Iain Banks | Straße der Krähen

Originalveröffentlichung:
The Crow Road (1992)

In dieser alles andere als gemütlichen schottischen Familiengeschichte stellt sich der junge Protagonist die Fragen seines Lebens und ist am Ende nicht mehr Derselbe

Mit seinem Opus Magnum The Crow Road [Straße der Krähen] kehrt der wilde Schotte Iain Banks in seine Heimat zurück. Es gibt Kilts, Lochs und Alkohol  – viel Alkohol. Apropos. Es ging die Runde, dass Banks mit Vorliebe Science-Fiction-Cons besuchte, um sich dort dann voller Inbrunst einen nach dem anderen einzugießen. Das passt gut mit The Crow Road überein, denn auch hier scheint Whiskey neben Muttermilch das einzige schätzenswerte Getränk zu sein. Banks, selbst kein Kind von Traurigkeit, porträtiert hier einen Lebensstil und nicht etwa eine coole Attitüde, so viel ist mal klar.
The Crow Road beginnt mit einem furiosen Satz. Ich glaube, keiner hat je das Buch rezensiert, ohne diesen Satz zu zitieren. Der Mensch ist ein Herdentier, also zitiere auch ich ihn: „Es war der Tag, an dem meine Großmutter explodierte.“
Angesichts dieses Einstiegs und weil der Waschzettel uns verrät, dass es sich bei The Crow Road um ein Familienepos handelt, könnte man sich zu dem Gedanken verleitet sehen, es handele sich um einen pikoresken Wälzer der Marke John Irving, voller Übertreibungen und Ausuferungen. Aber ich kann euch beruhigen, The Crow Road hat in diesem Club nicht viel zu suchen. Im Gegenteil, obwohl The Crow Road – insbesondere im ersten Drittel – den Eindruck erweckt, wirklich jedes Persönchen der Handlung potenziere sich gleich dutzendweise in Verwandte und Freunde (strebsam wie ich bin, habe ich mir zu Anfang tatsächlich einen Stammbaum gemalt, der mir sämtliche verwandschaftlichen Verbindungen plastisch darstellt, aber das stellte sich als Fehlinvestition heraus, da die Charaktere alle für sich stehen und es letztlich völlig egal ist, wer wessen Tante ist), zeigt sich insbesondere im letzten Drittel, dass das Buch in Wirklichkeit über ein sehr straffes Konzept und einen sauber konstruierten Plot verfügt und es eben nicht um den McHoan-Clan in seiner Gesamtheit geht, sondern in erster Linie um den Ich-Erzähler Prentice McHoan, um seine Schwierigkeiten erwachsen zu sein und sich im Leben der Neunziger Jahre zurechtzufinden. Das ist beileibe kein neues Thema, aber es bedarf erst eines innovativen Autors wie Iain Banks, um der traurigen Gesellschaft vieler ewig betroffener Mainstream-Greise zu zeigen, wie man solch ein Thema anpackt, wie man modern und dabei gleichzeitig realistisch-wahrhaftig sein kann.
Für mich spielte während der Lektüre eine Vorstellung der Person Iain Banks eine nicht unwichtige Rolle. Als ich vor vielen Jahren ein Interview mit ihm las, war ich überrascht, wie wenig dieser Man zu sagen hatte. Alles, was ich dachte war, dieser oberflächliche, unbeschwerte Typ schreibt solche Bücher? Die Frage, ob es einfach an einem lauen Interview lag, oder ob Banks in Wirklichkeit ein wohlbehüteter Schreibtischtäter war, stellt sich für mich aber nicht mehr. Denn, wer so tiefen Einblick in die Seele eines jungen Menschen gewährt, wie Iain Banks das in The Crow Road mit Prentice praktiziert hat, weiß sehr viel über das Leben, und es ist eine Bereicherung für jeden Leser, wenn solch ein Mensch in der Lage dazu ist, diese Weisheit des täglichen Lebens in solch eine furiose Geschichte zu verpacken, wie The Crow Road es ist.
