Julia A. Jorges | Symbiose

Originalveröffentlichung (2017)

Im Gewand einer Spukhausgeschichte beschreibt die Autorin die sexuelle Selbstfindung ihrer Protagonistin

Ich finde es immer wieder verblüffend, wenn Autorinnen und Autoren einem restlos ausgenudelten Topoi eine neue Gestalt geben, an die vorher niemand dachte. So etwas kommt nur noch selten vor, aber es kommt vor, wie wir mit der Kurzgeschichte „Symbiose“ von Julia A. Jorges sehen. Dabei ist das, was Jorges anders macht als ihre zahlreichen Vorgänger, so erstaunlich naheliegend. Mann nuss nur darauf kommen. Lediglich eine veränderte Perspektive – Klischees meidend – bewirkt hier eine völlig neue Ansicht des Themas.
Das Thema von dem ich rede, ist das der klassischen Spukhausgeschichte. Es scheint kaum möglich, hier noch Neues zu erfinden, aber Julia A. Jorges gelingt dies tatsächlich, indem sie eingefahrene Rollenmodelle quasi in ihren Werkszustand zurücksetzt.
Gewöhnlich sind es ja insbesondere Frauen, die in derartigen Geschichten in Angst und Hysterie versetzt werden. Für eine Restrukturierung des Gewöhnlichen, also des normalen Alltags, sorgt zumeist eine wiederhergestellte patriarchalische Ordnung, die im allergewöhnlichsten Fall dann auch noch in einer wie nach Vorschrift vollzogenen Beziehung zwischen Mann und Frau gipfelt.
Das ist in „Symbiose“ nicht der Fall. Die Ich-Erzählerin, die sich zu einem günstigen Preis ihr Traumhäuschen von einer seltsamen alten Frau kauft, entstammt der üblichen Patriarchatsfalle. Von ihrem Mann verlassen, muss sie sich jetzt um sich selbst kümmern, um ihren „Seelenfrieden wiederzufinden.“
Direkt der erste Mann, den sie in ihr neues Haus abschleppt, macht ihr Dilemma deutlich: Frauen sind viel zu oft Opfer sexueller männlicher Dominanz.
Aber, Frauen, die männliche Aufdringlichkeiten abwehren, haben trotzdem ihre eigenen sexuellen Sehnsüchte. Nur wollen sie selbst darüber bestimmen, wie und mit wem sie diese ausleben möchten.
„Erst heiß machen und dann rausschmeißen“, lautet der Kommentar des abgewiesenen Mannes. Zu diesem Zeitpunkt ahnt er noch nicht, was ihm bevorsteht, indem die weibliche Seele des Hauses die Machtverhältnisse umdreht. Irgendwann „begriff ich das weibliche Wesen, das ihr innewohnte“, folgert die Erzählerin. Mit großer Selbstverständlichkeit benennt sie das Haus mit dem Personalpronomen „sie“.
Das Haus wirkt wie ein Gegenentwurf zu einer Jahrtausende alten Tradition maskuliner Stärke und trägt deswegen schon beinahe utopische Züge. Denn, das Haus in „Symbiose“ ist neben einer Wohnstätte in erster Linie der Schoß alles Weiblichen. Hier existiert eine manipulationsfreie ureigene, wilde und kraftvolle weibliche Sexualität, vor der Männer sich gewöhnlich fürchten. Die Erzählerin, für die der herkömmliche sexuelle Akt mit einem Mann „nichts als öde“ ist, genießt im Haus „körperliche Freuden nie geahnten Ausmaßes“.
Die Männer in „Symbiose“ sind zunächst dominant, aufdringlich, verlangend, besitzergreifend; letztendlich aber, wenn sie ihre Macht, ihre körperliche Überlegenheit, verloren haben, nur noch schwach und des täuschenden Scheins ihres Charismas beraubt.
Natürlich ist die Wandlung der Erzählerin zur selbstbestimmten Frau letztlich durch das Haus initiiert und somit handlungsbedingt eben nicht ganz selbstbestimmt. Aber wenn die Erzählerin die Geschichte mit den Worten „Ich verdanke ihr alles“, beginnt, wird deutlich, dass die Metamorphose, die sie durchläuft, nicht unwillkommen ist.
Ich bin mir nicht sicher, ob Julia A. Jorges beim Schreiben der Geschichte selbst überhaupt bewusst war, dass sie da gerade einen an den Wurzeln großen Übels kratzenden feministischen Text verfasste, so selbstverständlich verwurzelt mit dem Handwerk der Horror-Literatur erscheint die von ihr gewählte Perspektive.
Ein Vorhaben, wie Julia A. Jorges es auf die Beine gestellt hat, birgt immer sehr großes Potential, in Klischees zu versacken und letztendlich zu scheitern. Jorges ist alles andere als gescheitert. Sie umschifft sehr gekonnt die allzu angestrengten Gender-Klischees. Wie sie die Prioritäten auf das Weibliche als starke Instanz umschaltet und dabei die allgegenwärtigen Fehler vermeidet, ihrer Protagonistin imitierte männliche Stärke zu verleihen oder gar hasserfüllte weibliche Rache zu vollziehen, ist sehr selten in der Literatur, und das nicht nur in Genre-Literatur.
„Symbiose“ erfüllt ihre von der Autorin gestellte Aufgabe in der vorliegenden Literaturform der Kurzgeschichte durchweg beachtenswert, aber ich gehe soweit zu sagen, dass der Stoff förmlich darum bettelt, auf größeren Umfang expandiert und vertieft zu werden.

Erstveröffentlichung in: Marburger Verein für Phantastik e.V. (Hrsg.), Finstere Übernahme (Marburg: Selbstverlag, 2017)
Empfehlenswerte Ausgabe (revidierte Fassung) in: Michael Schmidt (Hrsg.), Zwielicht Classic 14 (Lahnstein am Rhein: Selbstverlag, 2018)

[Rezension] Edith Wharton – Zeit der Unschuld

Originaltitel: The Age of Innocence (1920)

