Julia A. Jorges | Symbiose

Originalveröffentlichung (2017)

Im Gewand einer Spukhausgeschichte beschreibt die Autorin die sexuelle Selbstfindung ihrer Protagonistin

Ich finde es immer wieder verblüffend, wenn Autorinnen und Autoren einem restlos ausgenudelten Topoi eine neue Gestalt geben, an die vorher niemand dachte. So etwas kommt nur noch selten vor, aber es kommt vor, wie wir mit der Kurzgeschichte „Symbiose“ von Julia A. Jorges sehen. Dabei ist das, was Jorges anders macht als ihre zahlreichen Vorgänger, so erstaunlich naheliegend. Mann nuss nur darauf kommen. Lediglich eine veränderte Perspektive – Klischees meidend – bewirkt hier eine völlig neue Ansicht des Themas.
Das Thema von dem ich rede, ist das der klassischen Spukhausgeschichte. Es scheint kaum möglich, hier noch Neues zu erfinden, aber Julia A. Jorges gelingt dies tatsächlich, indem sie eingefahrene Rollenmodelle quasi in ihren Werkszustand zurücksetzt.
Gewöhnlich sind es ja insbesondere Frauen, die in derartigen Geschichten in Angst und Hysterie versetzt werden. Für eine Restrukturierung des Gewöhnlichen, also des normalen Alltags, sorgt zumeist eine wiederhergestellte patriarchalische Ordnung, die im allergewöhnlichsten Fall dann auch noch in einer wie nach Vorschrift vollzogenen Beziehung zwischen Mann und Frau gipfelt.
Das ist in „Symbiose“ nicht der Fall. Die Ich-Erzählerin, die sich zu einem günstigen Preis ihr Traumhäuschen von einer seltsamen alten Frau kauft, entstammt der üblichen Patriarchatsfalle. Von ihrem Mann verlassen, muss sie sich jetzt um sich selbst kümmern, um ihren „Seelenfrieden wiederzufinden.“
Direkt der erste Mann, den sie in ihr neues Haus abschleppt, macht ihr Dilemma deutlich: Frauen sind viel zu oft Opfer sexueller männlicher Dominanz.
Aber, Frauen, die männliche Aufdringlichkeiten abwehren, haben trotzdem ihre eigenen sexuellen Sehnsüchte. Nur wollen sie selbst darüber bestimmen, wie und mit wem sie diese ausleben möchten.
„Erst heiß machen und dann rausschmeißen“, lautet der Kommentar des abgewiesenen Mannes. Zu diesem Zeitpunkt ahnt er noch nicht, was ihm bevorsteht, indem die weibliche Seele des Hauses die Machtverhältnisse umdreht. Irgendwann „begriff ich das weibliche Wesen, das ihr innewohnte“, folgert die Erzählerin. Mit großer Selbstverständlichkeit benennt sie das Haus mit dem Personalpronomen „sie“.
Das Haus wirkt wie ein Gegenentwurf zu einer Jahrtausende alten Tradition maskuliner Stärke und trägt deswegen schon beinahe utopische Züge. Denn, das Haus in „Symbiose“ ist neben einer Wohnstätte in erster Linie der Schoß alles Weiblichen. Hier existiert eine manipulationsfreie ureigene, wilde und kraftvolle weibliche Sexualität, vor der Männer sich gewöhnlich fürchten. Die Erzählerin, für die der herkömmliche sexuelle Akt mit einem Mann „nichts als öde“ ist, genießt im Haus „körperliche Freuden nie geahnten Ausmaßes“.
Die Männer in „Symbiose“ sind zunächst dominant, aufdringlich, verlangend, besitzergreifend; letztendlich aber, wenn sie ihre Macht, ihre körperliche Überlegenheit, verloren haben, nur noch schwach und des täuschenden Scheins ihres Charismas beraubt.
Natürlich ist die Wandlung der Erzählerin zur selbstbestimmten Frau letztlich durch das Haus initiiert und somit handlungsbedingt eben nicht ganz selbstbestimmt. Aber wenn die Erzählerin die Geschichte mit den Worten „Ich verdanke ihr alles“, beginnt, wird deutlich, dass die Metamorphose, die sie durchläuft, nicht unwillkommen ist.
Ich bin mir nicht sicher, ob Julia A. Jorges beim Schreiben der Geschichte selbst überhaupt bewusst war, dass sie da gerade einen an den Wurzeln großen Übels kratzenden feministischen Text verfasste, so selbstverständlich verwurzelt mit dem Handwerk der Horror-Literatur erscheint die von ihr gewählte Perspektive.
Ein Vorhaben, wie Julia A. Jorges es auf die Beine gestellt hat, birgt immer sehr großes Potential, in Klischees zu versacken und letztendlich zu scheitern. Jorges ist alles andere als gescheitert. Sie umschifft sehr gekonnt die allzu angestrengten Gender-Klischees. Wie sie die Prioritäten auf das Weibliche als starke Instanz umschaltet und dabei die allgegenwärtigen Fehler vermeidet, ihrer Protagonistin imitierte männliche Stärke zu verleihen oder gar hasserfüllte weibliche Rache zu vollziehen, ist sehr selten in der Literatur, und das nicht nur in Genre-Literatur.
„Symbiose“ erfüllt ihre von der Autorin gestellte Aufgabe in der vorliegenden Literaturform der Kurzgeschichte durchweg beachtenswert, aber ich gehe soweit zu sagen, dass der Stoff förmlich darum bettelt, auf größeren Umfang expandiert und vertieft zu werden.

Erstveröffentlichung in: Marburger Verein für Phantastik e.V. (Hrsg.), Finstere Übernahme (Marburg: Selbstverlag, 2017)
Empfehlenswerte Ausgabe (revidierte Fassung) in: Michael Schmidt (Hrsg.), Zwielicht Classic 14 (Lahnstein am Rhein: Selbstverlag, 2018)

Shirley Jackson | Spuk in Hill House

Originaltitel: The Haunting of Hill House (1959)

Shirley Jackson - Spuk in Hill House

Die größte aller Spukhausgeschichten ist auch eine dunkle Reise in die Psyche einer unterdrückten Frau, die ausgerechnet in dieser Heimstatt der Angst dem ersten Glück ihres Lebens zu begegnen hofft.

