[Rezension] Elizabeth Hand – In der Nähe von Zennor

Originaltitel: Near Zennor (2011)

Hand-Zennor

Elizabeth Hand erinnert mich manchmal an diese sehr selten gewordenen Menschen, die noch die Fertigkeiten längst vergessener Berufe beherrschen. Mit Ihrer komplexen Novelle “Near Zennor“ [“In der Nähe von Zennor“] eifert sie den Meistern der Vergangenheit nicht nur nach, sondern stellt sich auch direkt neben sie. “Near Zennor“ lebt von Atmosphäre und Stimmungsaufbau, und Elizabeth Hand versteht es hier virtuos, sich insbesondere die Natur und die heidnische Vergangenheit Britanniens zu eigen und zum Hauptcharakter ihrer Geschichte zu machen. Algernon Blackwood praktizierte das Beschreiben einer berauschend schönen und doch feindseligen Natur in Formvollendung in seiner Novelle “The Willows“ [“Die Weiden“] (1907), aber, mehr noch zollt “Near Zennor“ Robert Aickman Tribut, dessen Erzählung “The Trains“ [“Die Züge“] (1951) mit ihrer rätselhaften Imagination einer trostlosen, vom Rest der Welt abgetrennten Natur, mir da als erstes in den Sinn kommt. Wie Aickman versteht Elizabeth Hand es, ein intensives metaphysisches Fluidum aufzubauen und mit einer realistischen Gegenwartskomponente zu verknüpfen, was in eine sehr reizvolle Synthese mündet.
Der Amerikaner Jeffrey Kearin, vermutlich Mittfünfziger und angesehener Architekt, trauert um seine Frau, der Engländerin Anthea, die völlig überraschend durch einen Gehirnschlag ums Leben kam. Bei der Auflösung des gemeinsamen Haushaltes findet Jeffrey in einer Blechdose fünf alte Briefe, die seine Frau als 13-jährige an den britischen Fantasy-Schriftsteller Robert Bennington schrieb. Alle Briefe waren ungelesen zurück an Anthea gegangen. Wie Jeffrey herausfindet, beendete ein Pädophilie-Skandal später Benningtons Karriere. Jeffrey ist umso beunruhigter, da aus den Briefen hervorgeht, dass Anthea und zwei Freundinnen damals Bennington tatsächlich zu Hause besucht hatten.
Da Jeffrey noch mit einer der Freundinnen, Evelyn, in Kontakt steht, fliegt er – in seiner Trauer sowieso zu nichts anderem in der Lage – auf der Stelle nach England und besucht Evelyn, von der er Hintergründe zu dem Besuch der Mädchen bei Bennington erfährt. Hintergründe, die einhergehen mit einem mysteriösen, rational nicht artikulierbaren Ereignis, das den Mädchen damals widerfuhr.
Interessant für Leserinnen und Leser, die sich auch für das weitere Werk Elizabeth Hands interessieren, ist, dass “Near Zennor“ nach dem Roman Generation Loss [Dem Tod so nah] (2007) ein weiteres Schlüsselwerk im Œuvre Hands ist. Wie die Autorin in Interviews preisgab, hatte sie als Mädchen zusammen mit zwei Freundinnen das gleiche unerklärliche Erlebnis wie Anthea und ihre Freundinnen. Mit “Near Zennor“ schrieb sie sich davon frei, denn bis heute hat Hand für das Erlebte keine schlüssige Auslegung.
Jeffrey setzt sich in den Zug und fährt nach Cornwall, in die Nähe der Küstenstadt Zennor, wo alles seinen Ursprung zu haben scheint.
Jetzt ist Elizabeth Hand da, wo sie hin wollte. In einer realen Welt, die so fremdartig wird, dass sie sich zu einer imaginären Landschaft voller Schönheit und Schrecken wandelt. Einer Landschaft aus Weiden und Mooren, mit einer manchmal krankhaft verdörrten Fauna, aber auch den Überbleibseln vorzeitlicher Kulturen. Uralte Steinmauern segmentieren die Landschaft in geometrisch scheinende Abschnitte, und Findlinge und Menhire weisen Jeffrey den Weg, der versucht, dieses unwirkliche Stück Land zu bezwingen. Sein Ziel ist die Golovenna-Farm, in der Robert Bennington vor vier Jahrzehnten die drei Mädchen empfangen hatte. Lebt Bennington noch? Niemand scheint es zu wissen, und als Jeffrey sein Ziel erreicht, ist er so einsam wie nur möglich und doch nicht allein.
Nicht viel passiert in “Near Zenna“, aber es wird ein Urinstinkt geweckt, dass da etwas ist, etwas, das nicht in diese Welt gehört. Die Stille und Langsamkeit, die Hands alternatives, magisches Cornwall ausstrahlt, schenkt uns ein traumartiges Empfinden, so als versinke man ganz langsam unter Wasser, wehre sich aber nicht hysterisch dagegen, sondern lasse sich mit aller Bereitschaft weiter sinken, um die Schönheit des Gesichteten und die absolute Lautlosigkeit zu genießen. Als wisse man gleichzeitig aber auch, dass man schnellstmöglich wieder auftauchen muss, um zu überleben.

