Théophile Gautier | Die liebende Untote

Originalveröffentlichung:
La Morte amoureuse (1836)

theophile-gautier-die-liebende-untote

Seine verbotene Liebe führt einen frischgeweihten Priester aus seiner tristen Enthaltsamkeit hinein in eine barocke Welt der Lust und Dekadenz. In dieser klassischen Vampir-Geschichte ist die Grenze zwischen Gut und Böse kaum auszumachen.

Die Erzählung “La Morte amoureuse“ [“Die liebende Untote“] von Théophile Gautier ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie man die Realität mit den Mitteln der Phantastik überzeugender angreifen kann als es mit realistischer Nüchternheit möglich wäre. “La Morte amoureuse“ gehört zu den Prototypen ihrer Thematik, und, was die Geschichte zusätzlich so erfreulich macht, ist ihre auch für ein modernes Publikum ausgesprochen gut genießbare Lesbarkeit.
Das Kernthema der Geschichte kreist um die Frage: Wie gewichte ich die menschlichen Triebe gegenüber einem abstrakten, jegliche naturgegeben Grundlagen verneinenden Gesetzeskonstrukt?
Der 66-jährige katholische Priester Romuald weiß, wovon er spricht, wenn er einem nicht näher definierten, “Bruder“ genannten Zuhörer, das Geständnis macht: “Ja, ich habe geliebt, wie niemand zuvor […]“.
Man spürt sofort, Romuald ist alles andere als ein in sich selbst ruhender Geistlicher, der sein Amt mit Überzeugung ausübt. Seine wahre Geschichte, die er nun erzählt, bestätigt das eindrucksvoll.
Es ist nicht seine Lebensgeschichte, die er uns übermittelt, sondern die Erklärung seines Lebens. Drei besondere Jahre, die die folgenden Jahrzehnte seiner restlichen Zeit auf Erden mit eisernem Griff lenken.
Als junger Mann hat er bereits sein bisheriges bewusstes Leben Gott gewidmet. Schon immer will er Priester werden, und er hat es so weit geschafft, dass nun endlich der Tag der Priesterweihe bevorsteht. Die bevorstehende Zeremonie erwartet er mit einer beinahe ekstatischen Vorfreude. Das ist aber auch die einzige Ekstase, die er je kennengelernt hat. Über Frauen weiß er nichts, “ich hielt meine Gedanken davon fern […]“. Die einzige Frau, mit der er gelegentlichen Umgang hat, ist seine alte, gebrechliche Mutter.
Während des Zeremoniells der Ordination spricht jedoch nicht Gott zu ihm, sondern Clarimonde, eine auffällige junge Frau aus dem Publikum. Ihre Schönheit kann er kaum fassen. “Sie war hochgewachsen und hatte den Körper und die Haltung einer Göttin […]“. Weiterhin preist er ihr Haar, das von “einer weichen Blondheit“ ist, ihren “roten […] Mund“ und ihre “meergrünen Augen“. Wie wir schon an diesen Beispielen sehen, kehren mit Clarimonde die Farben ein in Romualds triste Welt der Enthaltsamkeit. Dieser Effekt wird mit jeder folgenden Erscheinung Clarimondes in der fortlaufenden Handlung noch verstärkt. Die Farben Gold (ihr Haar, “wie ein königliches Diadem“) und Silber sowie die Farbe heller Perlen (auch die Farbe ihrer Haut) induzieren eine orientalische Pracht und “höchsten Adel“.
Clarimonde flüstert Romuald ein, er solle auf die Priesterweihe verzichten und sich stattdessen für die Liebe entscheiden. Für die Liebe zu ihr. Romuald spürt, wie sich seine “bisher versperrten Sinne öffneten“.
Sein Weltbild wird innerhalb von Sekunden eingestürzt, doch er ist zu schwach, die Zeremonie in diesem letzten Stadium noch vorzeitig zu beenden. Und so wird er zum Priester geweiht.
Romualds Vorgesetzter, der Abbé Serapion, ahnt, was in seinem Schützling vorgeht und verfrachtet ihn kurzerhand für eine Priesterstelle in ein entferntes Dörfchen, freilich nicht ohne Romuald intensive Warnungen vor der Versuchung mit auf den Weg zu geben.
Ein Jahr lang führt Romuald dieses Leben. Die Gedanken stets bei Clarimonde. Und dann holt Clarimonde Romuald überraschend zu sich in ihren venezianischen Palast. Wie im Rausch eines wilden Traumes führt Romuald das dekadente Leben eines Lebemannes an der Seite von Clarimonde, die sich in Romuald verliebt hat und einem Papst und einem der Herrscher von Venedig Laufpässe gab, nur um mit Romuald glücklich zu sein.
Doch wer ist Clarimonde? Ist sie eine ständig wiedererwachende Tote, und warum reicht ein Quentchen von Romualds Blut, um sie wieder aufzuwecken?
Das Grundsätzliche an “La Morte amoureuse“ ist, dass Clarimonde alles andere ist als das Böse als das Serapion sie hinstellt. Natürlich, Clarimonde hält alle Fäden in der Hand, wirkliches Unheil bringt sie aber nicht. Stattdessen führt ihr ganzes Verhalten das Patriarchat ad absurdum. Mit einem Fingerschnipsen setzt sie die Grundpfeiler einer patriarchalischen Welt außer Kraft.
Das Ende der Geschichte ist für moderne Leser natürlich vorhersehbar, doch man sollte berücksichtigen, dass “La Morte amoureuse“ zu den frühesten Vampir-Geschichten zählt, und im Gegensatz zu zahlreichen späteren Werken dieser Thematik hat uns der Schluss dieser Geschichte wesentlich mehr zu sagen.
Am Ende ist es ein Mann, der die übersichtliche patriarchalische Ordnung wieder herstellt. Abbé Serapion handelt im Würgegriff hoffnungsloser Sex-Hysterie, wenn er Romuald zu Clarimondes Grab führt. Das Verspritzen des Weihwassers  auf die tiefschlafende Clarimonde durch Serapion wirkt wie ein abscheulicher, demütigender Abschluss des männlichen Aktes als Machtdemonstration einer völligen Unterjochung allen Weiblichen.
Der Erfolg dieser letzten Unternehmung zur Wiederherstellung der patriarchalen Ordnung darf dann aber bezweifelt werden. “Länger als drei Jahre war ich das Spielzeug einer einzigartigen und teuflischen Vorspiegelung“, sagt Romuald zu Anfang seiner Erzählung. Doch da macht er sich selbst etwas vor. “Spielzeug“ zu sein, bedeutet für Roumulus in erster Linie, die Kontrolle über seine viele Jahre selbstunterdrückte Sexualität verloren zu haben. Und insbesondere Serapion, der Hüter des Zölibats, ist Romualds personifiziertes schlechtes Gewissen.
Am Ende ist jedoch klar, dass Romuald der Priester und Romuald der Mann verschiedener nicht sein können. Für sein Leben lang wegen der Trennung von Clarimonde traumatisiert, stellt er gebrochen fest: “Die Liebe Gottes reichte nicht aus, die ihre zu ersetzen.“