Kaum eine Empfehlungsliste der besten klassischen Horror-Romane kommt ohne diesen Roman aus. In der Abteilung Spukhaus-Geschichten führt er die Listen in der Regel an: The Haunting of Hill House [Spuk in Hill House] von Shirley Jackson. Genau diese kollektive Einschätzung hat aber auch vermutlich verhindert, dass der Roman in den amerikanischen Literatur-Kanon aufgenommen wurde, wo er meiner Meinung nach aber hingehört. Es ist ein Fehler, The Haunting of Hill House auf einen Schauerroman zu reduzieren, aber ich verstehe durchaus, warum das so oft passiert.
Die Struktur von The Haunting of Hill House erinnert mich an die Aufnahmetechnik eines Musikstücks. Die unterschiedlichsten Tonspuren werden dabei aufgenommen, um am Ende zusammengemixt zu werden. Über eine ähnliche Textur verfügt The Haunting of Hill House, denn auch dieser Roman besteht aus einer Vielzahl von „Tonspuren“, die allesamt intensiv miteinander interagieren. Einige stehen laut im Vordergrund, andere sind so versteckt und leise, dass man sie nur bei genauem Lesen wahrnimmt. Nur, wer das Konzept dieses großen Ganzen erfasst, bekommt eine Ahnung davon, wie mächtig dieser schmale Roman in Wirklichkeit ist.
Das ist auch der Grund, warum es schlichtweg unmöglich ist, The Haunting of Hill House in einer Buchbesprechung allumfassend zu knacken. So existieren zahlreiche literaturwissenschaftliche Studien zum Werk, die in die unterschiedlichsten Richtungen ausschwärmen und den Eindruck erwecken, jeder Autor derselbigen habe ein anderes Buch gelesen. So schwächeln insbesondere jene Rezensionen, deren Autoren suggerieren wollen, das Buch besiegt zu haben. Es gehören auch renommierte Namen wie Stephen King und S. T. Joshi dazu, die zwar ohne Zweifel kluge Gedanken dazu niedergeschrieben haben, aber auch trotz aller Selbstsicherheit nicht darüber hinwegtäuschen können, dass ihnen wichtige Fixpunkte des Romans schlichtweg entgangen sind.
Im Gegensatz zu meinen berühmten Kollegen möchte ich hier also erst gar nicht so tun, als habe ich The Haunting of Hill House erfolgreich zugeritten und gebeugt. Aber ein paar Gedanken habe ich mir trotzdem gemacht.
Worin bestehen aber nun die einzelnen Schichten des Romans? Ich bin nicht annähernd geschult genug, um viele der Schlösser zu öffnen, die Hill House sichern wie einen dunklen Schatz. Doch manches, was in Hill House vor sich geht, bietet durchaus Grundstoff genug, um hier einige Interpretationen vom Stapel zu lassen.
Die Romankomponente, die sich am lautesten in den Vordergrund drängt, ist natürlich deutlich der Spukhaus-Plot. Er ist das erste, worauf man sich fixiert, der zunächst einzige Anker, den man hat. Bei anspruchsvollen Schauerromanen – nehmen wir beispielsweise The Turn of the Screw [Das Durchdrehen der Schraube] von Henry James – neigt die Gutachterkaste des Feuilletons gern dazu, das Übersinnliche als Metapher des Psychologischen anzusehen, weil ihre Hohepriester nicht so gern zugeben wollen, dass sie sich mit einen Horror-Roman die Hose schmutzig gemacht haben. Letztlich ist The Haunting of Hill House in der Tat auch oder möglicherweise sogar vorwiegend ein psychologischer Roman, doch wie die Biographen verkünden, hatte Jackson auch ein großes Interesse an Okkultismus, so dass man wohl davon ausgehen kann, dass sie durchaus mit großer Lust und absolutem Ernst bei der Konstruktion ihrer unheimlichen Geschichte tätig war und die Thematik sicherlich nicht mit gerümpfter Nase lediglich als reine Metaphorik zu verstehen wünschte.
Viele, die The Haunting of Hill House zum ersten Mal lesen, mögen sich vielleicht fragen, warum allgemein solch ein Wirbel um das Buch gemacht wird, denn auf seine Horror-Essenz reduziert, gibt es wahrscheinlich auf Anhieb aufregendere Romane, denn das, was in Hill House umtriebig ist, ist zunächst nicht viel mehr als ein schauriges Tischfeuerwerk, das eher Unbehagen als Entsetzen auslöst. Wirkliches Entsetzen verursacht der Roman erst, wenn man ihn durchgelesen hat und einem einiges klar wird.
Die Handlung ist schnell erzählt: Ein possierlich knuddelig-bärtiger Dr. Montague möchte gern die übersinnliche Energie, die man allgemeinhin Hill House nachsagt, wissenschaftlich belegen. Zu diesem Zweck mietet er sich für eine begrenzte Zeit in Hill House ein und stellt drei Mitarbeiter an, die er für besonders geeignet hält, die Aufgabe anzugehen, als da wären: der Nichtsnutz, „Lügner“ und „Dieb“ Luke Sanderson, der Hill House irgendwann erben wird, sowie die beiden Frauen Eleanor Vance und Theodora. In der Folge erleben die Protagonisten allerlei Merkwürdigkeiten, die man im klassisch-schauerromantischen Sinne als „Kettengerassel“ titulieren könnte. Zunehmend wird die Haut der vier Hobbyforscher, insbesondere die der beiden Frauen, aber dünner, und mehr und mehr rückt Eleanor in den Fokus, die offenbar eine besondere Verbindung zu Hill House zu haben scheint.
Und damit wären wir dann doch bei der psychologischen Ebene des Romans angelangt.
Shirley Jacksons Psychologie ist unmittelbar an Hill House gekoppelt. In Hill House geht nicht etwa ein rächender Geist um. Vielmehr ist Hill House gemäß des vielzitierten ersten Satzes des Romans ein eigenständiger Organismus. Auch ist Hill House für die psychisch halbwegs gesunden Charaktere zu keinem Zeitpunkt eine wirkliche Gefahr, anders als für Eleanor, mental stark beschädigt, traumatisiert von einem gesellschaftsfernen Leben unter der Fuchtel ihrer herrischen Mutter. Der Tod der Mutter nach elf Jahren aufopfernder Krankenpflege bis hin zum Ende hat Eleanor tiefsitzende Schuldgefühle eingeimpft. Diese sensible, endlos verletzte Frau, die in ihrem Erwachsenenleben „niemals glücklich“ war, und das düstere, polymorphe Haus bilden alles andere als eine erfolgsversprechende Fusion, wobei schwer zu sagen ist, wann das Haus Eleanor manipuliert und wann Eleanor selbst das Haus als Katalysator für ihre eigene ungesunde Erlebniswelt benutzt.
Während für die drei anderen Beteiligten Hill House eher gruselige Unterhaltung ist, ist der Aufenthalt in Hill House für Eleanor existentiell. Mehrmals lässt sie durchblicken, wie glücklich sie in Hill House ist. Zum ersten Mal in ihrem Leben hat sie ihr graues, unterdrücktes Leben verlassen und fühlt sich als Teil einer ihr wohlgesinnten Gruppe.
Der Fokus dieses Glücklichseins ist maßgeblich in ihrer Beziehung zu Theodora zu finden, die bei genauem Hinschauen romantische Züge trägt.
Bereits schon in Jacksons früherem Roman Hangsaman [Der Gehängte] haben Kritiker lesbische Untertöne entdeckt. Shirley Jackson selbst aber, die auch in ihrem realen Leben wegen sehr enger Beziehungen zu Frauen in diesem Verdacht geriet, wehrte es in der Öffentlichkeit vehement ab, was, der damaligen Zeit (ca. Mitte des 20. Jahrhunderts) geschuldet, nur zu verständlich ist.
Wenn man sich The Haunting of Hill House darauf bezogen einmal genau anschaut, spricht tatsächlich einiges für die Vermutung, dass Theodora lesbisch ist. Ich habe mehr als dreißig Textstellen ausfindig gemacht, in denen Theodora Nell bzw. Nellie (wie sie Eleanor zärtlich nennt) körperlich berührt, herzt, drückt, umarmt und umgarnt. „Theodora drängte sich eng an sie“, heißt es an einer Stelle. Mehrmals ergreift Theo innig Nells Hand.
Je enger Theo und Nell zusammenrücken, umso mehr legt Hill House an Fahrt auf. Von Jackson meisterhaft in Szene gesetzt, zeigt Hill House zunehmend sein düsteres Gesicht. Jackson baut eine stickige, einengende Atmosphäre des Bedrohlichen auf, liefert immer mehr kleine Details, die die Luft kälter werden lassen. Ihre einschüchternde imaginäre Architektur von Hill House gehört zu den subtilsten und suggestivsten Schilderungen ihrer Art.
Auch Nell ist Theo, wie sie Theodora nennt, sehr zugetan. „[… W] hübsch sie ist […]“, denkt sie bei Theos Anblick. Theo ist für Nell eine Spiegelung ihrer selbst, wie sie gern wäre: Theo ist das genaue Gegenteil von Nell, vorlaut, in den Tag lebend, immer positiv denkend. Dass es hier um mehr geht als um eine Freundschaft, wird an einigen Stellen deutlich. Die Szene, in der Theo Nell die Fußnägel lackiert, atmet ein spürbar erotisches Fluidum. Zu einem femininen, völlig abgeschlossenen und den Männern des Buches verwehrten Raum mit jetzt deutlicherer sexueller Symbolik erwächst das gemeinsame Badezimmer, in dem Theo Nell bittet, ihr Badewasser weiter zu nutzen. Indem Nell dies tut, vollendet sie den Akt. Die gemeinsame Verwendung des Badewassers repräsentiert hier einen Moment absoluter Intimität, wie sie nur der Geschlechtsakt bietet.
Diese Szene ist ein treffendes Beispiel dafür, wie subtil Shirley Jackson das sagt, was sie letztlich wirklich sagen will. Während Nell badet, hält Theo sie zur Eile an, weil das gemeinsam mit den beiden Männern stattfindende Frühstück ansteht. „Du musst doch inzwischen sauber genug sein, dass wir zum Frühstück gehen können“, treibt Theo Nell weiter an. Warum aber muss Nell für das Frühstück mit den beiden Männern besonders sauber sein? Damit sie nichts von der Sexualität der beiden Frauen bemerken! Wir wollen bedenken, dass wir uns in den 1950er-Jahren bewegen. Mit nur einem Satz feuert Jackson gegen die Repressalien des Patriarchats und eröffnet damit spielerisch innerhalb einer metaphorischen Ebene eine weitere Sub-Ebene des Romans. Das ist es, was ich meinte, nur ein Beispiel von vielen, die man hinter Jacksons trügerisch klarer, realistischer Sprache aufspüren kann. Der Roman ist durch geschicktesten Einsatz des Werkzeugs Sprache gespickt mit derartigen Rätseln.
Zuweilen hängt es einfach vom Fachwissen und Erfahrungshorizont der Leserschaft ab (Psychologie, amerikanisches Vokabular der 1950er Jahre, Shirley Jacksons eigenes gleichzeitig repressive und exzessive Leben etc.), wie tief man letztlich in Hill House eindringt.
Umso problematischer gestaltet es sich natürlich für die Leser einer Übersetzung. So macht es einem beispielsweise die deutsche (grundsätzlich gute) Übersetzung zusätzlich schwer, sich der lesbischen Symbolhaftigkeit sicher zu sein zu können, indem bezogen auf Theodoras Partnerschaft in ihrem Leben vor Hill House „friend“ mit „Freund“ übertragen wird. Indem er gar nicht erst auf die Idee kommt, dass es auch „Freundin“ lauten könnte, tappt Übersetzer Wolfgang Krege genau in die patriarchale Falle, die Shirley Jackson anprangert.
An dieser Stelle möchte ich aber dringend darauf hinweisen, dass dies alles Details sind, die man suchen kann aber nicht muss, denn die Genialität Jacksons liegt auch darin, dass sie schlichtweg einen virtuosen und gut lesbaren Roman geschrieben hat, dessen weibliche Hauptfigur Eleanor unser Mitgefühl und unsere Anteilnahme weckt.
Die Zuneigung und die Zuwendungen, die Nell von Theo erhält, sowie die Akzeptanz, die ihr von Dr. Montague und Luke entgegengebracht wird, sind ein Lichtblick in Eleanors angekettetem Leben. Zum ersten Mal fühlt sie sich als Teil einer Gemeinschaft. Kein Wunder, dass sie glaubt, dass Hill House gut für sie ist. Doch die Stimmung kippt genau in dem Moment, in dem sie Theo gegenüber einen richtungsweisenden Vorstoß unternimmt. Als wolle Hill House sie mit allen Mitteln bei sich behalten und keinesfalls an Theo abgeben, lenkt das Haus das Geschehen frontal in die Tragödie, von der die arme Eleanor nicht weiß, dass sie selbst der maßgebliche Teil davon ist.

