[Rezension] Edith Wharton – Zeit der Unschuld

Originaltitel: The Age of Innocence (1920)

Die Handlung von Edith Whartons achtem Roman (ihre Novellen nicht mitgerechnet) The Age of Innocence [Zeit der Unschuld] zu umreißen, lässt sich in einem Satz abhandeln: Junger Mann heiratet Hals über Kopf seine Verlobte, um sich kurz vor der Hochzeit in eine andere Frau zu verlieben.
Nicht gerade spektakulär, und doch ist The Age of Innocence spektakulär. Und ganz so simpel, wie sie sich anhört, ist diese Dreiecksbeziehung wahrlich nicht.
Edith Wharton, die selbst solch einem Milieau aufgewachsen ist, gewährt uns einen mikroskopisch genauen aber auch sanft ironischen Blick in die hohe Gesellschaft des New Yorks der 1870er Jahre, mit all ihren unverrückbaren Traditionen und Moralvorstellungen. Minutiös entwirft sie eine prunkvolle, unanständig wohlhabende Parallelgesellschaft und fixiert dazu als korrespondierenden Kontrapunkt den schwelenden Konflikt einer verbotenen Liebe. Diese exquisite Welt in der Seifenblase besiedelt Edith Wharton mit einer Vielzahl von Charakteren, die, wie man am Ende sieht, alle ihr Quentchen Bedeutung haben. Sind schon die Nebendarsteller teilweise durchaus profiliert gezeichnet, bündelt die Autorin ihre gesamte psychologische Wucht in den drei Protagonisten, die sie außerordentlich nuancenreich zu definieren weiß.
Dem jungen Rechtsanwalt Newland Archer ist es vorherbestimmt, die mädchenhaft schöne, blonde May Welland zu heiraten. Mit dieser arrangierten Transaktion würden zwei der hochrangigsten Familien New Yorks fusionieren, was das erklärte Ziel der Familienoberhäupter ist. Archer ist sein Leben lang in diese Rolle hineingewachsen, aber in ihm wächst auch bereits die Saat des Zweifels. Trotzdem setzt er zunächst alles daran, den Hochzeitstermin vorzuverlegen, was sich als keine gute Idee erweist. Genau in dieser Phase nämlich taucht überraschend Mays Cousine, die Gräfin Ellen Olenska, in New York auf. Sie ist die dunkle Antipode zur sonnigen May. Ellen wurde von ihrem Ehemann, einem polnischen Grafen, ihrer Ehre beraubt. Allein über Andeutungen lässt sich rekonstruieren, dass Treuebruch und Gewalt seitens ihres Ehemannes Ellen dazu getrieben zu haben vor ihm zu fliehen und ihn für immer zu verlassen. Sie ist die gefallene Dunkelhaarige – ein Schattenäquivalent; geduldet, aber nicht mehr.
Die wenigen Begegnungen mit Ellen haben nachhaltige Folgen auf Archer. Ellens geistige Unabhängigkeit und ihr Mut erschüttern Archers Weltbild. Er realisiert zunehmend, wie leer sein reiches Leben in Wirklichkeit doch ist, und muss sich irgendwann eingestehen, dass er sich in Ellen verliebt hat. Flüchtige Treffen wie beispielsweise in einem fast leeren Museum; eine gemeinsame Kutschfahrt im fallenden Schnee: das sind fortan die Momente, die Archer dahin bringen sich aufzubäumen. Aber dem gegenüber steht das unerbittliche steinerne Regelwerk der hohen Gesellschaft.
Beinahe die ersten hundert Seiten dienen Edith Wharton der Exposition. Sie stellt die Charaktere vor, rückt sie an ihre Ausgangspunkte und legt das Fundament für einen sorgsam gemächlichen Handlungsaufbau. Insbesondere die erotische Annäherung zwischen Archer und Ellen zögert Wharton bis ins Extrem hinaus. Hier ein kurzes Gespräch, da ein paar Gesten, immer wieder ereignislose Interludien, in denen die Akteure ihre Zeit mit unerträglichem Alltag totschlagen und sehnsüchtig darauf warten, dass es irgendwie wieder weitergeht. Damit fördert Wharton nicht nur Archers Lustgewinn, sondern auch den der Leserschaft. Es ist enorm, mit welch geringer Schrittzahl Edith Wharton die Gräfin Archer verhexen lässt.