Prentice McHoan, Anfang zwanzig, ist der mittlere Sohn des weitverzweigten McHoan-Clans. Solange er zurückdenken kann, quälen ihn Fragen (die englische Originialausgabe listet sie im Klappentext alle auf): Wird die goldhaarige Verity ihn jemals beachten? Weiß Ashley Wart, dass er es war, der ihr mit einem Stein im Schneeball die Nase brach als sie noch ein Schulmädchen war? Gibt es einen Gott? Lebt Onkel Rory noch, oder ist er die Straße der Krähen entlanggegangen?
Prentice stellt sie sich jedoch nicht „irgendwann einmal“, sondern sie beherrschen sein Leben. Als die von ihm verehrte Verity seinen Bruder heiratet, geht es mit ihm rapide bergab, sein Leben gerät aus den Fugen, er selbst an den seelischen Abgrund. Mit düsteren Symbolen des gerade ausbrechenden Golfkrieges  beladen, hält uns das Buch sehr plastisch vor Augen, wie es war, in den Neunzigern zu leben.
Ich muss gestehen, dass ich erst Skrupel hatte, das Buch zu beginnen. Zu frisch sind mir noch Banks ersten beiden Romane The Wasp Factory [Die Wespenfabrik] und Walking on Glass [Barfuß über Glas] in Erinnerung, die teilweise niederschmetternde Ausweglosigkeit, der Mangel an positiver Tendenzen. Da hat sich bei Banks einiges getan. Es ist beispielsweise geradezu rührend, wie Prentice‘ Vater mit einer Horde Kinder durch die stellenweise prähistorisch anmutende schottische Landschaft stiefelt und die Gören ihm mit leuchtenden Augen an den Lippen hänge, während er ihnen selbsterdichtete Märchen und Geschichten erzählt. Außergewöhnlich auch die Verständigung der Generationen miteinander. Obwohl Gespräche zwischen Vater und Sohn in The Crow Road zum absoluten Bruch führen können – immerhin reden sie miteinander.
Geht man davon aus, das jedes Buch ein Spiegel der jeweiligen Verfassung seines Autors ist, so zeigt uns The Crow Road einen gereiften Iain Banks, der aber immer noch den Wilden, den Störer, den Schocker, den Tabubrecher (sämtliche Sexszenen im Buch sind von unbeschreiblicher Einmaligkeit) in sich hat. Musste Walking on Glass, ein Buch ähnlicher Gefühls-Thematik (Angebetete missachtet ihren Verehrer) in Mutlosigkeit und zerstörtem Vertrauen in die Menschheit enden, so schließt The Crow Road voller Zuversicht und Wärme, trotz all der grotesk Verunglückten und Ermordeten im Laufe des Buches.
Weiter oben habe ich noch geschrieben, The Crow Road drehe sich einzig um Prentice McHoan. Das ist so allerdings nicht ganz richtig. Lange Dialoge zwischen den unterschiedlichsten Charakteren spielen eine sehr große Rolle. Banks erreicht dadurch eine Polyphonie, die Prentice und seine Welt erst so richtig wahr werden lässt. Banks trickst damit virtuos herum. Ein Beispiel: oft reden im „Hintergrund“ die Nebenfiguren (erstaunlich, dass so etwas in einem Roman überhaupt möglich ist), während Prentice abwesend seinen eigenen Gedanken nachhängt. Das Buch ist also, wie der überhebliche Nachwortschreiber der deutschen Ausgabe, Sky Nonhoff es salopp ausdrückt, nicht einfach nur „dialog- und diskurslastig“.
The Crow Road ist ein Buch, vor dem jeder Rezensent, der nicht gerade hunderte Seiten zur Verfügung hat, kapitulieren muss. So viele Nebengleise, die ich leider hier unter den Tisch fallen lassen muss. Es ist ein Buch, nach dessen Lektüre man nur beeindruckt flüstern kann: Ein Meisterwerk!
Und so beschließe ich diese Besprechung mit einem schottischen Trinkspruch: Hoch die Tassen. Slainthe Math!