Die Handlung von Edith Whartons achtem Roman (ihre Novellen nicht mitgerechnet) The Age of Innocence [Zeit der Unschuld] zu umreißen, lässt sich in einem Satz abhandeln: Junger Mann heiratet Hals über Kopf seine Verlobte, um sich kurz vor der Hochzeit in eine andere Frau zu verlieben.
Nicht gerade spektakulär, und doch ist The Age of Innocence spektakulär. Und ganz so simpel, wie sie sich anhört, ist diese Dreiecksbeziehung wahrlich nicht.
Edith Wharton, die selbst solch einem Milieau aufgewachsen ist, gewährt uns einen mikroskopisch genauen aber auch sanft ironischen Blick in die hohe Gesellschaft des New Yorks der 1870er Jahre, mit all ihren unverrückbaren Traditionen und Moralvorstellungen. Minutiös entwirft sie eine prunkvolle, unanständig wohlhabende Parallelgesellschaft und fixiert dazu als korrespondierenden Kontrapunkt den schwelenden Konflikt einer verbotenen Liebe. Diese exquisite Welt in der Seifenblase besiedelt Edith Wharton mit einer Vielzahl von Charakteren, die, wie man am Ende sieht, alle ihr Quentchen Bedeutung haben. Sind schon die Nebendarsteller teilweise durchaus profiliert gezeichnet, bündelt die Autorin ihre gesamte psychologische Wucht in den drei Protagonisten, die sie außerordentlich nuancenreich zu definieren weiß.
Dem jungen Rechtsanwalt Newland Archer ist es vorherbestimmt, die mädchenhaft schöne, blonde May Welland zu heiraten. Mit dieser arrangierten Transaktion würden zwei der hochrangigsten Familien New Yorks fusionieren, was das erklärte Ziel der Familienoberhäupter ist. Archer ist sein Leben lang in diese Rolle hineingewachsen, aber in ihm wächst auch bereits die Saat des Zweifels. Trotzdem setzt er zunächst alles daran, den Hochzeitstermin vorzuverlegen, was sich als keine gute Idee erweist. Genau in dieser Phase nämlich taucht überraschend Mays Cousine, die Gräfin Ellen Olenska, in New York auf. Sie ist die dunkle Antipode zur sonnigen May. Ellen wurde von ihrem Ehemann, einem polnischen Grafen, ihrer Ehre beraubt. Allein über Andeutungen lässt sich rekonstruieren, dass Treuebruch und Gewalt seitens ihres Ehemannes Ellen dazu getrieben zu haben vor ihm zu fliehen und ihn für immer zu verlassen. Sie ist die gefallene Dunkelhaarige – ein Schattenäquivalent; geduldet, aber nicht mehr.
Die wenigen Begegnungen mit Ellen haben nachhaltige Folgen auf Archer. Ellens geistige Unabhängigkeit und ihr Mut erschüttern Archers Weltbild. Er realisiert zunehmend, wie leer sein reiches Leben in Wirklichkeit doch ist, und muss sich irgendwann eingestehen, dass er sich in Ellen verliebt hat. Flüchtige Treffen wie beispielsweise in einem fast leeren Museum; eine gemeinsame Kutschfahrt im fallenden Schnee: das sind fortan die Momente, die Archer dahin bringen sich aufzubäumen. Aber dem gegenüber steht das unerbittliche steinerne Regelwerk der hohen Gesellschaft.
Beinahe die ersten hundert Seiten dienen Edith Wharton der Exposition. Sie stellt die Charaktere vor, rückt sie an ihre Ausgangspunkte und legt das Fundament für einen sorgsam gemächlichen Handlungsaufbau. Insbesondere die erotische Annäherung zwischen Archer und Ellen zögert Wharton bis ins Extrem hinaus. Hier ein kurzes Gespräch, da ein paar Gesten, immer wieder ereignislose Interludien, in denen die Akteure ihre Zeit mit unerträglichem Alltag totschlagen und sehnsüchtig darauf warten, dass es irgendwie wieder weitergeht. Damit fördert Wharton nicht nur Archers Lustgewinn, sondern auch den der Leserschaft. Es ist enorm, mit welch geringer Schrittzahl Edith Wharton die Gräfin Archer verhexen lässt.
Das wirklich Erstaunliche an diesem Buch sind neben den Protagonisten aber auch die vielen Nebendarsteller, die die solide Basis hinter dem Vorhang bilden: obwohl vielen Leserinnen und Lesern diese sich selbst verehrenden Nebencharaktere persönlich wohl nicht ferner sein könnten, hat es mich verwundert, wie willig ich diesen stocksteifen und hoffnungslos unbelehrbaren Individuen einer besseren Gesellschaft von Beginn an gefolgt bin, was nach meiner Einschätzung sowohl im Schreibstil als auch in der Erzähltechnik Whartons begründet liegt.
Zunächst recht unspektakulär daherkommend, ist der Roman sprachlich prachtvoll und letztlich formvollendet, gleichzeitig aber auch sehr subtil. Die Beschreibungen von Häusern und ihren Interieurs, Theatern, Landschaften, Kleidungsstücken etc. sind großartig. Die einzelnen Sätze von The Age of Innocence fluoriszieren in majestätischer Schönheit.
Erfreulicherweise kommt The Age of Innocence trotz der bleischweren Thematisierung unvereinbarer Gegensätze ohne Pathos aus. Gefühle werden nicht beschrieben, sondern äußern sich über kleine aber wirkungsvolle Geschehnisse. Wenn der stets die Lage im Griff zu habenden und über den Dingen stehenden Gräfin Olenski plötzlich eine Träne herabrinnt, greift das entschieden unsere Herzen an.
Ein feinsinniger Humor trägt ebenfalls dazu bei, das Werk bei aller Traurigkeit mit einer wohltuenden Leichtigkeit zu ummanteln. Immer dann aber, wenn der Humor auf Kosten einer Handlungsfigur zu gehen droht, gleicht Wharton dies durch andere positive Hinzugaben wieder aus, wie beispielsweise bei der monströs korpulent dargestellten Mrs. Manson Mingott. die aber letztlich als einzige Entscheidungsträgerin ein großes Herz gegenüber Ellen beweist.
Das unspektakuläre Auftreten des Romans sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Plot tatsächlich mit seinen vielen Andeutungen und Fährten außerordentlich ausgeklügelt ist. Eine angenehm zurückgenommene Symbolik (wie das beschmutzte Hochzeitskleid) bietet viel Raum für eigene Überlegungen. Bei wiederholter Lektüre wird man das Buch mit weiterem Gewinn lesen.
Überdenkenswert sind auch die Geschlechterrollen der Protagonisten. Archer zieht hier die Karte des Narren, sieht er sich selbst doch als eine Art Feminist. Ellens traumatische Vergangenheit unter der Tyrannei ihres Ehemanns bringt ihn derart auf, dass er in bedrohliche Nähe dessen gerät, was die hohe Gesellschaft als Skandal von größter Unerhörtheit bezeichnen würde. Während Ellen den Archetypus des mental autonomen Individuums verkörpert, sieht Archer in May die herangezüchtete Musterehefrau ohne eine eigene Meinung – was er gern ändern würde, jedoch sehr schnell wieder aufgibt: “Es hatte keinen Sinn, eine Frau emanzipieren zu wollen, die nicht einmal ahnte, dass sie nicht frei war […].“
Ach, wie sehr er irrt, der arme manipulierte Tor, denn die Frauen sind es in Wirklichkeit, die seine Geschicke lenken, und ausgerechnet die zart-naive May sorgt als konspirative Hüterin der ehernen Gesetze dafür, dass Archer den Weg geht, den sie ihm zuerkannt hat.