Empfehlenswerte deutsche Übersetzung: Die liebende Untote, übersetzt von Ulrich Klappstein (Hannover: jmb, 2010)

Bram Stoker | Dracula

Originalveröffentlichung:
Dracula (1897)

Bram Stoker - Dracula

Dieser berühmteste aller Horror-Romane ist ein Dokument der sexuellen Verklemmtheit der Menschen des viktorianischen Zeitalters. Das übernatürliche Grauen, obgleich zuweilen ausgesprochen überzeugend dargestellt, ist nichts weiter als eine Schutzschicht, die den Blick auf die wahren sexuellen Gelüste und Traumata der gehemmten Viktorianer verschleiert.

Ich behaupte einmal, dass es für den modernen Leser unmöglich ist, Dracula von Bram Stoker zu begegnen, ohne ein Grundwissen dessen mitzubringen, worum es in dem Roman geht. Die Figur des Grafen Dracula gehört zur Weltkultur, und sie ist nicht nur ein literarischer Charakter, sondern ein Archetyp. Man beginnt hier also ein Buch zu lesen, über das man wohl oder übel mehr weiß, als einem lieb sein kann.
Doch dafür kann das Buch nichts!
Als es 1897 erstmals erschien, war es etwas Neues. Ein gewaltiges Update von J. Sheridan Le Fanus großartiger Vampir-Novelle „Carmilla“ [“Carmilla“] zwar, aber nichtsdestotrotz für den Großteil der damaligen Leserschaft etwas, das bis dahin in dieser Form niemand zuvor gelesen hatte.
Pirscht man sich als moderner Leser aus dieser Warte an das Buch heran, zieht man den größten Gewinn daraus – und erkennt, dass das verstreute Wissen über Dracula, dass man leider unweigerlich mit sich herum schleppt, einschließlich des Aussehens von Christopher Lee, lediglich Second-Hand-Wissen ist. Daher empfiehlt es sich, sich vor Lektüre des gedruckten originalen Dracula erst einmal dahingehend einzutackten. Dann ist man bereit für Dracula.
Als erzählerisches Mittel von Dracula wählte Bram Stoker eine bunte Ansammlung von Tagebucheinträgen, Briefen, Zeitungsartikeln und Dokumenten. Den Anfang macht das Reisetagebuch des Engländers Jonathan Harker, der als frisch gebackener Rechtsanwalt von seiner Kanzlei nach Transsilvanien geschickt wird, um für den Grafen Dracula den Kauf eines Hauses in London abzuwickeln.
Dieser Auftakt ist spektakulär. Die Reise Harkers, die ihn über Wien und Budapest bis tief in die Karpaten führt, ist grandios beschrieben. Der Wandel der Landschaften und der Menschen, die mit zunehmend östlicher Richtung fremdartiger und unheimlicher werden, setzt einen virtuosen Stimmungsrahmen für das, was folgen wird. In bester Schauergeschichten-Manier erreicht Harker – natürlich nachts und unter Wolfsgeheul – die düstere Burg des Grafen. Der stellt sich von Anfang an als geistreich, gebildet und zuvorkommend dar, kann aber auch etwas Zwielichtiges nicht verbergen. Die Merkwürdigkeiten mehren sich. Dracula ist nur nachts anzutreffen, isst niemals etwas und hat kein Spiegelbild. Schon bald wird Harker klar: er ist Gefangener in der Burg des Grafen.
Als Harker eines Nachts Draculas Warnung missachtet und sein Zimmer verlässt, wird er von drei jungen Damen überrascht, die nicht lange fackeln und mit “unverhohlener Wollust“ über ihn herfallen.
Die Szene öffnet eine Tür in die tieferen Gewölbe des Romans. Beschreitet man als Leser den Weg durch diese Tür, verlässt man den handlungsreichen Unterhaltungsroman, den Dracula zu sein vorgibt und gelangt in die Untiefen sexueller Phantasien, die im viktorianischen England freilich moralisches Sperrgebiet waren, denn eine autarke weibliche Sexualität war unerwünscht, und Frauen hatten bis zur Hochzeit Jungfrau und danach möglichst asexuell zu sein. Das Gebären von Kindern galt als einziger sinnvoller Zweck des Geschlechtsverkehrs.
Ausgerechnet der Roman, der ein ganzes Unterhaltungsgenre begründete, reißt die viktorianischen Wunden an jeder nur möglichen Stelle auf. Von männlichen und weiblichen Sexphantasien über sexuelle Dominanz, Homosexualität und Sex mit mehreren Partnern, bis hin zu Vergewaltigung ist alles da, über das Viktorianer beileibe nicht reden wollte.