Deutsche Übersetzung: Straße der Krähen, übersetzt von Jonathan Gates (München: Goldmann, 1996)

Erstveröffentlichung dieser Rezension in: dandelion, Nr. 6, Sommer 1996.
Die Rezension wurde für diese Veröffentlichung überarbeitet

Richard Lorenz | Hinter den Gesichtern

Warum lesen wir – mich inbegriffen – eigentlich durchschnittlich so viel mehr übersetzte Literatur als welche aus heimatlichen Gefilden? Nun ja, moderne deutsche Literatur hat bei vielen Lesern nicht gerade den besten Ruf. Denn nicht unbedingt jeder findet Erfüllung darin, Autoren dabei zuzusehen, wie sie nach gewichtigen zeitkritischen Themen grasen, die ihre Chancen auf Literaturpreis-Nominierungen enorm vergrößern. Wofür in der deutschen Literatur das Absolutum „Made in Germany“ aber nun wirklich nicht steht, ist das Grundsätzliche aller erzählender Literatur: die Fähigkeit zum Erzählen.
Es lässt sich aber eine Gruppe von Autoren beobachten, die sich über so etwas überhaupt keine Gedanken machen, denn sie können es einfach, das Erzählen. Ich spreche von Autoren wie Frank Hebben, Hanna-Linn Hava, Erik R. Andara und natürlich Richard Lorenz. Sie alle verstehen es auf ihre jeweils ganz eigenen Arten, Geschichten zu erzählen, den man nur zu gern folgt, und zwar weil sie bewegen, fesseln, eigene Schrullen in Literatur zu konvertieren in der Lage sind. Die belehrende und erzieherische Versuchung gesegneter, preisverdächtiger deutscher Literatur hat sie glücklicherweise nie erreicht.
Richard Lorenz hat es sich mit seinen bisherigen (veröffentlichten) Werken Amerika-Plakate, Frost, Erna Piaf und der Heilige und So dunkel die Nacht (Download im Buchdesign hier) in einer Nische in der Nische eingerichtet, in der er bewundert und kultisch gefeiert wird. Es wird langsam aber wirklich Zeit, dass das, was in seiner Nischennische passiert, endlich einen Überdruck erwirkt und aus der kleinen Höhle herausplatzt. Ob das mit seinem neuen Roman Hinter den Gesichtern passieren wird, sehe ich (leider) immer noch etwas verhalten, aber worin ich mir sicher bin, ist die Gewissheit, dass dieses Buch Richard Lorenz neue Leser verschaffen und eine größere Nischenwohnstätte erforderlich machen wird.
Hinter den Gesichtern segelt unter der Kriminalroman-Flagge, aber auch dieser Anzug sitzt viel zu eng. Klar, ist es ein Kriminalroman, aber es ist ein Kriminalroman von Richard Lorenz, und allein diese Begriffskombination lässt auf etwas Neues, Eigenständiges hoffen.
Und um es kurz zu machen, ja, genau dies ist geschehen. Und um es noch deutlicher zu sagen, mit Hinter den Gesichtern ist Richard Lorenz ein Meisterwerk gelungen!
Unter dem Begriff Meisterwerk verstehe ich persönlich etwas völlig Herausragendes, etwas, das es so noch nicht gegeben hat, etwas das kein anderer in dieser Form erschaffen könnte. Ich habe mir also durchaus Gedanken gemacht, warum ich diese persönliche Ehrung genau an dieser Stelle vergebe. Hinter den Gesichtern ist für mich tatsächlich eine völlig neue Leseerfahrung, und, ja, ich bin der festen Überzeugung, dass kein lebender deutscher Autor dazu in der Lage wäre, etwas Derartiges zu schreiben. Hinter den Gesichtern benötigt keinen Patentschutz, denn jeder, der es imitieren wollte, kann nur scheitern. Richard Lorenz braucht daher keinen Wettbewerb fürchten, denn er ist einmalig, und mit diesem Buch zu einem Giganten angewachsen, an dem man nicht mehr vorbeischauen kann, ohne ihn trotzdem im Blick zu haben.
Was aber macht denn diesen Roman so außergewöhnlich? Ich weigere mich, auch nur einen Satz zur Handlung zu schreiben. Der Klappentext geht mir da schon zu weit und sollte dringend gemieden werden.
Das Fundament von Hinter den Gesichtern ist das eines Thrillers, wie wir es kennen. Das Wie ist hier das alles Entscheidende. Ich muss da an die Cass-Neary-Thriller denken, in denen ihre Autorin Elizabeth Hand recht erfolgreich versucht, das Genre zu sprengen und Thriller so zu schreiben, als seien sie einfach nur abgründige literarische Werke, ohne Einheitsgröße. Elizabeth Hand bleibt dabei bis auf ausgesuchte visionäre Szenen durchweg im realistischen Tritt. Richard Lorenz hingegen geht viel weiter, sehr viel weiter. Er leuchtet so tief in die Köpfe seiner Romanfiguren, dass es weh tut. Und was sich in diesem Erkundungsstrahl auftut, sind keine realistisch-logischen Gedankenfolgen sondern zerstörerische Abgründe der absoluten Finsternis, metaphernreich signalisierend, brodelnd wie schwarze Lava. Und das alles erreicht Lorenz allein mit dem Instrument Sprache, das er so virtuos beherrscht wie kaum ein anderer. Die Wege und Tätigkeiten des Handlungspersonals lassen sich real verfolgen, wie in einem gängigen Thriller, aber was in ihren Köpfen passiert, das erfahren wir nur durch die Sprachmächtigkeit des Autors. Allesamt sind sie traumatisiert, diese Bewohner der Kleinstadt des Grauens. Aber nicht die äußeren Folgen stehen im besonderen Fokus Lorenz‘, sondern das, was die Traumata jeden Tag, jede Minute mit den Menschen machen. Ihre Ängste und Panikattacken macht Richard Lorenz in seiner lyrischen Sprache so sichtbar, dass man die Schreckgespenster förmlich greifen kann, und tatsächlich habe ich noch nie in erzählender Literatur eine derartig permanent vorhandene, alles überflutende Atmosphäre der Angst in den Köpfen fiktiver Charaktere gespürt. Die Bildhaftigkeit von Richard Lorenz‘ Sprache erreicht hier eine wirklich bemerkenswerte Intensität.
Schwarzes Blut flutet an allen Ecken und Enden durch Hinter den Gesichtern und der Roman liest sich durchgängig wie ein dunkel-phantastisches Werk. Und doch ist es letztlich ein Monolith des Lebens, des Menschseins, voller Weisheit und Güte.
Was ich mir von Richard Lorenz für die Zukunft wünsche? Dass aus dem Roman keine Krimiserie entsteht. Und dass Richard Lorenz beim nächsten Mal über die Lichtseite schreibt, in einer Art Lorenz‘schem Löwenzahnwein.