Deutsche Übersetzung: Zeit der Unschuld, übersetzt von Andrea Ott (München: Manesse, 2015)

Rebecca West | Die Rückkehr

Originalveröffentlichung: The Return of the Soldier (1918)

So vieles beherbergt Rebecca Wests Kurzroman: Krieg ohne Schilderung auch nur einer Kampfhandlung; die Rolle der Frau in einer Welt, in der der Wohlstand von Männern ausgeht; eine zum Zerbrechen schöne Liebesgeschichte; betörende Landschaftsbeschreibungen, die an Schönheit kaum zu übertreffen sind. Das alles geschieht in einer trügerischen Sprache voller Mehrdeutigkeiten und Verspiegelungen

Besonders beeindruckend finde ich Bücher, die erst so schlicht und einfach daherkommen, dass man sie beinahe etwas milde belächeln möchte; und die einen später dann ziemlich beschämt in die Ecke schicken, weil sie plötzlich zu etwas sehr viel Größerem und Komplexerem gewachsen sind als es zunächst den Anschein hatte.
The Return of the Soldier [Die Rückkehr] ist solch ein Buch. Es klingt so überschaubar: Traumatisierter Kriegsheimkehrer; Frauen, die auf ihn warten; Aufbranden einer alten Liebe. Als wenn es so einfach wäre …
Man kann Rebecca Wests erstem erzählerischen Werk nur applaudieren, denn, obwohl nur von Novellenlänge, erweitert es sich von der Wurzel aus zu einer atemberaubenden Komplexität und kehrt wirklich alles ins Gegenteil um, was man von dieser Art Geschichte eigentlich erwartet.
Das beginnt schon mit dem Soldaten im (Original-)Titel, der eher eine katalysatorische Rolle als eine Hauptrolle spielt. Anstatt Kriegsgräuel zu beschreiben, schenkt Rebeca West uns einige der traumverlorensten, mit einer jubilierenden Liebesgeschichte vereinten Naturbilder, die die Literatur kennt. Und der Krieg, der hier entbrennt, ist nicht zwangsläufig nur der 1. Weltkrieg, sondern auch eine feministische Schlacht.
Die Geschichte spielt 1916 und wird in erster Person von Jenny erzählt, der Kusine des Kriegsheimkehrers Chris und Vertrauten von dessen Ehefrau Kitty. Als die begüterte Kitty Baldry in ihrem auf einer idyllischen Anhöhe thronenden Herrenhaus Baldry Court Besuch von Margaret Grey, erhält, ist Kitty alles andere als begeistert von dem armseligen Erscheinungsbild der Fremden. Erzählerin Jenny drückt es so aus: “Eine abstoßende Aura von Vernachlässigung und Armut umgab sie“. Kitty ist gezwungen, die Frau aus der missbilligten Arbeiterklasse zu empfangen, da sie offenbar wichtige Neuigkeiten zu Chris bereithält, der in Frankreich an der Front kämpft.
Die Nachricht besteht darin, dass Chris nach einem Jahr im Krieg wegen eines Granatenschocks wieder zurück in England ist. Er ist unverletzt, aber es stimmt etwas nicht mit ihm. Er verlangt nach einer Margaret Allington und erwähnt mit keinem Wort, dass er wieder zurück zu seiner Frau nach Baldry Court möchte. Wie sich schnell herauskristallisiert fehlen seinem Gedächtnis die letzten fünfzehn Jahre. Er denkt, er sei einundzwanzig statt sechsunddreißig, und die zehn Jahre Ehe mit Kitty sind restlos ausgelöscht. Die einzige emotionale Verbindung zu seiner Vergangenheit ist Margaret, seine große Jugendliebe.
Kitty und Jenny sehen ein, dass ausgerechnet die von ihnen verabscheute Margaret Grey, bei der es sich natürlich um Chris‘ frühere Liebe handelt, das einzige nutzbare Portal zu Chris‘ Erinnerung ist, und so beschließen sie zähneknirschend, mit Margaret ein Zwangsbündnis einzugehen, wobei zunehmend Jenny die Position der Entscheidungsträgerin einnimmt, was Kitty in eine für sie ungewöhnlich passive Rolle zwingt.
Und dann folgt mit der Rückschau auf die Liebesgeschichte von Margaret und Chris einer solcher Glücksmomente, die Literatur einem leider viel zu selten gibt. Auf der paradiesischen Themse-Insel Monkey Island lernen sich Chris und Margaret inmitten der sonnenbeschienen Natur kennen und lieben. “Doch heute Nacht war nirgends etwas anderes als Schönheit.“ Die Zeit hält für einen Moment an; auch für dich als Leserin oder Leser. Als “wäre es kein Ort, sondern ein magischer Zustand“, möchte man, dass es nie endet, so trunken ist man von all dieser Anmut auf dem verzauberten Monkey Island.
“Und dann lag er in einer hasserfüllten Welt“.
Die kurze, so willkommene Unterbrechung der Gegenwart ist leider schlagartig vorüber.
Das alles wäre bis hier durchaus noch eine konventionelle Novelle, eine Ablehnung des Krieges, mit Schwerpunkt auf die Folgen. Aber The Return of the Soldier ist deutlich mehr als das. Will man unbedingt ein Kernthema der Novelle isolieren, dann ist es nicht der Krieg, sondern die Rolle der Frau in einer patriarchalischen Umgebung.