Deutsche Übersetzung: Spuk in Hill House, übersetzt von Wolfgang Krege (Zürich: Diogenes, 1993)

Vernon Lee | Winthrops Abenteuer

Originalveröffentlichung: A Culture-Ghost; or, Winthrop’s Adventure (1881)

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Ein junger, introvertierter Künstler fühlt sich in dieser elegant erzählten Schauergeschichte weitaus mehr zu dem Porträtgemälde eines lange toten Sängers hingezogen als er selbst wahrhaben will, da es sein homosexuelles Erwachen auslöst.

Es ist ein großer Glücksfall, wenn eine Gelehrte wie die unter dem Pseudonym Vernon Lee publizierte Violet Paget neben ihren Fachgebieten auch noch das Handwerk des fiktiven Schreibens beherrscht und beides zu einer faszinierenden literarischen Melange zu verschmelzen weiß. Schon in jungen Jahren autodidaktisch zu einer Ehrfurcht gebietenden Kapazität und Pionierin in Bereichen wie Kunst, Reise und Ästhetik herangewachsen, schrieb sie auch Romane, die jedoch heute vergessen sind. Nicht vergessen wurden um die zwanzig ihrer  Kurzgeschichten, Erzählungen und Novellen, die die Synthese von Kunstwissen, Psychologie und dem Übernatürlichen zu beeindruckenden Resultaten führen. Vernon Lees imaginäre Chroniken flirten zumeist mit der Vergangenheit und bergen eine dunkle und gefährliche Schönheit, die nach der Gegenwart greift. Was Lees Geschichten von denen vieler ihrer in ähnlichen Gewässern navigierenden Zeitgenossen abhebt, ist die enorme Kraft ihrer Sprache und ihr ironischer, bisweilen giftiger Humor. Noch heute wirken ihre Texte außergewöhnlich alterslos, ja, geradezu modern.
Eine der frühesten ihrer Schauergeschichten ist “A Culture-Ghost; or, Winthrop’s Adventure“ [“Winthrops Abenteuer“], die bereits über alle Attribute verfügt, die Vernon Lees erzählerisches Phantastik-Werk so unwiderstehlich machen.
Der Engländer Julian Winthrop ist ein sprunghafter, in sich gekehrter junger Künstler, der sich weitgehend mit Nichtstun mehr als auskömmlich über Wasser hält und als respektabler Gast der feinen Gesellschaft wegen seiner Verschrobenheit gern gesehen ist. Während eines Aufenthaltes in Florenz trägt die Gastgeberin einer Abendgesellschaft ihre neue Errungenschaft vor, ein bislang völlig unbekanntes Lied eines vergessenen Komponisten aus der Zeit um 1780, das Winthrop schlagartig erbleichen lässt. Überstürzt verlässt er die Gesellschaft, kehrt aber später zurück, um sein Verhalten dann doch noch zu erklären.
So erzählt er, wie er während eines Streifzugs mit Verwandten durch die Lombardei einem kauzigen Sammler musikalischer Memorabilia begegnet, in dessen, einem Museum ähnelnden verfallenden Palast, sich ein Zimmer befindet, in dem ein altes Gemälde hängt – das Halbfigurenbild eines Mannes im Kostüm des 18. Jahrhunderts, das einen Sänger zeigt, der ein Notenblatt in der Hand hält; identisch mit dem, von dem später Winthrops Gastgeberin während ihres Gesangs ablesen wird.
Das Bild schlägt Winthrop in seinen Bann. Wie der kauzige Besitzer ihm erzählt, handelt es sich um den einst renommierten Sänger Ferdinando Rinaldi, der hundert Jahre zuvor lebte und eines gewaltsamen Todes starb.
Winthrop schöpft fortan jede Möglichkeit aus, einen Blick auf das Bild zu werfen, und Vernon Lee nutzt das Gemälde als Katalysator für die nun erwachende unterdrückte Sexualität Winthrops. So schwärmt Winthrop in homoerotisierter Sprache von den “üppigen roten“ und “wohlgeformten Lippen“ Rinaldis und preist seine “wunderschöne, rundliche, weiße, von blauen Äderchen durchzogene Hand“ sowie zwei “wundervolle Augen“.
Lauscht man den Biographen, dürfte unbestritten sein, dass Vernon Lee Frauen liebte. Zeit ihres Lebens litt sie demnach unter ihrer zwangsreduzierten Sexualität, und genau das fließt in die meisten ihrer Erzählungen ein – nie deutlich offen, immer der jeweiligen fiktiven Situation angeglichen. Auch Winthrops Sexualität liegt außerhalb der gesellschaftlichen Normskala. Allein die Beschreibungen des gemalten Rinaldi weisen ausgesprochen deutlich in Richtung einer gleichgeschlechtlichen Leidenschaft, aber noch demonstrativer wird Vernon Lee, wenn Winthrop sich allein in den Raum schleicht, um das Gemälde zu betrachten. Diese Begegnungen Winthrops mit dem Konterfei Rinaldis besitzen eine derartige Intimität, als handele es sich um Rendezvous. Die Andersartigkeit dieser Verbindung wird zusätzlich noch in eine andere Richtung gelenkt, indem Vernon Lee den Hinweis streut, Rinaldis Antlitz habe etwas “Unmännliches“. Dies und der Verweis auf seine “süße, sanfte Stimme“ legen nahe, dass Rinaldi ein Kastrat war.
Als sich Winthrops Aufenthalt in der Lombardei seinem Ende zuneigt, wird es wohl oder übel Zeit für ihn, sich von Rinaldis Präsenz zu lösen. Monate später jedoch kehrt Winthrop zurück und nimmt die Spur zu einer verfallenen Villa auf, in der Rinaldi gelebt hat und ermordet wurde.
Diese Suche Winthrops, die eine Suche nach seinem Selbst ist, veredelt Vernon Lee durch wunderbare Landschaftseindrücke. Auch Lees Wahrnehmungen der Landbevölkerung müssen aus erster Hand stammen. Denn voller Zuneigung beschreibt sie die Warmherzigkeit und Gastfreundschaft, die Winthrop dort erfährt und nutzt die passende Gelegenheit, sich über die Überbewertung von Kunst lustig zu machen, was wirklich witzig ist. So wie hier: “Ich händigte den Frauen mein Skizzenbuch aus; sie […] hielten alle Pferde für Ochsen und alle Männer für Frauen, riefen durcheinander und gaben spitze kleine Entzückensschreie von sich.“
Das effektvolle Finale von “A Culture-Ghost; or, Winthrop’s Adventure” führt letztendlich dahin, wohin Winthrop bereits die ganze Zeit driftete. Die spektrale Anwesenheit Rinaldis konfrontiert Winthrop mit seinen tiefsten Begierden und lässt ihn letztlich entsetzt davor fliehen.
Und damit befinden wir uns wieder am Anfang der Geschichte, als Winthrop die Gastgeberin Rinaldis Lied singen hört und ihm damit unwissentlich vor Augen führt, dass es in Wirklichkeit kein Entrinnen vor dem gibt, was so gewichtig und tief in seinem Inneren ruht.