Deutsche Übersetzung: In der Nähe von Zennor, übersetzt von Bernhard Reicher, in: Dr. Nachtstrom (Hrsg.) / Bernhard Reicher (Chefredakteur) / Rudolf Stark (Redaktion), Visionarium 7: Schlüssel und Tore (Graz: Edition Gwydion, 2016)

[Rezension] Elizabeth Hand – Dem Tod so nah

Originaltitel: Generation Loss (2007)

Hand-generation

Wenn sich literarisch versierte Autoren einmal in völlig fremde Genre-Gewässer wagen, führt das oft zu bemerkenswerten Ergebnissen. So auch im Fall von Elizabeth Hand, die nach ihren preisgekrönten dunklen Phantastik-Romanen und -Novellen wie beispielsweise Waking the Moon [Die Mondgöttin erwacht] sowie dem literarischen Künstlerroman Mortal Love nun mit Generation Loss [Dem Tod so nah] einen Abstecher in das Hoheitsgebiet des realistischen Thrillers macht.
Dabei ist Generation Loss eher ein charaktergetriebener Roman, und man hat anfangs das Gefühl, dass die Ich-Erzählerin Cassandra “Cass“ Neary da in eine Geschichte stolpert, die überhaupt nicht die ihre ist. Cass Neary – das ist eine der literarischen Schöpfungen, die man so schnell nicht wieder vergisst. Gescheiterte Skandalfotografin, offen bisexuell und Kleptomanin – das sind die offensichtlichsten Eckpunkte, um sie zu beschreiben, aber sie ist noch viel mehr. Anfangs noch die unerschrockene Harte, säuft, klaut und spioniert sie sich wie eine abgestürzte Pippi Langstrumpf durch das Geschehen. Obwohl sie wirklich nicht zu beneiden ist, muss man doch zutiefst bewundern, wie sehr sie es trotz ihrer psychischen Defizite schafft, tatsächlich nur das zu tun, was sie will. Eigentlich etwas, wovon wir alle träumen.
Nach vielen Jahren des Herumhängens in der New Yorker Underground-Szene bekommt sie von einem alten Bekannten den Auftrag, für ein großes Magazin ein Interview mit der seit Jahrzehnten verstummten Kult-Fotografin Aphrodite Kamestos zu führen. Kamestos, inzwischen eine alte Frau, einst berühmt für ihre effektreichen Fotomanipulationen, zu einer Zeit, als so etwas eigentlich noch gar nicht möglich war, habe ausdrücklich nach Cass für dieses Interview verlangt, erfährt Cass.
Für Cass geht damit ein Herzenswunsch in Erfüllung. In der Jetztzeit, mit Ende Vierzig, streunt sie immer noch heimat- und ziellos durch New York, hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser und unternimmt nicht viel um auch nur irgendetwas für sich selbst zu tun. Ende der 1970er Jahre, zu Zeiten der Punk-Revolution, hatte sie sich einen zweifelhaften Ruf als unmoralische Schock-Fotografin gemacht, doch ihre geistige Autonomie sorgte letztlich dafür, dass sie es vergeigte.
Also gondelt sie vollgedröhnt mit Jack Daniels und Crystal an die Küste Maines, nach Burnt Harbor, um schließlich auf der Insel Paswegas auf Aphrodite Kamestos zu treffen.
Zunächst passiert nicht viel. Elizabeth Hand nutzt die Seiten lieber für den dichten Stimmungsaufbau einer fast imaginär wirkenden, ständig sturmnaßkalten Inselwelt, die besiedelt ist mit mürrischen Typen und den Überlebenden einstiger Hippie-Kommunen. “Ich war hier nicht die einzige Irre“, resümiert Cass trocken.