Die Lust der drei Damen nach Blut ist der Lust nach Sex gleichzusetzen. Harker, den zu Hause die liebliche Vorzeigefrau Mina erwartet, setzt der aggressiven Sexualität der drei Schwestern nicht das Geringste entgegen. Wenn er in sein Tagebuch schreibt: “Irgendetwas an ihnen erregte mein Unbehagen, es war einerseits Verlangen, andererseits Todesangst“, dann scheint er in dem Moment lieber mit dem Tod für den orgiastischen Sex, der ihm bevorsteht, bezahlen zu wollen, als zurück in sein unaufgeregtes viktorianisches Leben zurückzukehren. Dass er später, jetzt wieder bei klarem Verstand, immer noch so zu denken scheint, belegt die Tatsache, dass er den Vorfall in sein Tagebuch niederschreibt, wohl wissend, dass Mina es irgendwann lesen könnte (was auch tatsächlich geschieht). Es ist ihm bewusst, dass dies Mina “Schmerz bereiten“ wird, aber das ist ihm in dem Moment völlig egal, denn “es ist die Wahrheit“. Harkers sexuelle Erregung wischt jegliche Vernunft derart heftig beiseite, dass er den Moment unbedingt für immer in seinem Tagebuch  festhalten möchte. Das zeigt, wie sehr Harker die anerzogene viktorianische Steifheit abwerfen und die Verklemmtheit seiner Verlobten gegen die nymphomanische Aggression der drei Damen austauschen würde. Wie weit die viktorianische Unterdrückung sexueller Lust geht, wird deutlich, wenn man als Leserin und Leser in dieser Schlüsselszene gedanklich die Lust nach Blut gegen die Lust nach Sex austauscht.
Die Handlung verlagert sich anschließend nach England und führt uns direkt zu Minas Freundin Lucy Westenra, dem für mich interessantesten Charakter in Dracula. Die Briefe, die sie sich mit Mina schreibt, wirken wie ein geschwätziger mädchenhafter Gedankenaustausch, aber bei näherem Hinsehen sind sie alles andere als unschuldig. Lucy, die sehnsüchtig auf einen Heiratsantrag wartet, erhält plötzlich gleich drei Anträge an einem Tag. Da sie offenbar in keinen der drei Männer wirklich verliebt ist, kann sie sich nicht sofort entscheiden. An Mina schreibt sie: “Warum darf ein Mädchen nicht drei Männer heiraten […?]“, was dem Wunsch entspricht, mit drei verschiedenen Männern Sex zu haben. Ironischerweise wird ihr der Wunsch im übertragenen Sinne erfüllt, als sie ein Opfer des Grafen Dracula wird. Nachdem er ihr Nacht für Nacht das Blut aussaugt, bleibt sie nur durch die Bluttransfusionen eben der drei Männer (plus Van Helsing) am Leben, die um ihre Hand angehalten haben. Obwohl das Übertragen von Blut ein rein medizinischer Vorgang sein sollte, ist er in Dracula ein Akt der Intimität, der den Spendenden eine Nähe zu Lucy gibt, die exakt der des Geschlechtsakts entspricht. Über Arthur, dem Mann, den Lucy inzwischen geheiratet hat, wird später zum Besten gegeben, dass er seit der Bluttransfusion das Gefühl habe, “Lucy und er seien wirklich verheiratet und damit vor Gott Mann und Frau.“ Aus Angst vor der Eifersucht Arthurs beschließen die drei anderen Männer, ihre Blutspenden geheim zu halten, was ebenfalls auf eine starke sexuelle Kodierung hindeutet, denn warum sonst würde bei einer lebensrettenden Bluttransfusion eine Veranlassung zur Geheimhaltung bestehen?
Dies sind aber alles Dinge, die sich unter der trügerischen Oberfläche des Buches ereignen. Die eigentliche Handlung geht unterdessen zielstrebig weiter, denn Dracula nutzt die Vorbereitungen, die Harker für ihn getroffen hat, dazu, in England eine neue Basis zu errichten, die einer möglichen Invasion dienen könnte.
Wirklich furchteinflößend ist das Logbuch des Schiffes, das Dracula unerkannt nach England transportiert. Das Einlaufen des Schiffes in den britischen Hafen ringt Bram Stoker die stimmungsvollsten und düstersten Momente ab, die das Buch zu bieten hat. Die spürbare Beunruhigung der Menschen und die einhergehende atmosphärische Verfinsterung, die die Landung dieses Totenschiffes begleiten, erschaffen eine Vision der Apokalypse. Großes Unbehagen macht sich breit.