Insbesondere an Kitty lässt sich das festmachen. Die Darstellung von Kitty weckt in uns nur ablehnende, ja geradezu angewiderte Gefühle. Ihr Narzissmus und ihre unerträglichen Standesdünkel, die sich insbesondere über die arme Margaret ergießen, die sie wie Dreck behandelt, lassen keinerlei Mitgefühl für eine solch elitäre, unsoziale Person in uns aufkommen. Erst ein Hinterfragen ihres Lebensweges dreht diese Empfindungen ins Gegenteil. Frauen waren zu dieser Zeit bedingungslos von ihren Männern abhängig. So definiert sich auch Kittys Dasein, sprich ihre gesellschaftliche Stellung, über ihre Rolle als treusorgende Ehefrau. Wenn Jenny schreibt “Es war uns als eine Pflicht […] erschienen, […] dass wir ihm ein kultiviertes Leben voller Schönheit boten“, ist das an dieser Stelle nicht im Sinne einer ehelichen Fürsorge gemeint, sondern als Abhängigkeitserklärung der Situation, in der Kitty sich befindet. Nicht nur, dass Kitty traumatisiert ist durch den Verlust ihres jungen Sohnes, sie hat auch die schlimmsten Existenzängste, denn ausschließlich Chris‘ mögliches Ende seiner Amnesie entscheidet darüber, ob Kitty so weiter leben darf wie bisher – zwar in Abhängigkeit, aber auch in Wohlstand – oder ob sie aus Chris‘ Leben gestrichen wird, was ihren wirtschaftlichen Untergang besiegeln würde. Freilich wurde ihr Trauma niemals psychologisch behandelt. Weil sie eine Frau ist. In den Kinderschuhen der Psychoanalyse, wurde derartiges als bloße Hysterie abgetan, hervorgerufen durch eine wesenhaft schwächere Konstitution des weiblichen Geschlechts.
Mit denselben Ängsten kämpft auch Jenny, die die Geschichte in erster Person erzählt. Sie ist ein ausgesprochen ungenauer und sich ständig der jeweiligen Situation anpassender Erzählcharakter. Anfangs Margaret gegenüber ebenso hochnäsig wie Kitty, ändert sie ihre Gesinnung so, wie es gerade erforderlich ist. Sie befindet sich in einem ähnlichen Abhängigkeitsverhältnis zu Chris wie Kitty. Sie wäre ohne Chris‘ schützendes Dach über sich in der Gesellschaft noch weit unter Margaret, denn mit fünfundreißig ist sie noch unverheiratet. Wie Kitty ohne eigenes Einkommen, ist auch sie der Gunst Chris‘ ausgeliefert. Warum sie ihr Leben lang ein “einsames Leben“ führt, darüber kann man nur spekulieren. In einer Szene kommt sie Margaret außergewöhnlich nahe. “Wir küssten einander, nicht wie Frauen, sondern so, wie Liebende es tun“. Dies könnte gewisse Spekulationen anheizen, dass sie möglicherweise lesbisch ist, was ihre lebenslange Partnerlosigkeit erklären könnte. Genauso gut wäre es aber auch möglich, dass sie Chris mehr liebt, als es gut für eine Kusine wäre. Wie eine Schlange windet sich Jenny um sämtliche Hindernisse. Erst ist sie die enge Vertraute Kittys, dann verrät sie Kitty zugunsten Margarets und tituliert Kitty als “die die falscheste Person auf Erden“, welche sie, Jenny, schon immer hasste. Margaret gegenüber rümpft sie zu Anfang die Nase, um im weiteren Verlauf in Eifersucht auf sie förmlich zu verbrennen. Erst als sie feststellt, dass Margaret zunehmend an Kraft gewinnt und der einzige Schlüssel zu Chris‘ Herz zu sein scheint, lässt sie Kitty fallen und und versucht die Situation zwischen Margaret und Chris zu einer eher symbolverhafteten ménage a trois zu erweitern.
Die Novelle ist ausgesprochen feinsinnig geplottet. Bei all ihrer Tiefe lässt sie sich zudem sehr einnehmend lesen, und im letzten Drittel scheint es fast so, als würden die Charaktere (allen voran Margaret) der Autorin ihre Geschichte entreißen und selbst in die Hände nehmen, so folgerichtig erscheint einem jeder weitere Handlungsschritt. Rebecca West ist eine beeindruckende Stilistin, die ohne ablenkende Wortgebilde auskommt.
Zum Schluss lässt die Novelle nur noch zwei Lösungsmodelle zu: Ist es besser, wenn Chris im bereinigten Garten Eden seiner Amnesie haften bleibt? Oder wenn er seine Erinnerung wiedererlangt? Für Margaret wäre ersteres vorteilhafter, für Kitty und Jenny natürlich letzteres. Aber Margaret, völlig rein in ihren Gedanken, erkennt das Dilemma, in dem die anderen beiden Frauen stecken. “Oh, Sie armes Mädchen …“, sagt sie zu Jenny. Margaret, die den Schlüssel über Chris‘ weiteres Leben in der Hand hält, war ihr ganzes Leben ehrlich und bleibt es auch jetzt, so dass es für sie nur eine Entscheidung geben kann.
Die Darstellung der Psychoanalyse, die Rebecca West hier präsentiert, ist natürlich weit entfernt von der Komplexität praktizierter Psychologie und in ihrem Lösungsansatz sehr vereinfacht. Aber es geht West auch nicht im Geringsten um eine wissenschaftlich fundiertes Fallbeispiel, sondern um die Nutzung als literarische Metapher. Indem sie Chris‘ Amnesie als “magischen Kreis“ mystifiziert, der ihn von allem Übel (den Erinnerungen an die Gräuel der Front) fernhält, zeigt sie uns, dass Chris‘ Amnesie hier eher als ein literarischer Werkzeugkasten für sie fungiert.
Ähnlich wie in J. Sheridan Le Fanus Novelle “Carmilla“ ist es letztlich – personifiziert durch den Psychoanalytiker Dr. Anderson – die ordnungswiederherstellende Aufgabe des Patriarchats, die feminine “Hysterie“ wieder in kontrollierbare Bahnen zu lenken und so für eine stabile maskuline Moral zu sorgen. Die Traumata der Frauen haben dabei schlichtweg keine Priorität.