Deutsche Übersetzung: “Winthrops Abenteuer“, übersetzt von Susanne Tschirner, in: Vernon Lee, Amour dure (Köln: DuMont, 1990)

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Vernon Lee | Oke von Okehurst

Originalveröffentlichung:
A Phantom Lover (1886)
[späterer Titel: Oke of Okehurst]

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Auf einem alten englischen Landsitz stellt sich für einen Auftragsportätmaler sein Modell als eine außergewöhnlich faszinierende aber auch abgründig gespenstische Frau heraus.

Nicht oft hat mich ein literarisches Werk gleichzeitig so fasziniert und so ratlos zurückgelassen wie dieses. Es provoziert Fragen über Fragen, die sich nicht zufriedenstellend beantworten lassen; mögliche Lösungsansätze, die nur noch mehr Fragen aufwerfen, anstatt Antworten zu geben. Und immer dieses schreckliche Gefühl, der Lösung so nah zu sein.
Vernon Lee, die renommierte Kunstkennerin, die eigentlich Violet Paget hieß, ist in ihren phantastischen Erzählungen stets ein Garant für exquisite Prosa, stilistisch immer elegant und geschliffen. Die Novelle “A Phantom Lover“ [“Oke von Okehurst“] – zuerst als eigenes Buch erschienen, später in Sammelbänden und Anthologien nachgedruckt – gehört zum Beeindruckendsten, was sie geschrieben hat. Mit der Sicherheit eines Messerwerfers wirft sie die Elemente des klassischen Schauerromans ins Ziel und dehnt das Genre dank Psychologie erstaunlich weit auf.
Liebhaber der gothic novel werden auf ihre Kosten kommen, denn alles ist da: ein alter englischer Landsitz, ein finsteres Schlüsselereignis in der Vergangenheit, das unheimliche Gemälde einer doppelgängerischen Ahnin, Andeutungen eines Geistes und eines Familienfluchs. Und doch ist es bei Vernon Lee viel, viel mehr oder viel, viel weniger als das.
“A Phantom Lover“ lässt sich auf sehr verschiedene Arten lesen, denn Lee bietet gleich mehrere Interpretationsansätze an. Mir jedoch scheint die Nabe, um die die Geschichte kreist, in erster Linie die seltsame Beziehung des männlichen namenlosen Ich-Erzählers zu seinem Modell zu sein.
Unzuverlässige Erzähler gibt es zuhauf in der Literatur, aber unser Erzähler ist so geschickt, dass man ihm kaum etwas bezüglich seiner Unseriosität anlasten kann. Ich habe nur zwei Stellen gefunden, in denen er nicht ganz sauber berichtet. So wird Oke von Okehurst bei seinem Besuch beim Erzähler von “seinem Freund“ (Italics, auch in den nächsten beiden Zitaten, von mir) begleitet. Im gesamten späteren Text hat er aber keinen solchen Freund. Wenige Sätze später spricht der Erzähler bezüglich des Begleiters von “meinem Freund“. Dies und die vage Beschreibung lassen vermuten, dass Mr. Oke bei diesem ersten Zusammentreffen von seiner Frau in Männerkleidung begleitet wird. Auch in der zweiten etwas zweifelhaften Szene verschweigt uns der Erzähler etwas bezüglich seines Verhältnisses zu Mr. Oke: “[…] er stellte mir keine Fragen mehr bis auf eine.“ Dann lenkt er ab. Wie die Frage lautete, sagt er uns nicht. Lautete sie vielleicht: “Kann es sein, dass Sie meine Frau lieben?“ Spekulation, ich weiß.
Der schüchterne Mr. Oke erteilt dem Erzähler den Auftrag, den Sommer 1880 über, ihn und seine Frau zu porträtieren. Da sich der Erzähler gerade in einer Phase des Misserfolgs befindet (er hatte eine einflussreiche korpulente Dame “alt und vulgär“ gemalt, “was sie ja auch war.“), sagt er sofort zu.
Er reist nach Kent zu den Landedelleuten und ist vom ersten Moment an gebannt von Mr. Okes Frau Alice. Den gesamten folgenden Text reichert er mit Beschreibungen Alices an, die von einer grundsätzlichen, leidenschaftlichen Huldigungen der weiblichen Schönheit zeugen. Die Addition dieser Beschreibungen macht Alice zu einem Idealbild, ähnlich Edgar Allan Poes “Ligeia“ [“Ligeia“]. So feiert der Erzähler Alice etwa als “die anmutigste und vollkommenste Frau“, die er je gesehen habe. “Sie war sehr groß“ und “gertenschlank“ und “[w]ahrscheinlich das wunderbarste Wesen, das ich je getroffen habe“. Immer wieder hebt er “ihr schönes, blasses, durchscheinendes Gesicht“ und “die erlesene Geschmeidigkeit ihrer großgewachsenen Gestalt“ hervor.
Als der Erzähler darangeht, Mr. und Mrs. Oke zu malen, wird schnell deutlich, wem von beiden seine Prioritäten gelten. Während er Mr. Oke ohne vorherige Skizzen malt, fertigt er von Mrs. Oke wochenlang Entwurf um Entwurf an und rechtfertigt das damit, dass er noch nicht die richtige Position seiner Muse gefunden habe: “Sie hob ihre wunderschön großen, blassen Augen, wobei sie die erlesene Neigung von Schultern und Nacken und ihres delikaten bleichen Kopfes zeigte, die ich vergeblich einzufangen suchte.“ Auch eine Methode, möglichst viel Zeit mit Mrs. Oke zu verbringen.
Da er wohl selbst merkt, dass sein Verhalten ihn irgendwann verdächtig machen könnte, setzt er auf die Devise “Angriff ist die beste Verteidigung“: “Ich interessierte mich für Mrs. Oke, als wäre ich in sie verliebt, und doch war ich nicht im Geringsten in sie verliebt.“
Bedenkt man, dass er eigentlich nur ein neutraler Erzähler ist, der offiziell an den Ereignissen auf Okehurst selbst nicht aktiv Anteil hat, findet hier doch erstaunlich viel persönliche Interaktion mit den Personen statt, über die er eigentlich nur wertfrei erzählen soll.
Nach und nach ist es jedoch nicht nur die Schönheit Mrs. Okes, die den Erzähler so anzieht: “Diese Frau versetzte mich entschieden in Schrecken.“ Er findet etwas “beinahe Abstoßendes an dieser wunderschönen Frau. Plötzlich wirkte sie pervers und gefährlich auf mich.“
Was an Mrs. Oke ist pervers? In der Novelle kann ich nach heutiger Sicht nichts finden, was diese Wortwahl rechtfertigen würde. Gewinnbringend könnte es daher an dieser Stelle sein, das private Leben der Autorin heranzuzuziehen. Ja, ein literarisches Werk sollte für sich selbst stehen, auch ohne nähere Informationen zur Autorin oder zum Autor zur Verfügung zu haben. Im Fall von Vernon Lee ist es aber nicht unvorteilhaft zu wissen, dass sie ziemlich sicher lesbisch war. In vielen ihrer Erzählungen wählt sie einen männlichen Erzähler als Medium, um eine abgründige, meist unheilbringende Frau darzustellen. Natürlich kann man auch hier nur spekulieren, aber diese Erzählperspektive bot Vernon Lee grundsätzlich die Möglichkeit, leidenschaftlich über andere Frauen zu schreiben, ohne im prüden neunzehnten Jahrhundert von ihrer Leserschaft als frauenliebende Frau wahrgenommen und geächtet zu werden. Die Beschreibungen Mrs. Okes sind, wie wir gesehen haben, geprägt von der erregenden Faszination, die diese außergewöhnliche Frau auf den Erzähler ausübt. Im viktorianischen England galten lesbische Frauen als pervers. Es mag ja irregeleitet sein, hier die Erklärung zu suchen, aber Vernon Lee bietet uns zusätzlich mit dem Cross-Dressing der beiden Alice Okes einen weiteren Wink für einen solcherart möglichen Hintergrund.
Aber wie auch immer: In der vorliegenden Novelle ist alles möglich, bei weitem nicht nur meine Lesart. Vielleicht dreht sich ja wirklich alles nur um den vergeblichen Eifersuchtskampf gegen einen Phantomliebhaber. Oder, vielleicht hat die Lesart für alle die, die es sich einfach machen wollen, Vorrang: Die Okes sind schlicht und einfach wahnsinnig.