Um die Heimsuchung Lucys herum baut sich die Opposition zu Dracula auf, eine tapfere Männergruppe unter der fachlichen Leitung des holländischen Professors Van Helsing. Neben ihm besteht die Gruppe noch aus Lucys frischem Ehemann Arthur und den beiden anderen Verehrern Lucys sowie Jonathan Harker. Die Charakterisierungen der Männer sind dabei so oberflächlich und klischeehaft, dass man sie teilweise ohne Namensnennung nicht auseinanderhalten könnte. Alles Weitere an der Oberfläche ist lediglich purer Plot über den Kampf zwischen Mensch und Vampir.
Aber darunter …
Dracula kann in viele Richtungen interpretiert werden: Fremdenhass, Angst vor einer ausländischen Invasion, technischer Fortschritt gegen das Archaische etc. Aber mehr noch als all diese Deutungsvariationen scheint mir allein der Blick auf die Sexualität zum Fundament des Romans zu führen.
Etwas, worüber man in der Entstehungszeit von Dracula besser nicht redete, war Homosexualität. Dracula bietet viele Hinweise auf eine vorherrschende männliche Homosexualität. Beispiele dafür sind die Rasierszene zwischen dem Grafen und Harker sowie auch der Überfall der drei Vampirdamen auf Harker, den Dracula mit den Worten beendet: “Dieser Mann gehört mir!“ Aber nicht nur Dracula, auch die anderen männlichen Charaktere wirken eher schwul als heterosexuell. Je näher sie sich im Laufe der Handlung zu einer Art schwuler Bruderschaft zusammenschließen, umso salbungsvoller und leidenschaftlicher werden die gegenseitigen Bewunderungen geäußert. Die Biographen sind sich darüber hinaus ziemlich einig, dass Bram Stoker wahrscheinlich selbst schwul war.
Stoker gibt sich aber nicht nur mit einem Tabubruch zufrieden, der offen geschildert bereits bei Erscheinen für einen Skandal gesorgt hätte. Er lotet daneben sehr deutlich auch die Macht des Mannes über die weibliche Sexualität aus und zeigt die Hysterie der Männer, sobald sie feststellen, dass sie nicht mehr im Besitz dieser Macht sind. Die sexuelle Machtausübung gegenüber Frauen ist in Dracula sehr ausgeprägt. Wirklich abscheulich wird diese zentriert in Draculas Erniedrigung Minas, indem er sie zwingt, sein Blut zu trinken. In Wirklichkeit ist das eine Vergewaltigung, in der Dracula Mina zum Oralverkehr zwingt. In ihrer Qual sagt sie: “[Dracula] presste meinen Mund auf die Wunde, sodass ich entweder ersticken oder etwas davon schlucken musste […].“
Eine ebenso denkwürdige Szene ist die Pfählung Lucys durch ihren Ehemann Arthur. Dieser ist von Lucys plötzlichem aggressiven Sextrieb völlig eingeschüchtert und verängstigt: “Ihr Blick funkelte ruchlos, und über ihre Gesichtszüge glitt ein wollüstiges Lächeln.“ Angst jagt ihm insbesondere die drastische Veränderung von Lucys Libido ein, denn “[…] die ganze fleischeslüsterne und seelenlose Erscheinung wirkte wie eine teuflische Verhöhnung von Lucys lieblicher Reinheit.“ Wieder die Kontrolle über Lucy gewinnt Arthur, als er ihr den Holzpflock, das Phallussymbol schlechthin, “immer tiefer“ ins Herz rammt: “Der Körper zitterte und schüttelte und wand sich in wilden Verrenkungen.“ Als er sein Werk vollendet hat, kommt Arthurs Atem “in keuchenden Stößen“.
Mina ist letztlich der stille Kristallisationspunkt für jegliche Diskussionen über die Rolle der Frau im viktorianischen England. Sie wirkt asexuell, ganz so wie die Männer die Frauen gern haben wollten. Mina ist auch diejenige, an der sich die zu dieser Zeit alltäglichen patriarchalischen Repressalien am deutlichsten messen lassen, denn sie selbst erkennt schon früh im Buch ihre Rolle in der männlich dominierten Gesellschaft: “[…] und wenn mir nach Weinen zumute ist, so soll er es nicht sehen. Das ist wohl eine der Lektionen, die wir armen Frauen lernen müssen…“