Deutsche Übersetzung: Die Rückkehr, übersetzt von Britta Mümmler (München: dtv, 2016)

[Rezension] Virginia Woolf – Mrs Dalloway

Originaltitel: Mrs Dalloway (1925)

Woolf - Mrs Dalloway

Berühmte Romane der Weltliteratur haben die schwere Last zu tragen, restlos entzaubert und ihrer letzten Magie beraubt worden zu sein. Jeder ihrer Sätze wurde schon seziert und unter dem literaturwissenschaftlichen Mikroskop bis zur absoluten Nacktheit entblößt. Das Schwergewicht der literarischen Kritik hindert sie förmlich am Atmen, und man könnte beinahe glauben, solcherart geadelte Werke sind das Eigentum besonderer Kreise von Eingeweihten und darüber vergessen, dass auch diese Bücher irgendwann einmal die Unschuld einer Erstveröffentlichung hatten und ihre Erstleserschaft noch nicht unter der Einschüchterung des Ruhms ächzte. Befreit man Virginia Woolfs Mrs Dalloway [dto.] jedoch von all diesem akademischen Staub, bleibt ein funkelndes, makelloses literarisches Kunstwerk zurück.
Über Virginia Woolf wurde so viel geschrieben, dass es sinnlos scheint, dem noch etwas hinzuzufügen. Warum ich das hier trotzdem tue, liegt darin begründet, dass ihre Rezeption entweder rein literaturwissenschaftlich erfolgte, oder aber im Rahmen herkömmlicher feuilletonistischer Buchbesprechungen, die zumeist den für meine Begriffe zentralen Antrieb von Mrs Dalloway vernachlässigen.
Mrs Dalloway ist ein Meisterwerk gedanklicher Ausschweifung und strategischer Präzision. Sehr zielgenau wirft Virginia Woolf ihre Köder aus, die es als Leserin und Leser gilt aufzuspüren. Gelingt dies, wird man mit tiefen Einsichten in den Roman aber auch ins Leben schlechthin belohnt. Virginia Woolf erreicht das in ihrem vierten Roman durch die konsequente eigenständige Weiterentwicklung und Neudefinition der von James Joyce berühmt gemachten Schreibtechnik des Bewusstseinsstroms. Mrs Dalloway umfasst nur einen Tag im Juni 1923. Die Hauptfigur Clarissa Dalloway, Luxus gewohnt, beginnt den Tag mit den letzten Vorbereitungen zu der Gesellschaft, die sie noch am selben Abend geben wird. Sie geht durch London, um die letzten Erledigungen zu tätigen.
Dieser äußere Mantel, der den eigentlichen Roman komplett umschließt, lässt sich noch leicht erschließen. Clarissa ist einundfünfzig, verheiratet mit dem Parlamentsabgeordneten Richard Dalloway, hat eine wunderschöne Tochter im jungen Erwachsenenalter, lebt im feinen Westminster und verkehrt mit der Oberschicht Englands. Eine Frau, die alles erreicht hat!
Die außergewöhnliche äußere Form von Mrs Dalloway beinhaltet aber nicht nur allein Clarissas Gedanken sondern auch die einer Vielzahl anderer Menschen, die alle in irgendeiner Beziehung zu ihr stehen: Menschen aus ihrem Umfeld, flüchtige Begegnungen dieses Junitages und mit dem Kriegsveteranen Septimus Warren Smith auch ein ihr völlig Fremden, zu dem am Ende dann aber doch noch eine Brücke geschlagen wird. Clarissa hat das größte Kontingent an Gedanken in diesem Stimmorchester, gibt aber schon mal von einem Satz zum nächsten unvermittelt weiter an den Nächsten und immer so weiter, bis sie wieder an der Reihe ist. Der Text fließt durch die Köpfe der Handlungsfiguren, durch nur sehr wenige Abschnitte und keinerlei Kapiteltrennungen unterbrochen. Glaubt man zunächst vielleicht nicht, dass das funktionieren kann, wird man dann doch von der erstaunlichen Homogenität des Romans eines Besseren belehrt.
Der Grund dafür, dass vielen Leserinnen und Lesern dieses Buch zunächst langweilig erscheinen könnte, liegt in den sich immer wieder repetierenden Ritualen aus Clarissas gegenwärtigem Leben begründet, die den Großteil des Buches einnehmen. Nach und nach aber beginnt Virginia Woolf damit, die Gedanken zu längst Vergangenem abdriften zu lassen, und diese raren und puren Sequenzen sind es, die alles ändern, den Roman praktisch auf links drehen wie eine Wendejacke, die innen eine völlig entgegengesetzte Farbe hat. Diese Gedanken negieren die äußere Verhüllung des Romans völlig und lassen uns so ein ganz anderes Buch lesen als es uns zunächst erscheinen mochte.
Clarissas Gedanken geben sich nämlich nur so lange Belanglosigkeiten hin, bis sie plötzlich zu dem konsequenzenreichen Sommer Anfang der 1890er Jahre in Bourton, ihrem Zuhause, springen, auf den sich in der Folge der gesamte Roman zentriert. Die dünne Haut von Mrs Dalloway beginnt jetzt an zahlreichen Stellen zu reißen und erste fragmentarische Blicke auf die tiefer liegenden Ebenen zu gestatten.
Denn, in Wirklichkeit, das wird nun sehr schnell deutlich, ist Clarissa todunglücklich mit ihrem Leben, wie überhaupt alle maßgeblichen Charaktere in Mrs Dalloway. Warum das so ist, erfahren wir aus der Vergangenheit heraus. In diesem anderen Zeitalter war Clarissa glücklich. Ihr privater Schatz, der sie fortan am Leben halten wird, ist “der köstlichste Augenblick in ihrem ganzen Leben“, denn “Sally blieb stehen, pflückte eine Blume; küsste sie auf die Lippen.“
Diese Szene, eine der schönsten in der Literatur, die ich kenne, ist meines Erachtens der Sicherheitsschlüssel, der für kurze Zeit die krude Oberfläche von Mrs Dalloway transparent werden lässt und uns die Tür zum Mittelpunkt des Romans öffnet. Jenen Kuss, der die Reinheit und Unschuld der beiden jungen Frauen symbolisiert, gab ihr Sally Seton, “die wilde, die wagemutige, die romantische Sally!“ – damals im ländlichen Bourton, der beinahe schon mythischen Heimat Clarissas  Kindheit als noch junge Frau. Als Sally, “dunkel, großäugig“, zum ersten Mal auftaucht, kann Clarissa “die Augen nicht von Sally wenden.“ Die unbekümmerte, übermütige, unvernünftige und verwegene Sally, “ein anziehendes, nettes, dunkelhaariges Geschöpf“, wie Peter Walsh sie beschreibt, ist für mich der geheime Star des Romans. In ihr findet Clarissa eine Person, zu der sie erstmalig als Frau aufschauen kann. Die junge Sally fegt wie ein Derwisch durch die spröde Männer-Gesellschaft. Sie ist der unabhängige Geist, der die manipulierbare Clarissa hätte retten können.
Deutet man die Zeichen entsprechend, lässt Mrs. Dalloway kaum einen anderen Schluss zu, als den, dass Clarissa lesbisch ist. In demselben Gedankenstrom wie der des Kusses entschlüpft ihr das Statement, dass sie “manchmal nicht widerstehen“ könne, “sich dem Reiz einer Frau auszuliefern.“ Die metaphorisch kodierten Folgesätze beschreiben unzweifelhaft eine klitorale Stimulation mit anschließendem Orgasmus, den Clarissa offensichtlich nur mit anderen Frauen erleben könnte.