Deutsche Übersetzung: “Oke von Okehurst“, übersetzt von Josef Ehold, in: Franz Rottensteiner (Hrsg.), Viktorianische Gespenstergeschichten (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1987)

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Nathaniel Hawthorne | Das Haus mit den sieben Giebeln

Originalveröffentlichung:
The House of the Seven Gables (1851)

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Im Gewand einer stimmungsvollen, sehr leisen Schauergeschichte umarmt Nathaniel Hawthorne voller Wärme die Ehrbaren, feiert die Liebe und verdammt mit abgründigem Abscheu die eigennützigen Blender.

Warum neigen wir eigentlich so oft dazu, das lange Vergangene als überholt und das Aktuelle als das Definitive anzusehen? Ist es die Überheblichkeit der Moderne oder schlicht eine Art multiples Vergessen?
Nathaniel Hawthornes dritten Roman The House of the Seven Gables [Das Haus mit den sieben Giebeln] aus dem Jahre 1851 zu lesen, ist ein wenig so, wie sich an etwas lange Vergessenes wieder zu erinnern. The House of the Seven Gables ist ein verblüffendes Beispiel dafür, wie ein alter Meister uns die beinahe ausgestorbene Kunst des stimmungskeimenden Erzählens vorführt. Er ist dabei aber nicht etwa einer, der ein großes Feuerwerk abbrennt, sondern eher ein empfindsamer Magier, der nahezu unsichtbar seine Zauberfunken  ins Publikum versprüht.
Das Fundament, auf dem The House of the Seven Gables errichtet wurde, ist denkbar schwergewichtig, denn Hawthorne leuchtet kein geringeres Thema als die Erbsünde aus. Diese findet im historischen ersten Kapitel statt, dass uns nach Hawthornes Vorgängerroman The Scarlett Letter [Der scharlachrote Buchstabe] erneut ins 17. Jahrhundert, dem puritanischen Zeitalter der amerikanischen Hexenprozesse führt. Der angesehene Oberst Pyncheon bringt den unbedeutenden Matthew Maule wegen Hexerei an den Galgen, weil er scharf auf Maules Land ist. Mit seinem letzten Atemzug sagt Maule über Pyncheon: “Gott wird ihm Blut zu trinken geben!“ Oberst Pyncheon lässt auf dem neugewonnenen Stück Erde das Haus des Titels erbauen. Er und seine Nachkommen sollen nicht viel Freude daran haben.
Nachdem Hawthorne also sein Buch mit Hilfe dieser Legende mit Pauken und Trompeten eingeläutet hat, lässt er sich in einer Zeit nieder, die in etwa seiner eigenen Gegenwart entspricht und schrumpft den Rahmen auf ein Minimum zusammen, um mit der eigentlichen Geschichte zu beginnen, die denkbar leise daherkommt.
Zum Entstehungszeitpunkt von The House of the Seven Gables war der klassische Schauerroman schon seit Dekaden totgeritten. Trotzdem grast Hawthorne den Kramladen der gothic novel ab und nimmt alles an Topoi mit, was er gebrauchen kann: ein von Verfall gezeichnetes gotisches Haus, das von einer großen Ulme verfinstert wird; einen Familienfluch; einen geheimen Raum; ein düsteres Gemälde; die Machtausübung des Mannes über die Frau. Das kennen wir alles. Aber nicht, was Hawthorne daraus macht.
Viel von dem Glanz des einstigen Hauses mit den sieben Giebeln ist nicht mehr übrig geblieben. Im Haus ist alles von Verfall und Moder gekennzeichnet, und nur noch die alte Jungfer Hebzibah Pyncheon lebt hier, sofern man ihr Dahinvegetieren Leben nennen kann. Als Lady erzogen, kann sie längst nicht mehr aus ihrer steifen Rolle heraus. Obwohl sie nicht mehr tiefer sinken kann, hält sie sich mit imaginären Adelsparolen aufrecht. Von dem immer noch an der Wand hängenden unangenehmen Gemälde des Obersten Pnycheon lässt sie sich Tag für Tag an ihre wohlhabende Herkunft erinnern. Ihr äußeres Erscheinen wird als heruntergekommen und verbiestert beschrieben. Kontakt zur Außenwelt hat sie nur noch zu dem ihr wohlgesonnenen “Lumpenphilosophen“ Onkel Venner, der die Häuser der Stadt nach Essensresten für sein Schwein abgrast und von einem Lebensabend ohne Arbeiten träumt.
Dass Hepzibah aber noch tiefer sinken kann, stellt sie fest, als sie, um sich ernähren zu können, einen Tante-Emma-Laden eröffnet. Der Kontakt zu den wenigen Kunden ist ein Gräuel für sie, und dementsprechend schlecht läuft der Laden dann auch. Trostloser kann man ein Leben wohl nicht fristen.
Das ändert sich aber schlagartig, als eines Tages Hepzibahs junge Cousine Phoebe  auftaucht und einen Schwall Sonne mit ins Haus bringt. Hawthorne liebt es, mit den Gegensätzen Licht und Dunkelheit zu spielen und setzt hier sehr bewusst auf kraftvolle Metaphern. Phoebe ist die unverdorbene Eva, die offensichtlich nicht ohne Grund in diesem heruntergekommenen Eden wie aus dem Nichts auftaucht. Ihr Erscheinen bewirkt eine erste Wende im Haus mit den sieben Giebeln. Die Misanthropin Hepzibah muss sich eingestehen, dass ihr das lebensfrohe Wesen Phoebes guttut, und das nicht nur, weil Phoebe Hepzibahs Hausladen zum Erfolg führt.
Neue Dunkelheit kehrt jedoch mit dem Erscheinen von Hepzibahs Bruder Clifford ein, den ein jahrzehntelanges Trauma heimsucht, das ihn zu einem gebrochenen alten Mann mit dem zeitweiligen Verstand eines Kindes gemacht hat. Auch ihn verzaubert Phoebe mit ihrer lebensbejahenden Art. Zusammen mit einem Untermieter, dem Protestkünstler Holgrave, bildet der bunte Haufen eine Kommune der Verlierer, dessen zaghaftes Zusammenwachsen in der Not Hawthorne mit unglaublicher Intensität zeichnet. Obwohl diese Menschen, mit Ausnahme Phoebes, derart tiefe Wunden davongetragen haben, dass sie eigentlich nie mehr menschlicher Nähe trauen dürften, führt Phoebe unbewusst alles zusammen. So sagt Onkel Venner nicht grundlos: “Es ist unbegreiflich, wie manche Leute einem so selbstverständlich werden können wie der eigene Atem […]“.