Das wirklich Erstaunliche an diesem Buch sind neben den Protagonisten aber auch die vielen Nebendarsteller, die die solide Basis hinter dem Vorhang bilden: obwohl vielen Leserinnen und Lesern diese sich selbst verehrenden Nebencharaktere persönlich wohl nicht ferner sein könnten, hat es mich verwundert, wie willig ich diesen stocksteifen und hoffnungslos unbelehrbaren Individuen einer besseren Gesellschaft von Beginn an gefolgt bin, was nach meiner Einschätzung sowohl im Schreibstil als auch in der Erzähltechnik Whartons begründet liegt.
Zunächst recht unspektakulär daherkommend, ist der Roman sprachlich prachtvoll und letztlich formvollendet, gleichzeitig aber auch sehr subtil. Die Beschreibungen von Häusern und ihren Interieurs, Theatern, Landschaften, Kleidungsstücken etc. sind großartig. Die einzelnen Sätze von The Age of Innocence fluoriszieren in majestätischer Schönheit.
Erfreulicherweise kommt The Age of Innocence trotz der bleischweren Thematisierung unvereinbarer Gegensätze ohne Pathos aus. Gefühle werden nicht beschrieben, sondern äußern sich über kleine aber wirkungsvolle Geschehnisse. Wenn der stets die Lage im Griff zu habenden und über den Dingen stehenden Gräfin Olenski plötzlich eine Träne herabrinnt, greift das entschieden unsere Herzen an.
Ein feinsinniger Humor trägt ebenfalls dazu bei, das Werk bei aller Traurigkeit mit einer wohltuenden Leichtigkeit zu ummanteln. Immer dann aber, wenn der Humor auf Kosten einer Handlungsfigur zu gehen droht, gleicht Wharton dies durch andere positive Hinzugaben wieder aus, wie beispielsweise bei der monströs korpulent dargestellten Mrs. Manson Mingott. die aber letztlich als einzige Entscheidungsträgerin ein großes Herz gegenüber Ellen beweist.
Das unspektakuläre Auftreten des Romans sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Plot tatsächlich mit seinen vielen Andeutungen und Fährten außerordentlich ausgeklügelt ist. Eine angenehm zurückgenommene Symbolik (wie das beschmutzte Hochzeitskleid) bietet viel Raum für eigene Überlegungen. Bei wiederholter Lektüre wird man das Buch mit weiterem Gewinn lesen.
Überdenkenswert sind auch die Geschlechterrollen der Protagonisten. Archer zieht hier die Karte des Narren, sieht er sich selbst doch als eine Art Feminist. Ellens traumatische Vergangenheit unter der Tyrannei ihres Ehemanns bringt ihn derart auf, dass er in bedrohliche Nähe dessen gerät, was die hohe Gesellschaft als Skandal von größter Unerhörtheit bezeichnen würde. Während Ellen den Archetypus des mental autonomen Individuums verkörpert, sieht Archer in May die herangezüchtete Musterehefrau ohne eine eigene Meinung – was er gern ändern würde, jedoch sehr schnell wieder aufgibt: “Es hatte keinen Sinn, eine Frau emanzipieren zu wollen, die nicht einmal ahnte, dass sie nicht frei war […].“
Ach, wie sehr er irrt, der arme manipulierte Tor, denn die Frauen sind es in Wirklichkeit, die seine Geschicke lenken, und ausgerechnet die zart-naive May sorgt als konspirative Hüterin der ehernen Gesetze dafür, dass Archer den Weg geht, den sie ihm zuerkannt hat.

Deutsche Übersetzung: Zeit der Unschuld, übersetzt von Andrea Ott (München: Manesse, 2015)