘ betritt er erneut Hundreds Hall. Die Ayres‘, einst eine der einflussreichsten Familien der Gegend, bestehen aus der über 50-jährigen Mrs. Ayres und ihren beiden Kindern, dem Kriegsverletzten Roderick und der Tochter Caroline, die, obwohl erst etwa sieben- oder achtundzwanzig Jahre alt, bereits den Ruf einer altjungferlichen, leicht verschrobenen Frau hat. Dr. Faraday fällt insbesondere ins Auge, in welchem Ausmaß der Krieg den Status der Ayres‘ nach unten korrigiert hat. Zwar besitzen sie noch das riesige Herrenhaus und das umliegende Land, aber ansonsten sind sie verarmt und leben von der Hand im Mund. Hundreds Hall glänzt nicht mehr, wie Faraday es vor vielen Jahren zuletzt gesehen hat. Die Gärten sind verwildert, das Haus ist vom Zahn der Zeit angefressen, und ganze Hausflügel sind abgesperrt.
Die nächsten zwei- bis dreihundert Seiten widmet sich Sarah Waters in aller Ruhe dem Aufbau ihrer Charaktere. Die Charaktere wachsen mit jeder Seite unauffällig, und Dr. Faraday wird zunehmend ein Freund des Hauses. Er besucht die Ayres‘ jetzt bei jeder sich bietenden Gelegenheit, behandelt den Kriegsversehrten Roderick mit einer Elektrotherapie, gewinnt das Vertrauen der immer noch ihrem Erbe verhafteten Mrs. Ayres und freundet sich mit der unkonventionellen Caroline an.
Und immer wieder Hundreds Hall, das Waters mit einem unglaublichen Detailreichtum beschreibt. Aber auch, wenn Hundreds Hall kontinuierlich an Charakter gewinnt, scheint es auf dem absteigenden Ast. Wie ein Organismus beginnt das Gebäude ein Gliedmaß nach dem nächsten zu verlieren. Der Verfall scheint nicht mehr aufzuhalten zu sein.
Dass Sarah Waters mehrere hundert, beinahe ereignislose, Seiten voranstellt, mag manchem Leser nicht gefallen, jedoch ist The Little Stranger stets außerordentlich fesselnd zu lesen. Der behäbige Handlungsaufbau ist eine lohnende Investition, denn sowohl die Ayres‘ als auch Hundreds Hall gewinnen eine derartige Dreidimensionalität, dass man als Leser emotional immer tiefer in das einsame, unaufhaltsam sterbende Herrenhaus gesogen wird und dem dunklen Schicksal der Ayres‘ mit wachsender Zuneigung folgt. Der unaufhörliche Stimmungsaufbau muss Sarah Waters sehr viel abverlangt haben, aber das lohnenswerte Ergebnis ist, dass man der Welt von Hundreds Hall so nah kommt wie nur wenigen imaginären literarischen Landschaften.
In die Erzählung des bis dahin schemenhaften und neutralen Dr. Faraday mischen sich jetzt zunehmend seltsame Begebenheiten und immer unheimlichere Ereignisse. Dr. Faraday, stets der Rationalist in Person, muss hilflos dem Fall des Hauses Ayres beiwohnen. Der schleichende Tod von Hundreds Hall greift jetzt auch nach den Familienmitgliedern. Obwohl den Ayres‘ längst klar ist, dass etwas Übernatürliches – „Der kleine Fremdling“ des Originaltitels – in den Mauern von Hundreds Hall zu angsteinflößender Größe anwächst, wird Dr. Faraday nicht müde, rationale Erklärungen zu suchen. Ausgerechnet der im menschlichen Umgang leicht primitive Kollege von Dr. Faraday, Dr. Seeley, kommt der Sache wohl am nächsten, wenn er Dr. Faraday die esoterisch klingende Erklärung verkaufen will, dass die unheimliche Präsenz in Hundreds Hall ein von einem lebenden Menschen abgespaltetes Schatten-Ich ist, entstanden aus einem dunklen Keim, „um zu wachsen wie, wie ein Kind im Mutterleib.“
The Little Strangerlässt seine Leser verwirrt zurück, denn das Ende wirft Fragen auf, die sich zunächst nicht ohne weiteres beantworten lassen. Wer sich aber darauf einlässt, kann sich mit dem Roman auch noch lange nach der Lektüre beschäftigen, denn die mögliche Lösung der Rätsel kann erst im Kopf des Lesers gefunden werden. Dabei stellt sich als wichtigste Frage: Was terrorisiert Hundreds Hall? Weitere grundlegende Detailfragen sind: Warum beginnt der Fall des Hauses Ayres erst, seit Dr. Faraday dort verkehrt? Warum geschieht niemals etwas Unheimliches, während Dr. Faraday in Hundreds Hall anwesend ist?
Sarah Waters hat mit der finsteren, übernatürlichen Tragödie The Little Stranger ihr reifstes Buch geschrieben. Im Gegensatz zum konstruiert wirkenden Vorgängerroman The Night Watch [Die Frauen von London] fließt The Little Stranger mit einer eigenen inneren Logik. Mit Caroline Ayres hat Waters ihre wohl nuancierteste und liebenswerteste weibliche Handlungsfigur geschaffen. Obwohl sie von Dr. Faraday immer wieder als hässlich dargestellt wird, lassen seine sachlichen Beschreibungen Carolines sie paradoxerweise als außerordentlich attraktiv vor dem inneren Auge des Lesers entstehen. Sie ist die wahre Feministin in Waters Gesamtwerk, ohne jemals darüber nachgedacht zu haben, was Feminismus ist. Sie rasiert sich nicht die Beine, stiefelt am liebsten mit ihrem Hund Gyp durch die Wälder, legt nicht den geringsten Wert auf standesgemäße Kleidung und weigert sich beharrlich zu heiraten. Und das ohne die geringste aggressive Attitüde. Es ist einfach ihre Natur.
Die übernatürlichen Eingriffe in die Handlung sind subtil und schaurig. Mit großem Respekt vor den Klassikern der unheimlichen Literatur bedient Sarah Water sich traditioneller Topoi wie „Poltergeist“ und „Rache aus dem Reich der Toten“ und gliedert diese in ihre großen Themen ein, als hätten sie schon immer dazugehört.
Sarah Waters hat einen großen, zu Herzen gehenden Gesellschaftsroman und einen gänsehauterzeugenden Horror-Roman geschrieben.

Deutsche Übersetzung: Der Besucher, übersetzt von Ute Leibmann (Köln: Lübbe Ehrenwirth, 2011)

Lektorat: Uwe Voehl