In einer Schlüsselszene zwischen Phoebe und Holgrave wirft Hawthorne alles in die allegorische Waagschale und lässt stark romantisierende Bilder deutlicher sprechen als es die beiden tun. Die Zeit scheint angehalten, und in einem stillen Mikroversum treffen Adam und Eva aufeinander. In diesem spirituellen Szenario gewinnt Holgrave die absolute Kontrolle über die Frau, die er liebt – und widersteht im zerbrechlichsten Augenblick des Buches zugunsten dieser Liebe der Verführung, Phoebe für immer zu unterjochen.
Diese Momente voller Harmonie gehören in all dem Odem der sündenverseuchten Vergangenheit zu den bewegendsten Szenen des Buches, die zudem sehr deutlich zeigen, dass Hawthornes Herz für die Gestrauchelten schlägt. Hawthorne hält zu den kleinen Leuten und hat nur Abscheu übrig für eine “erbärmliche Seele“ wie dem Richter Pyncheon.
Denn dieser Verwandte Hepzibahs, Cliffords und Phoebes, dieses Prachtexemplar von einem Manipulator, stolziert jetzt ins Haus der sieben Giebel, um den dunklen Schlund der Vergangenheit erneut aufzureißen und Clifford und Hepzibah endgültig zu vernichten.
Nathaniel Hawthorne prangt wie ein Steinriese über seinem schwierigen Stoff, den er jedoch zu jeder Zeit fest im Griff hat. Virtuos lenkt er seine in einer wunderschönen Sprache erzählte Geschichte sowohl durch die tiefsten Abgründe der menschlichen Seele als auch die paradiesischen Momente, die Menschen durchaus zu erschaffen in der Lage sind. Man kann die subtile, eher angedeutete Art und Weise, wie er die Geheimnisse des Romans lüftet, nur vorbildlich und The House of the Seven Gables ohne Zweifel ein Meisterwerk nennen.
Und hoch darüber breitet Hawthorne seine tröstenden Arme aus und outet sich als großer  Humanist, der den Ehrlichen ihre Menschenwürde zurück gibt.

Empfehlenswerte deutsche Übersetzung: Das Haus mit den sieben Giebeln, übersetzt von Irma Wehrli (Zürich: Manesse, 2014)

Edgar Allan Poe | Ligeia

Originalveröffentlichung:
Ligeia (1838)

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Eine Frau von der man nicht weiß, ob man sie fürchten oder anbeten muss. Mensch oder Göttin? Ein Mann, obsessiv und im Opium-Delirium. Und dann der Horror, in Wellen, wie eine Flut des Grauens. Was für eine Geschichte!

Wie nah man mit einer Geschichte des Grauens der Formvollendung kommen kann, zeigt sehr schön Edgar Allan Poes Erzählung “Ligeia“, die 1838 zunächst in Magazinform erschien und nach einigen nicht unerheblichen Überarbeitungen schließlich 1845 in ihrer endgültigen Fassung glänzen durfte.
“Ligeia“ zeigt überwältigend, wie nah Schönheit und Horror nebeneinander stehen, wenn ein wahrer Meister diesen Gegensatz bis zum überhaupt Möglichen ausreizt.
Erzählt wird “Ligeia“ in erster Person in Rückschau. Für den namenlosen Erzähler bietet das Gelegenheit, uns an seiner großen Liebe zu der geheimnisvollen Ligeia teilhaben zu lassen. Wie viel wir diesem opiumisierten Erzähler überhaupt glauben dürfen, bleibt uns überlassen, aber Hinweise wie der fünfeckige Turm, in den später Lady Rowena einquartiert wird, fachen den Glauben an etwas Übernatürlichem durchaus an.
Obwohl er Jahre mit ihr zusammengelebt hat, nennt der Erzähler sie “Geliebte“. Er hat sie “in einer großen, alten, heruntergekommenen Stadt am Rhein getroffen“ und ihren Familiennamen “niemals erfahren“. Das Einzige, was er über sie weiß, ist, dass sie einer “sehr alte[n] Familie“ entstammt, “mit einer in fernste Jahrhunderte zurückgehenden Ahnenreihe“. Geheimnisvolle Stimmung im Konzentrat durch Auslassungen an den richtigen Stellen.
Mit aller Inbrunst zelebriert er Ligeias Schönheit, ihre mamorweiße Haut, ihre schimmernden rabenschwarzen Haare. “Hochgewachsen, sehr schlank“ und mit einer tiefen, melodiösen Stimme sprechend. Alle Gedanken des Erzählers kleben an der Erinnerung an sie, und die Beschreibung ihrer Erscheinung ist eine große literarische Hymne auf die Schönheit einer Frau, einer Göttin. Dabei ist ihre Schönheit nicht auf die reine Anmut reduzierbar, sondern gebunden an Mysterien und etwas undeutlich Furchteinflößendem. Sie strömt vage spürbar eine unterschwellig aggressive Sexualität aus, und wenn der Erzähler ihre Augen als “um vieles größer […] als die […] unserer eigenen Rasse“ beschreibt, verstärkt er den Eindruck, dass Ligeia nicht ganz menschlich sein könnte. Vielleicht ist sie wirklich eine Göttin.
Sie ist aber auch intellektuell deutlich mehr als nur die schöne Geliebte. Der Erzähler nennt sie seine Gelehrte, der er alles wichtige Wissen verdankt. Die wohl zentrale Erkenntnis, die er so gewinnt, ist ihre Aussage, dass Menschen nur sterben, weil sie nicht die Kraft haben, sich gegen den Tod aufzulehnen.
Trotzdem stirbt sie – einfach so –, und man denkt unwillkürlich, dass eine solche Frau nicht derart grundlos dahinsterben kann. Man ist fassungslos über die Gewöhnlichkeit ihres Todes, den man in der konsequenten Schlichtheit so nicht von ihr erwartet hätte.
Durch die Hinterlassenschaft Ligeias vermögend geworden, zieht der Erzähler von Deutschland aus nach England in eine alte Abtei. Jetzt völlig allein und permanent unter Opiumeinfluss, richtet er sich, um sich abzulenken, in ägyptisch-königlichem Stil ein, und plötzlich ist er verheiratet mit der blonden, blauäugigen Lady Rowena.
Aber die neue, aus finanziellen Gründen eingegangene Ehe steht unter dem Gestirn der Verdammnis. Rowena hat Angst vor der düsteren Aura des Erzählers und ist weit davon entfernt, ihn zu lieben. Im Gegenzug beginnt er sie abgrundtief zu hassen. Gegen das übermächtige Andenken der Ligeia kann Rowena nur verlieren.
Dann setzt das Grauen ein. Aber ist es für den Erzähler überhaupt schrecklich, was da passiert oder ist es die Erfüllung seines einzigen Herzenswunsches?