Originalausgabe
Dortmund: Luzifer Verlag, 2019

J. R. Salamanca | Lilith

Originaltitel: Lilith (1961)

Ein junger Pfleger in einer psychiatrischen Privatklinik verliebt sich in eine schizophrene Patientin, die ihn mehr und mehr mit ihrer wilden Schönheit und faszinierenden Abseitigkeit in ihre selbsterschaffene Wunderwelt zieht. Ein begnadeter Roman mit prachtvollen, luziden Beschreibungen der schönen und beängstigenden Korridore des Wahnsinns.

Ach, wie sehr kann man doch das Leid des armen Vincent verstehen, als ihm zum ersten Mal bewusst wird, dass mit einer Heilung der fremdartigen Lilith seine große Liebe zerfallen wird wie ein von Holzwürmern zerfressener Dachbalken. “Die normale Lilith wäre hübsch (nicht schön wie ein wildes Tier)“. Kann man ihm verdenken, dass er dies alles nicht verlieren will? Hängt doch seine gesamte Existenz daran:

O du meine Lilith, und wo ist dein zerfetzter Rock geblieben, wo deine bloßen weißen Füße, dein fliegendes Gelbhaar, wo ist das Leuchten deiner Augen, die zärtliche Grausamkeit deines Blicks? Wo sind sie hin, die glänzenden Landschaften deiner Seele, die Dörfer, wo ist dein Volk? [… W]o sind sie hin, ihre Lieder, Instrumente, Evangelien? Was wird aus mir, der ich in den Einöden des Gesundseins verschmachte nach deinem Antlitz und dem Laut deiner eilenden Füße?