Doch begleitet von lokalen Vermisstenanzeigen spürt man förmlich, dass die urwüchsige Idylle einen Makel hat. Cass begreift das von Anfang an: “Ich wusste, ich hatte ein Auge, die Gabe, zu erkennen, wo die rissigen Ränder der Welt abblätterten und etwas anderes hindurchschien.“
Und das, was da hindurch scheint, weckt unsere dunkelsten und furchterregendsten Ängste. Diese Ängste durch eine grandios visionäre Sprache zu erwecken, ist Elizabeth Hands großer Heimvorteil, den sie aus ihren früheren Werken mitnimmt. Was ihr wie kaum jemand anderem gelingt, ist, die Handlungsoberfläche mit einer dunklen, abseitigen Wahrheit zu unterlegen. Elizabeth Hand beherrscht das virtuos. Wir erkennen sofort, dass es ein Konzept des abgrundtief Bösen ist, was da manchmal durch die Schwachstellen unserer realen Welt hervor quillt. Gleichzeitig gelingt es Hand damit aber auch, Generation Loss eine schwarze, höllische Schönheit zu verleihen. Aber, um keine Zweifel aufkommen zu lassen: Generation Loss ist ein realistischer Roman, kein phantastischer. Ein realistischer Roman allerdings, der auf raffinierte Weise mit den Ausdrucksmöglichkeiten des Phantastischen spielt.
Einen faszinierenden Gegenpol dazu baut die Autorin mit ihrer ansonsten sehr klaren, realistische und detailgetreuen Erzählmethodik auf. Der Text liest sich dadurch stellenweise fast nicht mehr wie Fiktion sondern wie etwas Wahrhaftigeres. Alles ist en detail recherchiert und weiterimaginiert. Wie Elizabeth Hand uns beispielsweise die frühe Fotografie nahebringt, das ist fundiert bis zur letzten Kleinigkeit und gleichzeitig weiterphantasiert bis hin zu einem tiefen Verständnis von Schöpfung und Kunst.
Im letzten Drittel des Romans verdichtet sich Elizabeth Hands Schreibststil noch einmal erheblich. Die Zielgerichtetheit, mit der Cass und ihr Unterstützer Toby mit dem Segelboot Northern Sky von Paswegas zum großen Finale zur Insel der letzten Dinge fahren und die detailbesessene Sprache, die Elizabeth Hand nun einsetzt, erinnern an die besten Passagen aus The Left Hand of Darkness [Die linke Hand der Dunkelheit] von Ursula K. Le Guin und A Straight Cut [Ein sauberer Schnitt] von Madison Smartt Bell. Das ist eine Sprache, die keinerlei Luft mehr zwischen Text und Leser lässt.
Ich habe schon an anderer Stelle hier auf diesen Seiten auf die Bedeutung von sogenannten Schlüsselromanen im Ouvre eines Schriftstellers hingewiesen, Romanen die dem Gesamtwerk eines Autors rückblickend eine völlig neue Interpretationsebene anbietet. Elizabeth Hand hat in Interviews gesagt, dass Cassie eine Darstellung von ihr selbst sei, wie sie geworden wäre, hätte sie Anfang ihrer Zwanziger nicht doch noch die Kurve gekriegt. Mit Cass teilt die Autorin auch, dass sie als junge Frau verschleppt und vergewaltigt wurde. So sagte Hand verständlicherweise, dass sie jede Minute hasste, dieses schreckliche Buch zu schreiben. Was der Lesefreude keinen Abbruch tut.
Generation Loss ist somit auch das Zeugnis einer schriftstellerischen Teufelsaustreibung.

Deutsche Übersetzung: Dem Tod so nah, übersetzt von Angela Koonen (Köln: Bastei-Lübbe, 2015)