Empfehlenswerte deutsche Übersetzung: Dracula, übersetzt von Andreas Nohl (Göttingen: Steidl, 2012)

Anmerkung: Es existieren alte Übersetzungen von Dracula, die man lieber meiden sollte, will man nicht auf all die zum Teil subtil verborgenen sexuellen Anspielungen verzichten. Die hier gewählte moderne Neuübersetzung von Andreas Nohl ist nicht unproblematisch, da Nohl (und dafür ist er inzwischen in der Branche bekannt) dazu neigt, den Originaltext zu glätten, sperrige Sätze zu begradigen und damit die Leseerfahrung zu vereinfachen.
Beinahe zeitgleich mit der Nohl-Übersetzung erschien die Neuübersetzung von Ulrich Bossier (Stuttgart: Reclam, 2012), von der ich dringend abraten möchte. Bossier erlaubt sich darin schlichtweg inakzeptable, das Original völlig verfälschende Freiheiten. So ist beispielsweise das letzte – sehr wichtige –  Zitat meiner Besprechung in der Bossier-Übersetzung deratig schlampig und falsch übersetzt, dass es in dieser Version restlos unbrauchbar ist und von mir überhaupt nicht als bedeutsam erkannt worden wäre.
So hat man als Leser leider lediglich die Wahl, aus zwei Übeln das Geringere zu wählen.

J. Sheridan Le Fanu | Carmilla

Originalveröffentlichung:
Carmilla (1872)

j-sheridan-le-fanu-carmilla

In einem alten Schloss in der Steiermark freundet sich die einsame Ich-Erzählerin mit einer lesbischen, sexuell ausgesprochen aggressiven Besucherin voller Geheimnisse an. Eine der einfluss- und interpretationsreichsten Vampir-Geschichten, die – obwohl von einem Mann verfasst – dem viktorianischen Patriarchat feministische Leitgedanken vor die Füße wirft.

