[Rezension] Walter de la Mare – Seatons Tante

Originalveröffentlichung:
Seaton’s Aunt (1922)

Mare Orgie

Die Novelle „Seaton’s Aunt“ gehört zu den rätselhaftesten Geschichten, die ich kenne. Obwohl sie in sehr klarer Sprache geschrieben ist, hinterlässt sie eine endlos scheinende Liste von Fragen, über deren Antworten man nur spekulieren kann. Vordergründig wirkt sie wie eine typische englische Erzählung, in der die Emotionen unterdrückt werden. Aber was da unter der Oberfläche lauert, ist abgrundtief.
Erzählt wird sie in Ich-Form von dem Londoner Achtklässler Withers (seinen Vornamen verschweigt er), der sich so gut er kann persönlich aus der Geschichte heraushält.
Withers ist auch nicht die Hauptfigur, sondern sein Mitschüler Arthur Seaton, der nicht sehr wohlgelitten in der Schule ist. Schon auf Grund seines fremdländischen Aussehens wird er von den anderen Schülern schikaniert. Auch Withers ist nicht gerade eine Glanzfigur, haut er doch mal eben einen Spruch raus, der das fehlende Aussehen eines „reinrassigen Engländers“ an Seaton kritisiert. Trotzdem ist er der Einzige, der sich soweit mit Arthur Seaton abgibt, dass dieser ihn dazu einlädt, ihn zu einem Besuch bei seine schrägen Tante auf dem Lande zu begleiten.
Bei diesem Besuch stellt sich Arthurs Tante, Miss Seaton, als eine sinistre alte Dame heraus, die ihresgleichen sucht. Sie macht Arthur verbal nieder, wo sie nur kann. Schnell wird deutlich, dass Arthur Todesangst vor ihr hat und dass wesentlich mehr hinter dieser seltsamen Beziehung steckt als man ahnen kann.
In der Nacht schleichen Withers und Arthur durch das finstere Haus. Arthur erzählt, dass seine Tante mit dem Teufel im Bunde stehe und mit Geisterwesen kommuniziere. Auch Withers hört das nächtliche Gewisper des Ungesehenen, und selbst als Leser beschleicht einen tatsächlich das kriechende Gefühl, dass dieses Haus Schwärmen von Geistern Heimstatt gewährt, ohne freilich jemals auch nur den Hauch eines Beweises dafür zu finden. So heißt es auch im Text, dass „[…] eine schleichende, unsichtbare Macht im Hintergrund“ Miss Seaton umschwirrt.
Während Withers es ablehnt, etwas Übernatürliches in der Beziehung zwischen Arthur und Miss Seaton zu sehen, ist die Situation für Arthur äußerst ernst. Von Anfang an wirkt er verdammt. Später sagt er zu Withers:“Ich bin schon so gut wie erledigt […].“ Es besteht kein Zweifel: Er ist todgeweiht.
Miss Seaton ist wohl eine der furchterregendsten Kreationen in der Literatur, und das, ohne dass sie auch nur einen Finger krümmt. Während Miss Seaton Arthur einfach nur zu verabscheuen und zu hassen scheint, fördern ihre Gespräche mit Withers offenbar ihren gruftschweren Esprit hervor. Doch die Dialoge mit ihr sind Spiegelfechtereien, deren Spielregeln sie bestimmt. Jedes ihrer Worte hat eine andere Bedeutung als das ausgesprochene.
Einige Zeit nach diesem ersten Besuch – Arthur hat inzwischen die Schule verlassen und Withers ihn weitgehend vergessen – treffen sich die beiden in London wieder. Arthur befindet sich jetzt in Hochzeitsvorbereitungen, und diese Zufallsbegegnung führt ein zweites Mal zu einem Besuch von Withers bei den Seatons. Withers lernt Arthurs angehende Ehefrau Alice Outram kennen, und ansonsten steht auch dieser Besuch wieder unter dem Regiment von Miss Seaton, die erneut ihr tonales Gift versprüht und Arthur demütigt, wo es nur geht. Seatons Tante zeigt gegenüber Withers aber auch zum ersten und einzigen Mal so etwas wie eine emotionale Regung, weshalb es sich lohnt genauer hinzusehen. Denn im Zusammenhang mit dem Choral „A Few More Years Shall Roll“ sagt sie, dass dieser zu schmerzhafte Erinnerungen in ihr wecke. Das Lied ist in der Geschichte nicht abgedruckt, jedoch lässt sich das leicht überprüfen. Es handelt sich um eine christliche Hymne des Predigers Horatius Bonar, welches in apokalyptischen Bildern von der Vorbereitung auf den Tod erzählt. Der bevorstehende Tod wird als ein großes Ereignis, die Erlösung eines erschöpfenden Lebens gefeiert. Der Tod ist darin ein gesegneter Tag, der einen mit den bereits in der Gruft liegenden Toten vereint.
Wiederum einige Zeit später fällt Withers, der längst wieder in sein altes Leben zurückgekehrt ist, auf, dass er schon ewig nichts mehr von Arthur und von der Hochzeit gehört hat. Spontan steigt er in den Bus und fährt aufs Land zu den Seatons. Was er dort erfährt, beschließt eine zutiefst verstörende Schauernovelle. Dies ist definitiv keine Ray-Bradbury-Jungs-Idylle.
Was neben der Faszination noch bleibt, sind Fragen, viele Fragen. Die wichtigsten sind: Warum verabscheut Miss Seaton Arthur so extrem? Wer ist Alice Outram? Sie kommt und geht, hat aber offensichtlich auch Eindruck auf Withers hinterlassen, der sie „reizend“ findet. Ist es Zufall, dass zwei von Arthurs Hauptpeinigern in der Schule später ein „grauenvolles Ende“ finden? Was bedeutet Miss Seatons Bemerkung zu Withers: „Hier ist mein armer lieber Bruder William schon als kleiner Junge gestorben“? Hat Miss Seaton wirklich Arthurs Mutter umgebracht, wie Arthur behauptet? Fragen über Fragen, die den Leser noch lange beschäftigen.

Deutsche Übersetzung: „Seatons Tante“, übersetzt von Elizabeth Gilbert, in: Walter de la Mare, Die Orgie – Eine Idylle (Zürich: Diogenes, 1965)

Lektorat: Uwe Voehl