Empfehlenswerte deutsche Übersetzung: “Ligeia“, übersetzt von Michael Görden, in: Michael Görden (Hrsg.), Das große Buch der erotischen Phantastik (Bergisch Gladbach: Bastei-Lübbe, 1984)

[Rezension] Sarah Waters – Der Besucher

Originalveröffentlichung:
The Little Stranger (2009)

Besucher

Sarah Waters ist schon eine mutige Autorin. Nachdem sie sich mit vier preisgekrönten und in den Bestsellerlisten ansässigen Romanen mit hauptsächlich lesbischen Charakteren in die Herzen ihrer Leser geschrieben hat, wagt sie es, mit ihrem fünften Roman The Little Stranger Neuland zu betreten. Denn zum einen wird The Little Stranger in erster Person aus der Perspektive eines Mannes erzählt, zum anderen wählt Waters, nachdem sie in ihrem zweiten Roman Affinity [Selinas Geister] noch davor gekniffen hat, die Abzweigung, die das Übernatürliche in ihre Zeilen einlässt. In der Form einer postmodernen epischen Geistergeschichte zieht sich Waters insbesondere die Auswirkungen des 2. Weltkriegs auf das britische Standessystem in den Fokus.
Der umfangreiche Roman beginnt mit Glanz und Gloria im Jahr 1919, als der 10-jährige Erzähler Faraday (sein Vorname bleibt Geheimnis), einer der bürgerlichen Schaulustigen anlässlich eines großen Festes der Ayres‘, zum ersten Mal dem prunkvollen georgianischen Herrenhaus Hundreds Hall nahe kommt. In einer Szene, die die Saat des nachfolgenden Romans legt, gelingt es Faraday durch seine Mutter, die in Hundreds Hall beim Hauspersonal gearbeitet hat, ins Innere des Herrenhauses zu gelangen. Als er in einem Raum ein Stuckfries sieht, bricht er aus einem Relief aus Eicheln eine Eichel heraus und steckt sie ein. Seine Begründung dafür lautet: „Ich wollte mir einen Teil der Schönheit sichern, gerade so, wie ein Mann sich eine Locke von dem Haar des Mädchens bewahren möchte, in das er sich unsterblich verliebt hat.“
Fast dreißig Jahre später, 1947, führt ein Zufall Faraday erneut nach Hundreds Hall. Er ist inzwischen der Landarzt Dr. Faraday, und in Vertretung für den eigentlichen Hausarzt der Ayres‘ betritt er erneut Hundreds Hall. Die Ayres‘, einst eine der einflussreichsten Familien der Gegend, bestehen aus der über 50-jährigen Mrs. Ayres und ihren beiden Kindern, dem Kriegsverletzten Roderick und der Tochter Caroline, die, obwohl erst etwa sieben- oder achtundzwanzig Jahre alt, bereits den Ruf einer altjungferlichen, leicht verschrobenen Frau hat. Dr. Faraday fällt insbesondere ins Auge, in welchem Ausmaß der Krieg den Status der Ayres‘ nach unten korrigiert hat. Zwar besitzen sie noch das riesige Herrenhaus und das umliegende Land, aber ansonsten sind sie verarmt und leben von der Hand im Mund. Hundreds Hall glänzt nicht mehr, wie Faraday es vor vielen Jahren zuletzt gesehen hat. Die Gärten sind verwildert, das Haus ist vom Zahn der Zeit angefressen, und ganze Hausflügel sind abgesperrt.
Die nächsten zwei- bis dreihundert Seiten widmet sich Sarah Waters in aller Ruhe dem Aufbau ihrer Charaktere. Die Charaktere wachsen mit jeder Seite unauffällig, und Dr. Faraday wird zunehmend ein Freund des Hauses. Er besucht die Ayres‘ jetzt bei jeder sich bietenden Gelegenheit, behandelt den Kriegsversehrten Roderick mit einer Elektrotherapie, gewinnt das Vertrauen der immer noch ihrem Erbe verhafteten Mrs. Ayres und freundet sich mit der unkonventionellen Caroline an.
Und immer wieder Hundreds Hall, das Waters mit einem unglaublichen Detailreichtum beschreibt. Aber auch, wenn Hundreds Hall kontinuierlich an Charakter gewinnt, scheint es auf dem absteigenden Ast. Wie ein Organismus beginnt das Gebäude ein Gliedmaß nach dem nächsten zu verlieren. Der Verfall scheint nicht mehr aufzuhalten zu sein.
Dass Sarah Waters mehrere hundert, beinahe ereignislose, Seiten voranstellt, mag manchem Leser nicht gefallen, jedoch ist The Little Stranger stets außerordentlich fesselnd zu lesen. Der behäbige Handlungsaufbau ist eine lohnende Investition, denn sowohl die Ayres‘ als auch Hundreds Hall gewinnen eine derartige Dreidimensionalität, dass man als Leser emotional immer tiefer in das einsame, unaufhaltsam sterbende Herrenhaus gesogen wird und dem dunklen Schicksal der Ayres‘ mit wachsender Zuneigung folgt. Der unaufhörliche Stimmungsaufbau muss Sarah Waters sehr viel abverlangt haben, aber das lohnenswerte Ergebnis ist, dass man der Welt von Hundreds Hall so nah kommt wie nur wenigen imaginären literarischen Landschaften.
In die Erzählung des bis dahin schemenhaften und neutralen Dr. Faraday mischen sich jetzt zunehmend seltsame Begebenheiten und immer unheimlichere Ereignisse. Dr. Faraday, stets der Rationalist in Person, muss hilflos dem Fall des Hauses Ayres beiwohnen. Der schleichende Tod von Hundreds Hall greift jetzt auch nach den Familienmitgliedern. Obwohl den Ayres‘ längst klar ist, dass etwas Übernatürliches – „Der kleine Fremdling“ des Originaltitels – in den Mauern von Hundreds Hall zu angsteinflößender Größe anwächst, wird Dr. Faraday nicht müde, rationale Erklärungen zu suchen. Ausgerechnet der im menschlichen Umgang leicht primitive Kollege von Dr. Faraday, Dr. Seeley, kommt der Sache wohl am nächsten, wenn er Dr. Faraday die esoterisch klingende Erklärung verkaufen will, dass die unheimliche Präsenz in Hundreds Hall ein von einem lebenden Menschen abgespaltetes Schatten-Ich ist, entstanden aus einem dunklen Keim, „um zu wachsen wie, wie ein Kind im Mutterleib.“
The Little Strangerlässt seine Leser verwirrt zurück, denn das Ende wirft Fragen auf, die sich zunächst nicht ohne weiteres beantworten lassen. Wer sich aber darauf einlässt, kann sich mit dem Roman auch noch lange nach der Lektüre beschäftigen, denn die mögliche Lösung der Rätsel kann erst im Kopf des Lesers gefunden werden. Dabei stellt sich als wichtigste Frage: Was terrorisiert Hundreds Hall? Weitere grundlegende Detailfragen sind: Warum beginnt der Fall des Hauses Ayres erst, seit Dr. Faraday dort verkehrt? Warum geschieht niemals etwas Unheimliches, während Dr. Faraday in Hundreds Hall anwesend ist?
Sarah Waters hat mit der finsteren, übernatürlichen Tragödie The Little Stranger ihr reifstes Buch geschrieben. Im Gegensatz zum konstruiert wirkenden Vorgängerroman The Night Watch [Die Frauen von London] fließt The Little Stranger mit einer eigenen inneren Logik. Mit Caroline Ayres hat Waters ihre wohl nuancierteste und liebenswerteste weibliche Handlungsfigur geschaffen. Obwohl sie von Dr. Faraday immer wieder als hässlich dargestellt wird, lassen seine sachlichen Beschreibungen Carolines sie paradoxerweise als außerordentlich attraktiv vor dem inneren Auge des Lesers entstehen. Sie ist die wahre Feministin in Waters Gesamtwerk, ohne jemals darüber nachgedacht zu haben, was Feminismus ist. Sie rasiert sich nicht die Beine, stiefelt am liebsten mit ihrem Hund Gyp durch die Wälder, legt nicht den geringsten Wert auf standesgemäße Kleidung und weigert sich beharrlich zu heiraten. Und das ohne die geringste aggressive Attitüde. Es ist einfach ihre Natur.
Die übernatürlichen Eingriffe in die Handlung sind subtil und schaurig. Mit großem Respekt vor den Klassikern der unheimlichen Literatur bedient Sarah Water sich traditioneller Topoi wie „Poltergeist“ und „Rache aus dem Reich der Toten“ und gliedert diese in ihre großen Themen ein, als hätten sie schon immer dazugehört.
Sarah Waters hat einen großen, zu Herzen gehenden Gesellschaftsroman und einen gänsehauterzeugenden Horror-Roman geschrieben.