Virginia Woolf waren zu ihren Zeiten natürlich die Hände gebunden. Ihr blieb kein anderer Weg übrig, als das homosexuelle Begehren in ihrem Roman zu verschlüsseln, wollte sie nicht so enden, wie etwas später Radclyffe Hall mit ihrem offen lesbischen Roman The Well of Loneliness [Quell der Einsamkeit].
Generell – und da liegt für mich die eigentliche Motivation des Romans – ist Mrs Dalloway ein definitiver Kommentar zum homosexuellen Verlangen und den Repressionen, die Betroffene in einer homophoben Gesellschaftsstruktur zu erdulden haben. Neben Clarissa werden auch andere Frauen sehr subtil derart dargestellt, dass ihre lesbischen Orientierungen zu erahnen sind, allen voran die der Blumenverkäuferin Miss Pym, die offensichtlich in Clarissa verliebt ist, sowie die der verhassten Doris Kilman, die es auf die jugendliche Tochter der Dalloways abgesehen zu haben scheint.
Aber nicht nur sapphische Frauen stellt Woolf dar. Auch ein großer Teil des Leids Septimus‘ geht darauf zurück, dass er offensichtlich gleichgeschlechtlich empfindet und am Verlust seines gefallenen Kriegskameraden, den er geliebt hat, zerbricht. Er ist ein Verdammter. Der Krieg hat ihm sämtliche Emotionen geraubt. Zunehmend treibt er dem Wahnsinn entgegen und kündigt an, sich umzubringen. Er ist verheiratet, und in einem lichten Moment wird ihm bewusst, dass “er seine Frau geheiratet hatte, ohne sie zu lieben; sie belogen hatte; sie verführt hatte“. Die Kehrseite seines Leids ist das Leid und die Hoffnungslosigkeit seiner Ehefrau, einer Frau, die einen schwulen Mann liebt und mit ihm verheiratet ist.
Der mehr als dreißig Jahre zurückliegende Sommer in Bourton, der plötzlich wie ein starkes Echo in den Vordergrund tritt, ist der eigentliche Startschuss für die Lebenswege der wichtigsten Charaktere in Mrs Dalloway. Was als befruchtender intellektueller Austausch einer Gruppe von jungen Erwachsenen beginnt, lenkt die zukünftigen Lebenslinien dieser unbeschwerten Menschen letztlich heraus aus der gedanklichen Freiheit, hinein in persönliche, nicht mehr beherrschbare Gefängnisse. Peter Walsh, der geistig unabhängige Tunichtgut verliebt sich in Clarissa; Sally Seton und Clarissa entdecken ihre wahre Sexualität; und der biedere Erfolgsmensch Richard Dalloway, der eigentlich über keinerlei einnehmende Qualitäten verfügt, kommt als Gast hinzu und zertrümmert restlos die Illusionen des Glücklichseins. Clarissa gibt Peter einen Korb. Und um an den schönsten Augenblick ihres Lebens anzuknüpfen, nämlich Sally zu lieben, fehlt ihr der Mut und die geistige Unabhängigkeit. Was für sie bleibt, ist die absolute Verneinung der beiden Menschen, die alles für sie opfern würden, und der wohligen gesellschaftlichen Sicherheit Richard Dalloways zu folgen.
Die Gegenwartsgedanken entblößen nach und nach, welch weitreichende Folgen dieser Sommer hat. Ausgerechnet die wilde Sally ist mit einem älteren glatzköpfigen Lord verheiratet, dem sie pflichtgemäß fünf Söhne gebar. Peter Walsh ist der unglückliche, ruhelose Tor von einst geblieben. Völlig aus der Bahn geworfen, flüchtet es sich nach Clarissas Abfuhr nach Indien in eine später scheiternde Ehe. Er bleibt auch beruflich der erfolglose Querdenker. Als er zu Beginn des Romans überraschend bei Clarissa auftaucht, gibt er sich betont unbeschadet. “Nein, nein, nein! Er war nicht mehr in sie verliebt!“, redet er sich ein, nur um sich dann doch später einzugestehen, wie “überwältigt von seinem Schmerz“ er in Wirklichkeit ist. Auch Peter wird nie wieder glücklich sein, das ist sicher.
Ja und Clarissa? Man spürt ihre ungeweinten Tränen. Der Glanz des Reichtums hat längst seine Wirkung auf sie verloren. Und obwohl ihr Mann Richard augenscheinlich kein Tyrann ist, lebt Clarissa in einer Ehehölle. (Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass Richard Dalloway bereits in Woolfs erstem Roman The Voyage Out [Die Fahrt hinaus] einen Gastauftritt hat – dort schüchtert er massiv die junge, unsichere Protagonistin Rachel Vinrace ein und belästigt sie sexuell)
Clarissa ist zum Nichtstun verdammt. Ihr verantwortungsvollster Job ist das Organisieren von Gesellschaften wie der heutigen. Ihr Schmerz kommt an die Oberfläche, wenn sie denkt: “Sie hatte die absonderlichste Empfindung, unsichtbar zu sein; ungesehen; ungekannt; kein Heiraten mehr, kein Kinderkriegen mehr jetzt, sondern nur noch dieses […] Mrs Dalloway-Sein; nicht einmal mehr Clarissa; dieses Mrs Richard Dalloway-Sein.“ Sie hat ihre Ehepflichten erfüllt und ist für Richard einfach nur noch wertlos, außer als nützliche schmückende Gastgeberin seiner prominenten Gäste. Wie sehr weggesperrt und unterdrückt Clarissa sich fühlt, kommt letztlich hoch, wenn ihr bewusst wird, dass sie “nie mehr […] irgendeinen freien Augenblick“ haben werde.
Ihre Sexualität ist beinahe verdörrt. So kommt es ihr entgegen, dass Richard ihr nach ihrer Krankheit ein getrenntes eigenes Bett zuerkennt; in einer Dachstube (was etwas an die weggeschlossene Bertha Mason in Charlotte Brontës Jane Eyre [dto.] erinnert). Doch sie ist nicht traurig darüber. Wie sie andeutet, ist ihr der Geschlechtsverkehr mit ihrem Mann verhasst. Warum sonst betont sie “eine über das Kindbett gerettete Jungfräulichkeit, die sie umschloss wie ein Laken“? Aber nur beinahe ist ihre Sexualität verdörrt, denn, was ihr immer noch bleibt, sind ihre sehnsüchtigen erotischen Gedanken an Sally.
Das Ende des Tages naht. Die Gesellschaft der alten Schachteln, Langeweiler und Angeber lichtet sich. Und Clarissa denkt den wohl veritabelsten Satz des Buches: “Es gab etwas, worauf es an kam; etwas, von Geschwätz überwuchert, verunstaltet, verdunkelt, in ihrem eigenen Leben, das jeden Tag in Falschheit, Lügen, Geschwätz versank.“
Beschließt Clarissa hier einfach nur einen exemplarischen von vielen typischen Tagen ihres Lebens? Nein, denn “den ganzen Tag hatte sie an Bourton, an Peter, an Sally gedacht.“ Und das wird für sie Folgen haben, wenn auch wahrscheinlich nur in ihrer Gedankenwelt.
Mit dem Ende der Gesellschaft endet auch der Roman. Peter und Sally realisieren, dass es vorbei ist. “Richard hat gewonnen. Du hast recht“ sagt Sally resigniert zu Peter. Beiden wurde die große Liebe genommen – ausgerechnet von einem, der Clarissa nie liebte. Und wenn Sally denkt “Und Clarissa! Oh, Clarissa!“, dann hat das etwas furchtbar Trauriges und Endgültiges.