J. R. Salamancas atemberaubender Roman Lilith [Lilith] – tatsächlich einer der faszinierendsten und reizvollsten, die ich je gelesen habe – lässt zu Beginn nicht im Geringsten erahnen, in welche traumverlorene Abzweige er sich noch öffnen wird. Lilith ist der begnadete Versuch, eine restlos überzeugende und ersehnenswerte Co-Realität zu erschaffen, deren sekundäre Wirklichkeit sich stetig mehr Raum erobert und in logischer Konsequenz die Tore öffnet für Schönheit und Weisheit – in dieser Konfiguration allerdings nur im Kopf der Protagonistin existent.
Lilith Arthur, die dem Roman seinen beziehungsreichen Titel gibt, ist eine schizophrene Patientin im Pappelheim, jener idyllischen mentalen Privatklinik, der sich der noch junge Vincent Bruce in dem achtzigseitigen Einstiegsteil des Romans zum ersten Mal während eines Auslieferungsjobs nähert. Als ihm ein Teil seiner Ware hinfällt, hört er ein Lachen, das “klang wie Glasstäbe, die im Wind aneinanderschlagen.“ Im Garten der Anstalt entdeckt er ein seltsam weltabgewandtes Mädchen. Mit einnehmender Grazie “hob sie eine Hand, die bleich war und zerbrechlich wie ein Korallenästchen.“ Dies und “die grausam-zärtliche Schönheit ihres Gesichtes“, haben, wie wir später sehen werden, einen dauerhaften Effekt auf Vincent, auch, wenn das Mädchen für ihn erst einmal wieder in den Hintergrund rückt.
Einige Jahre und einen Weltkrieg später kehrt Vincent als Kriegsveteran nach Hause zurück. Entgegen des Karrierewunsches seines Großvaters entschließt er sich zu einen einfachen, ausbildungslosen Job mit Gemeinnutz, ganz wie er es seiner viel zu früh verstorbenen Mutter schuldig zu sein glaubt.
Und so landet er, als sei sein Weg lange vorgezeichnet gewesen, im Pappelheim. Die Leiterin erkennt sein empathisches Potential, stellt ihn sofort als Beschäftigungstherapeut ein und überträgt ihm schon bald für einen Ungelernten außergewöhnlich verantwortungsvolle Tätigkeiten. Im Pappelheim lernt er zum ersten Mal, was Anerkennung heißt und lernt das Gefühl kennen wirklich gebraucht zu werden. Sein Eindringen in “die Sphäre des Heims“ ist, wie er sagt, der Beginn “der seltsamen Verwandlung meiner Welt und meines Herzens.“
Es gelingt ihm schnell, das Vertrauen der meisten Patienten zu gewinnen, und seine Wahrnehmung insbesondere der Frauen dort nimmt seine folgende Marschrichtung vorweg: “Diese Frauen hatten etwas Gespenstisches, Hexenhaftes, Übersinnliches an sich, und genau das fehlte den Männern.“
Eine dieser Frauen ist Lilith Arthur, von der Klinikleiterin so ankündigt: “Sie ist faszinierend – eine der interessantesten Patientinnen, die wir zur Zeit haben, und zweifellos die schwierigste. Niemand von uns kann auch nur das Geringste bei ihr erreichen. Unmöglich mit ihr zu arbeiten.“ Um noch prophetisch anzuhängen: “Wenn sich ein Mann in die verliebt, hat er nichts zu lachen.“
J. R. Salamancas Schreibstil ist in der Ausarbeitung mehr als nur ein reines Erzählmedium. Salamanca nutzt die Sprache eher wie ein Musikinstrument. Seine Prosa schmiegt sich wunderbar an die jeweiligen Plotmarken an. Im Grunde eher nüchtern-realistisch, flammt das Geschriebene poetisch und unterschwellig erotisierend auf, wenn Vincent Liliths Seelenlandschaftem betritt. Dann wird Salamancas Tonfall gleichzeitig zart aber auch kraftvoll und hymnisch. Diese sprachlichen Gegensätze spiegeln Vincents innere Verfassung wider: ohne Lilith ist seine Welt grau, ereignislos und unerfüllt – mit Lilith wird sie zu einem rauschhaften Erlebniszustand.
Aber bis es so weit ist, vergeht noch einige Zeit, in der Vincent sich der Patientin Miss Arthur zunächst ausschließlich dienstlich nähert. Salamanca geht dabei lobenswert behutsam vor, baut Liliths Komplexität dynamisch in aller Ruhe auf.