Eine der ältesten, einflussreichsten, aber auch heute noch bewegendsten Vampir-Geschichten und gleichzeitig eine frühe Bestandsaufnahme der viktorianischen gesellschaftlichen Geschlechterrollen ist die Novelle “Carmilla“ von J. Sheridan Le Fanu.
Zunächst 1871/72 in vier Teilen als eigenständige Geschichte in einem Magazin erschienen, bettete Le Fanu “Carmilla“ 1872 in seinen Geschichtenband In a Glass Darkly ein. Dabei werden die fünf Einzelgeschichten, einschließlich “Carmilla“, in eine Rahmenhandlung um den okkulten Detektiv Dr. Martin Hesselius eingefasst. Ich bevorzuge aber ohne Zögern den privateren und intimeren Ausschnitt der eigenständigen Veröffentlichung, da sich der nachträglich aufgesetzte pseudowissenschaftliche Rahmen aus In a Glass Darkly auf die Novelle eher schädigend auswirkt.
“Carmilla“ schildert die schaurigen Erlebnisse der neunzehnjährigen Laura, die nach einem Abstand von acht bis zehn Jahren (die Angaben im Text sind widersprüchlich; möglicherweise hat Laura mehrmals angesetzt, die Geschichte zu erzählen) darüber schreibt. Angesiedelt ist die Geschichte nach den groben Angaben im Text etwa Mitte des 19. Jahrhunderts.
Laura lebt mit ihrem Vater, einem Engländer, und ihrer warmherzigen Gouvernante und Ersatzmutter in einem Schloss (Le Fanu verwendet im Original das deutsche Wort) in der Steiermark. Ihre Mutter, “eine Dame aus der Steiermark“ starb so früh, dass Laura sie nicht mehr kennengelernt hat. Die Kulisse ist herrlich stimmungsvoll. Das Schloss ist weiträumig umgeben von nahezu unberührtem Wald, und das nächste Dorf ist relativ weit entfernt. Das Schloss hat alles, was eine derartig romantische Behausung braucht: einen Burggraben samt Zugbrücke, zahlreiche unbewohnte Räume und einen schmalen Weg, der in den Wald hinausführt.
Obwohl Laura sehr behütet aufwächst und ihr Vater außerordentlich gutmütig und liebevoll charakterisiert wird, ist ihr durchaus bewusst, dass sie ein ziemlich einsames Leben führt.
Eines Abends verunglückt eine mit überhöhter Geschwindigkeit fahrende Kutsche vor ihrem Schloss. Eine adelig scheinende Dame gibt vor, unbedingt in geheimer und lebenswichtiger Mission sofort weiterfahren zu müssen. Nur deswegen nimmt sie das Angebot an, ihre gesundheitlich angeschlagene und unter Schock stehende Tochter Carmilla spontan für mindestens drei Monate bis zu ihrer Rückkehr der Obhut des Schlossherrn zu überlassen.
Lauras Freude ist außerordentlich, endlich etwa gleichaltrige Gesellschaft zu haben. Die beiden verstehen sich auf Anhieb. Voller Zuneigung bewundert Laura die Schönheit Carmillas: “Sie war größer als die meisten Frauen“ und “[…] schlank und von wundervoller Anmut.“ Carmilla hingegen sieht Laura als “eine schöne junge Dame mit goldenem Haar und großen blauen Augen und vollen Lippen […].“  Das Paar strahlt eine für alle Leute verführerische Anmut und Unschuld aus, was später im Text gewissenhaft vom männlichen Handlungspersonal demontiert werden wird.
Schon bald geht Carmilla Laura sexuell sehr offensiv an, nutzt jede Gelegenheit zu Berührungen und Küssen. Zwischen den Zeilen ist Carmillas sexuelle Erregung praktisch greifbar: “Bisweilen fasste meine seltsame schöne Gefährtin […] meine Hand und drückte sie liebevoll, wieder und wieder; dabei schaute sie mich sanft errötend mit gesenkten Lidern glühend an und atmete so heftig, dass ihr Kleid sich im gleichen Rhythmus hob und senkte.“
Laura hingegen entwickelt zunehmend ambivalente Gefühle für Carmilla, die zwischen Anbetung und Abscheu pendeln. Laura, die den Beginn ihrer sexuellen Initiation aufgrund ihrer Abgeschiedenheit erst durch Carmilla erfährt, kann offensichtlich das, was sie denkt und das, was sie empfindet, noch nicht miteinander verknüpfen, was angesichts dessen, dass sie als Neunzehnjährige dank der Behütung ihres Vaters niemals auch nur annähernd mit Liebe und Sexualität konfrontiert worden ist, nicht verwunderlich ist.
J. Sheridan Le Fanu verbirgt das Erwachen von Lauras Sexualität hinter der Vampir-Thematik. Er gibt der Leserschaft schon recht früh genügend Hinweise an die Hand, dass es in diese Richtung geht, was für heutige Leser natürlich leichter zu durchschauen ist als für Leser des 19. Jahrhunderts, für die die künstlerische Darstellung des Vampirismus noch kein Allgemeingut war.
Unterdessen mehren sich die Zweifel an Carmilla. Sie bewegt sich auffallend träge, schläft bis mittags und besteht darauf, sich nachts in ihrem Zimmer einzuschließen. Auch erkennt Laura in Carmilla genau die Frau wieder, die sie als Sechsjährige im Traum aufgesucht und verängstigt hat. Daran, dass Carmilla Laura bereits zwölf Jahre vor ihrem Zusammentreffen real heimgesucht hat, besteht kein Zweifel.
In der Zwischenzeit häufen sich in der Umgebung die Fälle, in denen junge Mädchen plötzlich einer seltsamen Krankheit anheimfallen und nach kurzer Zeit sterben. Und dann wird auch Laura krank.
Am Ende stellt sich natürlich die Frage, ob eine Lebensform wie Carmilla wirklich etwas für Laura empfinden kann oder ob es nur ihre Gier nach Blut ist, die sie lenkt. Fest steht, etwas an Laura ist für Carmilla anders als an den anderen Mädchen, die ihre Opfer wurden. Einmal sagt Carmilla zu Laura: “Ich bin nicht verliebt und werde auch niemals lieben, […] es sei denn, dich.“ Obwohl Carmilla, Millarca, Mircalla, oder wie auch immer sie sich gerade nennt, die Jahrhunderte nach ihren Opfern durchstreift, verschont sie Laura bereits als kleines Kind. Und auch, wenn Laura feststellt, dass sie schon drei Wochen die Krankheit überlebt hat, während die anderen Mädchen schon nach drei Tagen sterben mussten, setzt sie das von den anderen Opfern auffallend ab.
Wie schon angesprochen, spielt sich hinter der Metapher des Vampirismus in “Carmilla“ einiges ab. So ist die Novelle im Subtext auch ein deutliches Statement zu den repressiven Lebensumständen der Frauen in einer von Männern dominierten Epoche. Die erotische Anziehung zwischen Carmilla und Laura reflektiert die Furcht der Männer vor den weitgehend im Geheimen liegenden Untiefen der weiblichen Sexualität. So sind es am Ende auch ausschließlich die männlichen Protagonisten, die wieder für ein überschaubares Terrain sorgen und Laura von ihrer irregeleiteten Sexualität “befreien“. Dass die Erlösung insbesondere für Laura möglicherweise unwillkommen ist, zeigt ihre anschließende Verlorenheit. Sie ist traumatisiert, verwindet den Verlust von Carmilla offenbar nie und empfindet das anschließende Alleinsein als unerträglich.