Empfehlenswerte deutsche Übersetzung: Mrs Dalloway, übersetzt von Walter Boehlich (Frankfurt am Main: S. Fischer, 1997)

Vernon Lee | Die Puppe

Originalveröffentlichung:
The Image (1896)
[späterer Titel: The Doll]

Vernon Lee - Die Puppe

Das Puppenabbild einer bereits lange verstorbenen unglücklichen aristokratischen Frau löst das feministische und sexuelle Erwachen einer desillusionierten Antiquitätensammlerin und Ehefrau aus.

Vernon Lees Kurzgeschichte “The Image“ [“Die Puppe“] ist ein früher, bei genauem Hinschauen recht deutlicher Beitrag zum Feminismus und lesbischen Begehren. In einer Zeit entstanden, die derartige Gedanken einer Frau nur verschlüsselt auf Papier zuließ, hatte die renommierte Kunstkoryphäe Vernon Lee, die im wirklichen Leben Violet Paget hieß, eigene Wege gefunden, ihre Dämonen in die literarische Öffentlichkeit zu tragen. Sie schrieb eine Reihe von sogenannten “übernatürlichen“ Erzählungen, deren Genre-Rahmen ihr die Freiheit gab, ihre dringlichsten persönlichen Präferenzen einem öffentlichen Publikum als Beigabe zu ihren auch so schon ausgesprochen faszinierenden Texten zu überlassen. Ihre Geschichten zeichnen sich aus durch einen eleganten, feinsinnigen Schreibstil, dessen erstaunliches Nebenergebnis es ist, dass sie sich auch heute noch wie moderne Prosa lesen lassen. Bestes Beispiel dafür ist auch ihre meisterhafte Novelle “A Phantom Lover“ [“Oke von Okehurst“].
“The Image“ erschien zuerst 1896 in der Zeitschrift The Cornhill Magazine und blieb unbeachtet (und wahrscheinlich unverstanden). Erst drei Jahrzehnte später erfuhr die Geschichte ihre erste Buchveröffentlichung in einem Erzählungsband der Autorin.
Die namenlose Ich-Erzählerin berichtet uns von ihrem Abstecher in ein kleines Städtchen in Umbrien, wo sie ihrer Leidenschaft, dem Sammeln von Antiquitäten, frönen will. Das Angebot eines verschuldeten Adligen führt sie in einen leicht heruntergewirtschafteten Palast, wo sie antikes Tafelgeschirr erwirbt.
Alles ändert sich aber urplötzlich für sie, als sie durch Zufall der lebensgroßen Puppe einer Frau begegnet. Es handelt sich dabei um die Nachbildung einer schon seit vielen Jahren toten Ahnin des jetzigen Palastbesitzers, einer Gräfin, von der bekannt ist, dass sie noch sehr jung im Kindbett starb, nachdem sie jahrelang im Schatten ihres sie vergötternden aber sie nicht als Frau mit eigenen Wünschen und Begierden wahrnehmenden Ehemannes verkümmerte.
Vom ersten Moment an solidarisiert sich die Erzählerin mit der Puppe, die für sie in ihrer Wirkung identisch mit der einstigen lebenden Gräfin ist. Die Beziehung zu dem Abbild, das für sie keinen Unterschied zu der “Frau, der sie nachgebildet war“ macht, wird ihr kleines Geheimnis. Welchen Stellenwert die Puppe für sie einnimmt, zeigt sich schon damit: “Glauben Sie etwa, ich hätte meinem Mann jemals von der Puppe erzählen können? Dabei erzähle ich ihm sonst alles von mir […].“
Warum das so ist, erklärt sich aus der begründeten Vermutung, dass sie vermutlich lesbisch ist. Ihr Mann, der lieber durch Abwesenheit glänzt und “Besseres zu tun“ hat als sie auf ihren “Nippes-Exkursionen“ zu begleiten, ist sicherlich nicht der richtige Gesprächspartner für ein derartiges Thema.
Von Beginn an besteht eine spürbare Intimität zwischen der Erzählerin und der Gräfin. Zum einen sorgt bereits die Erkenntnis dafür, dass die Kleidung der Puppe die originale Kleidung der Gräfin ist. Es gibt weiterhin versteckte Symbole wie etwa die Perücke mit dem echten Haar der Gräfin. Trug eine Dame im frühen 19. Jahrhundert in der Öffentlichkeit ihr Haar stets hoch gesteckt, wirkt das offene Haar der Perücke wie eine Einladung in einen privaten Bereich, zu dem gewöhnlich nur Dienstmädchen und Ehemann Zutritt hatten.
Diese Symbolik weitet sich zunehmend aus in eine sehnsuchtsvolle, erotisierte Sprache. So löst die Puppe zutiefst etwas in ihr aus, so “dass ich den ganzen Tag an sie dachte.“ Weiter schreibt sie: “Es war, als wüsste ich bereits alles über sie“ und “Immer wieder sah ich sie vor mir […].“
Das alles sind Formulierungen, die von Leidenschaft zeugen, ja, die einer romantisch verehrten Person vorbehalten sind und gewöhnlich in keinem anderen Kontext gebraucht werden als dem Verliebtsein.
Am Ende steht die Erzählerin allein mit dem Ehering der Puppe da, dem Symbol ihrer erweckten Leidenschaft und ihrer neu erlangten geistigen Freiheit. Die kraftvolle Metaphorik dieser Schlussszene symbolisiert die tiefe feminine Verbundenheit der beiden Frauen. Über ein Jahrhundert hinweg.

Deutsche Übersetzung: “Die Puppe“, übersetzt von Oliver Plaschka, in: Frank R. Scheck & Erik Hauser (Hrsg.), Als ich tot war – Dunkle Phantastik der britischen Dekadenz, Band 2 (Windeck: Blitz, 2008)

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[Rezension] Sarah Waters – Die Muschelöffnerin

Originalveröffentlichung:
Tipping the Velvet (1998)