Das erste, was Vincent von Lilith wahrnimmt, ist ihr zauberhaftes Flötenspiel. Wie er bereits während der ersten Gespräche mit seiner Schutzbefohlenen realisiert, hat Lilith sich mit an Genialität grenzender Schöpfungsgabe eine lückenlose, völlig autarke Welt der Ekstasen konstruiert; mit eigenen betörenden Musikkompositionen, einer eigenständigen Philosophie und einer grundlegenden heidnischen Weltordnung. Eine Welt ohne Technisierung, jedoch in erdnaher Verbundenheit. Sogar eine eigene Sprache hat sie erschaffen, die auf einem selbstkonstruierten linguistischen Konzept der Gegensätzlichkeit basiert und in der sie lange Texte verfasst, die freilich niemand lesen kann.
Vincent gegenüber verhält sie sich erstaunlich kooperativ, so dass sich schnell ein Vertrauensverhältnis zwischen den beiden aufbaut. Je näher Lilith Vincent jedoch an sich heran und ihn an ihrer bemerkenswerten Klarheit und Strukturiertheit Anteil haben lässt, umso schwerer fällt es ihm, sie als Kranke anzusehen und weiterhin seinen Auftrag im Fokus zu halten, sie langsam in die reale Welt zurückzuführen,.
Die vielen Gegensätze Liliths tun ihr Übriges, Vincents Verantwortungsbewusstsein immer mehr zu zersetzen. Sie hat das Asketische einer barfüßigen Heiligen und die makellose Aura eines jungen, äußerst klugen Mädchens. Ihre archetypische Schönheit, ihre “verwilderte Anmut“ und “ihre unfassbare Fremdartigkeit“ erledigen den Rest.
Dass Lilith ihn von Anfang an manipuliert und korrumpiert, entgeht Vincent. Er ist der optimale Gegenpol zu Lilith, ist seine Seele doch ebenfalls beschädigt. Vom frühen Tod seiner Mutter traumatisiert, hat er – bei aller Sympathie, die er in uns weckt – einige sehr unangenehme Züge entwickelt, die von seinem nicht tolerierbaren Rassismus bis hin zu seinem erschreckenden Desinteresse an genau den Menschen, die ihn wirklich lieben, reicht. Seine tief verankerte Empfänglichkeit für die Verführung, zeigt sich bereits in einer frühen Schlüsselszene, als er mit seiner ersten, auf ihn reizlos wirkenden Freundin tanzt und plötzlich völlig überraschend in ihren Augen ein “zärtliches Wissen um ein Jenseitiges hinter dieser Wirklichkeit, nach dem ich mich immer gesehnt hatte“, sieht. Aber es reicht für diese kraftlose Beziehung nicht aus, denn ohne es zu begreifen, hat Vincent jenes Jenseitige bereits durch das schöne, goldblonde Mädchen im Garten des Pappelheims gekostet.
Seine zunehmende seelische Abhängigkeit von Lilith ist daher nur folgerichtig und durchaus nachvollziehbar. Lilith ist die Frau, die Vincent in seiner perspektivlosen Realität niemals finden wird; eine imaginäre Gestalt wie aus einem Zauberreich, bar jeglicher Einflussnahme eines gewöhnlichen Alltags. Lilith, mit all ihrer Widernatürlichkeit, ist Vincents Portal in den ultimativen Eskapismus, denn das, was Vincent (und er ist beileibe nicht der Einzige) wahrnimmt, ist, so unermesslich lockend es auch sein mag, leider nichts weiter als ein privater, wunderschön modellierter psychischer Schutzwall, den eine sehr viel jüngere Lilith gegen ihr eigenes Trauma aus einer anderen Zeit und Welt errichtet hat.
Das alles bildet Salamanca mit großer Sensibilität und Virtuosität in einem Roman ab, der sich geschmeidig in jede Kurve legt, die sein Autor anfährt. Um es ohne Schnörkel zu sagen: Lilith ist ein Meisterwerk!
Der Preis, den Vincent am Ende zahlen muss ist hoch, der Schaden, den er angerichtet hat, nicht wiedergutzumachen. “Warum nur liebe ich dieses Mädchen? Weil sie – so ist? Weil sie verrückt ist? Visionär? Besessen?“ wird Vincent sich wahrscheinlich gebetsmühlenhaft wie ein Mantra sein Leben lang aufsagen. Dem “Traum von einer edlen, götterähnlichen Menschrasse, von Gesang, Weisheit und nie endendem Entzücken“ wird er für den Rest seines Lebens hinterher trauern. Oder?

