Originalveröffentlichung:
Martha’s Lady (1897)
In dieser leisen, melancholischen Geschichte einer romantischen Freundschaft widmet eine Bedienstete ihrer abwesenden Herrin aus Liebe ihr ganzes Leben mit absoluter Enthaltsamkeit.
Ein trauriges Juwel hat uns Sarah Orne Jewett da mit der Erzählung “Martha’s Lady“ [“Marthas Dame“] hinterlassen. Es ist eine stille Geschichte voller unausgesprochener Traurigkeit aus einer Zeit, “als man noch ausgedehnte Besuche machte.“ Im schönen Frühsommer im typischen Jewett’schen New England ist das Hausmädchen Martha bei ihrer wohlhabenden Herrin Miss Harriet Pyne vornehmlich als nichtsnutziger Tolpatsch bekannt. Dies ändert sich jedoch schlagartig, als Miss Pynes junge Kusine Helena Vernon aus Boston für längere Zeit zu Besuch kommt. Sie ist anders als Miss Pyne. Sie strahlt Lebensfreude und Optimismus aus und macht sich nicht viele Gedanken um die Etikette. Weil sie Martha voller Respekt und nicht nur als Dienstbotin behandelt, taut Martha zusehends auf und strengt sich fortan an, ihre Aufgaben zur Zufriedenheit von Helena zu erfüllen. Als Martha zufälligerweise mithört, wie Helena sie vor Miss Harriet in den besten Tönen lobt und voller Zuneigung über sie spricht, erfüllt sie das mit einer vorher nicht gekannten Glückseligkeit. Martha und Helena sind mit etwas über zwanzig Jahren ungefähr gleichaltrig. Helena zeigt Martha, wie sie bestimmte Aufgaben richtig zu erfüllen hat, aber für Martha ist dies längst keine Arbeit mehr im eigentlichen Sinne. Sie genießt die gemeinsamen Unternehmungen mit Helena eher, als seien sie Freunde.
Doch das Ende dieser Idylle ist nahe. Als Helena wieder zu ihrer Familie nach Boston zurückkehrt, können die Zurückgebliebenen “nichts weiter tun, als alt werden und sich auf den Winter vorbereiten.“ Sie hinterlässt mehr als ein gebrochenes Herz. Die Menschen, die ihr begegnet sind, sind nicht mehr dieselben.
Es vergehen vierzig Jahre. Martha ist dem Haushalt von Miss Pyne treu geblieben. Miss Pyne bleibt ihre einzige Verbindung zu Helena. So erfährt sie über die Jahre, dass Helena einen Engländer geheiratet hat, im Ausland lebt, Kinder bekommen und verloren hat.
Aber ohne Vorwarnung ist plötzlich nach über vierzig Jahren der Tag da, an dem Helena zu Miss Pyne und Martha zurückkehrt.
Sarah Orne Jewett, die ziemlich sicher Frauen liebte, spielt sehr geschickt mit den Rollen der beiden. Helena ist Martha zugeneigt, aber letztendlich verlässt sie sie für vier Jahrzehnte. Erst als gereifte über Sechzigjährige “war ihr alles klargeworden.“ Martha hingegen liebt Helena stumm und richtet ihr ganzes Leben nur noch nach dieser verborgenen und verlorenen Liebe aus. “Ohne es zu wissen, besaß sie die Schönheit einer Heiligen“, heißt es an einer Stelle dieser aufwühlenden Liebesgeschichte.
Übersetzung: “Marthas Dame“, übersetzt von Elisabeth Schnack, in: Sarah Orne Jewett, Der weiße Reiher und andere Erzählungen aus dem Land der Spitzen Tannen (Zürich: Manesse, 1966)