Empfehlenswerte deutsche Übersetzung: “Carmilla“, übersetzt von Bettina Thienhaus, in: Pam Keesey (Hrsg.), Draculas Töchter (Frankfurt am Main: Fischer, 1997)

Anmerkung: Mir sind vier deutsche Übersetzungen von “Carmilla“ bekannt. Die älteste davon, von Helmut Degner, in: Vampire (München: Heyne, 1967 plus zahlreicher Nachdrucke bei Diogenes), ist sprachlich sehr schön, hat gleichzeitig aber leider einen Hang zur Ungenauigkeit, Verallgemeinerung und Verkürzung. Die neueste Übersetzung von Katja Langmaier (Wien: Zaglossus, 2011) legt zwar Wert auf Werktreue, ist aber dem Original nicht gewachsen und stilistisch teilweise von geradezu ärgerlicher Qualität. Ein guter Kompromiss aus Werktreue und stilistischer Qualität findet sich in der Übersetzung von Anne Gebhardt, in: Martin Greenberg & Charles G. Waugh (Hrsg.), Vampire (Bergisch Gladbach: Bastei-Lübbe, 1987), obwohl auch sie nicht fehlerfrei ist. Den Hinweis zur o.g. empfehlenswerten Übersetzung von Bettina Thienhaus verdanke ich Malte S. Sembten (†), der mich auch noch auf folgende (mir nicht bekannte) Übersetzungen hingewiesen hat:
— “Carmilla“, übersetzt von Gertrud Baruch, in: Dieter Sturm & Klaus Völker (Hrsg.): Von denen Vampiren oder Menschensaugern (München: Hanser, 1968 plus zahlreiche Nachdrucke).
— “Carmilla”, übersetzt von K. Bruno Leder & G. Leetz, in: Karl Bruno Leder (Hrsg.): Vampire und Untote Genf und Hamburg: Kossodo, 1968). Vielen Dank an Malte S. Sembten für die wertvollen Informationen.