Sarah_Waters_Die_Muscheloeffnerin

Direkt mit ihrem Erstling Tipping the Velvet gelang es Sarah Waters, dem Literatur-Kanon einen sehr wichtigen Roman hinzuzufügen. Da aber „wichtig“ noch lange nicht „gut“ heißt, bleibt zu klären, ob Tipping the Velvet auch ein guter Roman ist. Der Charme von Erstlingsromanen liegt ja oft in einer Art positiver Unprofessionalität der noch nicht von Markterfordernissen zerfressenen Schriftstellerseele. Auch Sarah Waters hatte für diesen Roman keinerlei Erwartungsdruck seitens eines Verlags oder einer Leserschaft, doch von positiver Unprofessionalität kann hier wirklich keine Rede sein. Sie hatte gerade ihre Doktorarbeit in Englischer Literatur – Wolfskins and Togas: Lesbian and Gay Historical Fictions, 1870 to the Present – beendet, als sie direkt ihre Recherchen an die Hand nahm und ihren ersten Roman ansteuerte. Ihre begeisterte Lektüre viktorianischer Literatur verbunden mit ihrer akademischen Ausbildung haben sicherlich ihren Beitrag dazu geleistet, dass man Tipping the Velvet niemals für einen Erstlingsroman halten würde, wenn man es nicht besser wüsste. Denn Waters ist stets die Herrin über ihren nicht einfachen Stoff und beeindruckt mit ihrer Ausgereiftheit in Dramaturgie und Personencharakterisierungen.
Tipping the Velvet ist ein Bildungsroman, der sieben Jahre im Leben des Austernmädchens Nancy Astley beschreibt. Zu Beginn wird Nancy gerade 18. Am Ende ist sie eine 25-jährige Frau, die genau weiß, wo ihr Platz in der Gesellschaft ist.
Wir befinden uns im viktorianischen England Ende der 1880er Jahre. In einem kleinen Fischereinest an der Küste von Kent arbeitet die unscheinbare Nancy im Austernrestaurant ihrer Eltern. Sie erweckt nicht den Eindruck, dass ihr etwas fehlt im Leben, doch das ändert sich drastisch, als sie das hiesige Theater besucht und dort die Gesangsnummer einer jungen in einen Herrenanzug gekleideten Frau verfolgt. Es handelt sich um die aufstrebende Künstlerin Kitty Butler, die zum Abschluss ihrer Show jeweils einem Mädchen im Publikum eine Rose überreicht. Nancy ist nun nicht mehr davon abzubringen, ab jetzt regelmäßig Kittys Vorstellungen zu besuchen. Show um Show vergeht, ohne dass Nancy diejenige ist, die die Rose erhält. Als es dann so weit ist und Kitty Nancy zum Gespräch in ihren Umkleideraum bittet, ist für Nancy klar, dass sie sich in Kitty verliebt hat. Für Nancy ist das die einzige ihr mögliche Art, einen anderen Menschen zu lieben, doch der Preis, den sie dafür zahlen muss, ist hoch.
Kitty und Nancy freunden sich an, und Nancy wird Kittys Garderobiere. Als Kitty sie dann fragt, ob sie sie für eine neue Stufe ihrer Karriere nach London begleiten würde, kann Nancy gar nicht anders, als ihrer großen Liebe zu folgen. Der Abschied von ihrer Familie und die Entfremdung von ihrer Schwester, die als Einzige in Nancys Gedanken eingeweiht ist und diese kategorisch ablehnt, sind ein Meisterstück psychologischer Einfühlung.
In London wird Kittys Gesangsnummer in neue Höhen geleitet, als Nancy, die ebenfalls ein Talent zum Singen hat, als ihre Partnerin mit auf der Bühne steht. Die Nummer wird ein großer Erfolg, und die Londoner Theater und Varietés, in denen sie auftreten, werden immer größer und berühmter.
Kitty, die längst geahnt hat, dass Nancy sie liebt, ist inzwischen auf Nancy zugegangen. Ein Liebespaar dürfen die beiden allerdings nur nachts auf ihrem Zimmer sein.
Als bisheriger Höhepunkt der beiden Mädchen, Nancy ist gerade mal 19, rückt eine Weihnachtsaufführung im renommierten Britannia näher. Doch innerhalb von Sekunden wird Nancys glückliche Welt mit gnadenloser Härte zerstört. Mittellos wird sie in den Moloch London ausgespuckt. An das Beste von Paul Auster erinnernd (Moon Palace [Mond über Manhattan] kommt mir in den Sinn) lässt Nancy sich, ihres Herzens beraubt, durch London treiben und beginnt ihre persönliche Odyssee, die einige Jahre dauern soll und sie u.a. als männlich verkleideter Stricher und als Lustsklavin einer wohlhabenden Sapphistin durch Bereiche navigiert, die der bürgerlichen Welt verborgen sind.
Der Titel des Buches – im Text der deutschen Ausgabe mit Den Samt berührt übersetzt (leider jedoch nicht als Buchtitel genutzt) – ist ein viktorianischer Slangausdruck für den Cunnilingus. Ein solcher Titel signalisiert natürlich: Sex. Im finsteren Mittelteil formuliert Sarah Waters auch zahlreiche explizite Sexszenen aus, die ins Obszöne und Pornographische übergehen. Teilweise sind diese Szenen die einzigen im Buch, die ich für nicht ganz gelungen halte. Natürlich geht es im Mittelteil nicht um Liebe und Sinnlichkeit, sondern um reine sexuelle Befriedigung. Trotzdem verlieren derart graphisch dargestellte Szenen an Kraft, wenn sie sich wiederholen. Schon allein deshalb würde ich Tipping the Velvet nicht als perfekt bezeichnen wollen. Aber, um zur Ausgangsfrage zurückzukommen: Ja, Tipping the Velvet ist ein gutes Buch. Den ersten Teil des Romans würde ich sogar als makellos bezeichnen. Und die Beschreibungen eines vergangenen Londons mit seinen Theatern und Pferdekutschen lassen einen literarischen Ort entstehen, den man beinahe glaubt, selbst gesehen zu haben.
Sarah Waters hat sich definitiv mit Tipping the Velvet für einen Entwicklungsroman entschieden, der auf sprachliche Schnörkel gänzlich verzichtet und klassisch linear erzählt. Sprachlich stellt Waters keine hohen Anforderungen an die Leser, und doch ist da einiges, was sie schon in ihrem Erstling weit über den Durchschnitt der schreibenden Zunft erhebt. Tipping the Velvet saugt einen als Leser ins Geschehen hinein, sodass man nicht ablassen möchte. Schon Charles Dickens wusste genau, dass man seine Leser damit packt, indem man mit ihren Emotionen spielt. Das macht auch Sarah Waters. Doch weshalb ersaufen schlechtere Autoren in ihrem eigenen Zuckerguss, während Waters eine Stärke ausstrahlt, die uns bei ihr hält? Ich habe lange darüber nachgedacht, wie Sarah Waters es schafft, dass ihre Charaktere uns so wirklichkeitsnah erscheinen. Ich glaube, es liegt auch daran, dass Waters sehr gut darin ist, zu beschreiben, wie ihre Protagonisten aufeinander wirken. Damit meine ich, dass zwischen ihnen nicht nur ein Textdialog stattfindet. Mit außergewöhnlicher Subtilität zeigt Waters uns auch auf, wie die Charaktere jeweils auf das Gesagte reagieren. Die kleinsten Nuancen dieser Reaktionen bewirken schon, dass wir als Leser die Sprechenden so deutlich vor uns sehen und uns derart intensiv in sie hineinversetzen.
Am Ende ist Nancy eine starke, mutige Frau, die es geschafft hat, das Erlebte für ein besseres Leben zu nutzen. Was kann man sich mehr wünschen?

Empfehlenswerte deutsche Übersetzung: Die Muschelöffnerin, übersetzt von Susanne Amrain, überarbeitet von Andrea Krug (Berlin: Krug & Schadenberg, 2011)

Lektorat: Uwe Voehl