Deutsche Übersetzung: Der Besucher, übersetzt von Ute Leibmann (Köln: Lübbe Ehrenwirth, 2011)

Lektorat: Uwe Voehl

Oliver Onions | Die lockende Schöne

Originalveröffentlichung:
The Beckoning Fair One (1911)

Oliver Onions - Die lockende Schöne

In dieser makellosen Schauernovelle verbindet sich in Formvollendung die Zusammenführung subtil vernichtender Verführung, Psychologie und Liebe.

Wie weitsichtig war doch dieser Autor. Mit leichter Hand vermischt er die klassische Spukhausgeschichte mit Psychologie und emotionalen Untiefen zu einer unheimlichen Novelle, die mit an der Spitze des Genres steht und die Möglichkeiten anzeigt, wie weit man ein genre-typisches Thema expandieren kann.
“The Beckoning Fair One“ [“Die lockende Schöne“] lässt, wie viele herausragende phantastische Geschichten, mindestens zwei Lesarten zu. Dabei scheint mir die eine, nämlich der psychologische Verfall eines Menschen, nicht so überzeugend zu sein wie die andere, denn ein plausibler Grund für das plötzliche geistige Abdriften des Protagonisten Paul Oleron, zeitgleich mit Bezug des alten Hauses, erschließt sich mir nicht. Da erscheint mir die andere Lesart, die einer Geistergeschichte nämlich, sehr viel stimmiger und zugegebener Weise auch faszinierender.
Der 44-jährige Paul Oleron hält sich als Schriftsteller über Wasser, hat es aber satt, ständig zwischen seinem Arbeitszimmer und seiner Wohnung in London hin- und her zu pendeln. Da kommt ihm ein altes, leer stehendes Backsteinhaus recht, das er durch Zufall entdeckt. Ohne Zeit zu verlieren, mietet er eine Wohnung in dem Haus an. Er befindet sich gerade in der Mitte des Romans Romilly, einer Liebesgeschichte, die laut Olerons platonischer Freundin Elsie Bengough seinen Durchbruch als Schriftsteller bewirken wird. Oleron setzt alles daran, möglichst schnell seinen Hausstand zusammenzuraffen und in seine neue Heimstatt einzuziehen. Sein vorrangiges Ziel ist es, hier konzentriert seinen Roman zu vollenden, allein schon, weil ihn bald wirtschaftliche Probleme belasten werden. Romilly besteht bis dahin aus fünfzehn Kapiteln. Dabei ist Romilly Bishop eine Romanfigur, die bereits nach kurzer Zeit begonnen hat, “aus sich heraus zu sprechen und zu handeln“. Aber bereits am ersten Tag in seiner renovierten neuen Wohnung, gelingt es ihm vor lauter Ablenkungen nicht, das Buch weiterzuschreiben, was sich in den nächsten Tagen kontinuierlich fortsetzt. Schon nach kurzer Zeit ist klar, dass etwas mit diesem Haus nicht stimmt. Elsie fällt kurz hintereinander im Haus zwei seltsamen Unfällen zum Opfer, bei denen sie leicht verletzt wird. Während Oleron das zwar merkwürdig erscheint, ist Elsie (dank weiblicher Intuition?) bereits so weit zu wissen, dass sie in diesem Haus unerwünscht ist.
Mit Oleron geht es unterdessen rapide bergab. Er wird gegenüber Elsie, mit der ihn eine zehnjährige Freundschaft verbindet, immer unzugänglicher und denkt zunehmend darüber nach, die fünfzehn Kapitel von Romilly zu verwerfen und neu zu schreiben, da er der Figur der Romilly immer weniger abgewinnen kann. Weil Elsie spürt, dass sie Oleron verliert, gelingt es ihr nicht mehr, während einer verzweifelten Aussprache vor Oleron ihre wahren Gefühle zu verheimlichen. Selbst Oleron, dem Weltfremden, wird jetzt bewusst, dass Elsie ihn in Wirklichkeit seit all den Jahren liebt. Dass Oleron unter seinem Staubpanzer aber auch nicht ganz ohne Gefühle für Elsie war, untermauert schon die Tatsache, dass er kurz davor war, ihr mit Romilly ein Denkmal zu setzen.
Aber Oleron ist schon zu tief in den Bann des Hauses geraten, um noch zurückrudern zu können. Es häufen sich für Oleron die Anzeichen, dass das Haus eine starke feminine Präsenz beherbergt. Die Melodie eines topfenden Wasserhahns entpuppt sich als eine uralte Weise namens “Die lockende Schöne“, und als Oleron nachts dann auch noch das streichende, knisternde Geräusch einer sich das Haar kämmenden Frau hört, ist er restlos dieser nicht-humanen Entität verfallen.
Oliver Onions hat die große psychologische Aufgabe, die er sich gestellt hat, über die gesamte Länge dieser herausragenden Novelle durchgehalten und bewältigt. Indem er es den Lesern überlässt, sowohl die emotionalen als auch die übernatürlichen Andeutungen selbst zusammenzufügen, bleibt die Geschichte immer glaubhaft. Die rätselhafte Stimmung, die von Anfang an vorherrscht, wird durch keinerlei rationale Erklärung geschändet. Am Ende bleiben dem Leser ambivalente Gefühle übrig. Olerons törichtes Verhalten weckt in uns eher Wut als unser Mitgefühl. Elsie jedoch, diese große, hübsche und sehr weibliche Frau ist die heimliche Hauptfigur der Novelle. Ihr Schicksal bricht uns das Herz.

Empfehlenswerte deutsche Übersetzung: “Die lockende Schöne“, übersetzt von Waltraud Götting, in: Oliver Onions, Die lockende Schöne (Bergisch-Gladbach: Bastei-Lübbe, 1984)

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