Robert Louis Stevenson | Olalla

Originalveröffentlichung:
Olalla (1885)

robert-louis-stevenson-olalla

Ein Veteran des spanischen Unabhängigkeitskriegs verfällt während seiner Rekonvaleszenz auf dem Lande einer überirdisch schönen Frau. Ist sie überhaupt menschlich, und erwidert sie seine Liebe? Wortgewaltig stellt Robert Louis Stevenson diese und weitere existentielle Fragen.

Die Novelle “Olalla“ [“Olalla“] von Robert Louis Stevenson gehört zu den unkonventionelleren übernatürlichen Liebesgeschichten. Sie ist nah verwandt mit “La Morte amoureuse“ von Thèophile Gautier und erspart uns ebenfalls die moralischen Klischees, die man zwangsweise in Geschichten dieser Art erwartet.
Der namenlose Ich-Erzähler ist ein englischer Kommandant, der sich im Spanischen Unabhängigkeitskrieg verdingt hat und nach Gefangenschaft und Verwundungen unter der Obhut seines Arztes irgendwo in einer spanischen Stadt seine weitgehende Genesung erreicht hat. Über sein bisheriges Leben schweigt er sich aus, erwähnt aber nebenbei, dass er in seiner Kriegsvergangenheit durchaus dem Tode nahe war.
Sein Arzt empfiehlt ihm als Abschluss seiner Rekonvaleszenz einen Urlaub auf dem Lande. Als Mann der Tat hat der Arzt ihm bereits eine Unterkunft als Logiergast bei einer verarmten Adelsfamilie in den Bergen vermittelt. Der Erzähler folgt dem Rat seines Arztes und kommt schon bald in dem völlig abgeschiedenen Herrenhaus an. Dieses beherbergt lediglich die Mutter, deren Wurzeln bis zu einem königlichen Geschlecht zurückreicht und ihre beiden Kinder, einem Sohn und einer Tochter. Während dem Erzähler die Tochter verborgen bleibt, stellen sich Mutter und Sohn als sehr fremdartig dar. Ihr Benehmen ist von Apathie, Verstocktheit und einem auffallenden Defizit an Bildung geprägt.
Im Zimmer des Erzählers hängt das Gemälde einer jungen, überirdisch schönen, aber auch seltsam furchteinflößenden jungen Frau, auf das der Erzähler sofort emotional reagiert. Eines Nachts wecken ihn abgrundtiefe Schreie, die ihn verstört zurücklassen.
Erst nach Tagen lernt der Erzähler dann die außergewöhnlich schöne Tochter des Hauses, Olalla, kennen, die dem Porträt erstaunlich ähnelt. Im Gegensatz zu ihrer Familie ist sie belesen und feinsinnig. Der Erzähler entflammt in Liebe für Olalla, was Stevenson in euphorisierter und kunstvoller Sprache sehr überzeugend und erstaunlich kitschreduziert zu vermitteln gelingt. Obwohl Olalla zunächst nur geheimnisvoll schweigt, gibt es für den Erzähler kein Zurück mehr. Die ersten Worte, die Olalla schließlich an ihn richtet, lauten: “Sie werden fortgehen […]. Heute!“ Bemerkenswert daran ist, warum Olalla dies sagt. Tatsächlich will sie ihn vor Unheil zu bewahren, ihn vor ihrer heruntergekommenen Familie beschützen, weil auch sie sich in ihn verliebt hat. Und das, obwohl sie wie ihre hinfällige Sippschaft nichtmenschlich ist.
Und folgerichtig endet die Novelle nicht, wie leider J. Sheridan Le Fanus “Carmilla“ (zu der “Olalla“ einige Berührungen hat) mit Destruktion, sondern in Traurigkeit und Melancholie. Des Erzählers Glück, seiner Anima in persona gegenüberstehen zu dürfen, hat leider keine Zukunft. Der Erzähler wird Olalla sein zukünftiges Leben niemals mehr vergessen können.
“Olalla“ ist eine meisterhafte Schauer- und Liebesnovelle, die im Kontext ihrer Entstehungsepoche, dem viktorianischen England, unterschwellig auch sehr viel über die Angst vor Sexualität im Allgemeinen und tiefergehend über die große Furcht des gesellschaftlich zwar höher gestellten, aber trotzdem machtlosen Mannes vor der überwältigenden und durch keinerlei patriarchalische Autorität abwehrbare Aura einer göttingleichen schönen Frau zu sagen hat. “Olalla“ ist eine Fundgrube existentieller Gedanken, eingehüllt in eine erlesene Sprache.

Deutsche Übersetzung: “Olalla“, übersetzt von Waltraud Götting, in: Michael Görden (Hrsg.), Das große Buch der erotischen Phantastik (Bergisch-Gladbach: Bastei-Lübbe, 1984)