Deutsche Übersetzung: Lilith, übersetzt von Brigitte Kahr (Genf und Hamburg: Kossodo, 1964)

[Rezension] Peggy Wolf – Acker auf den Schuhen

Originalveröffentlichung, 2014

Acker auf den Schuhen

Irgendwann steht wahrscheinlich jede Schriftstellerin, jeder Schriftsteller vor der Frage: Lehne ich mich eher den Publikumsvorlieben entgegen oder versuche ich etwas annähernd Wahrhaftiges zu erschaffen? Mit Wahrhaftigkeit im literarischen Sinne meine ich, der Innenwelt des realen Lebens fiktiv so nahe wie möglich zu kommen, ohne all die möglichen Emotions- und Handlungsspitzen so weit auszureizen, dass sie zwar den Verlag zufrieden machen, letztlich aber die Ambitionen des Schriftstellers aufweichen.
Ich bin mir sicher, Peggy Wolf wusste von Anfang an, welchen Weg sie mit ihrem Erstlingsroman Acker auf den Schuhen gehen würde. Und zwar definitiv nicht den leichten, publikumswirksamen.
Schon der erste Satz legt uns nahe, bloß nicht zu glauben, dass der Anlass des nachfolgenden Familientreffens mit Freude verbunden sei: “Als der Sarg kam, fuhr Waltraud zum Bestatter.“
Waltrauds Haus füllt sich nach und nach mit den Gästen: ihrer jüngsten Tochter Anne, der mittleren Tochter Betty, deren Angehörigen. Der Grund des Familientreffens ist die Beerdigung von Waltrauds ältester Tochter Susann. Von Anfang bis Ende des Buches vergeht nicht viel Zeit. Klammert man das Abschlusskapitel aus, sind es nicht einmal zwei volle Tage, die in Echtzeit vergehen. In dieser Zeit geschieht nichts weiter als die Beerdigungsvorbereitungen und das eigentliche Begräbnis.
Das, was Peggy Wolf uns aber wirklich zu sagen hat, geschieht auf gedanklicher Ebene. Ähnlich wie in Mrs Dalloway von Virginia Woolf wechseln die Gedanken- beziehungsweise Erzählebenen fließend. Diese Perspektivwechsel sind nicht etwa an starre Konzeptgrenzen wie Kapitel etc. gebunden. Das bewirkt, dass die Gedankenströme uns Leserinnen und Leser erreichen als seien wir zu Gast in den Köpfen der Protagonistinnen.
Acker auf den Schuhen ist das, was man zu Recht ein feminines Buch nennen kann. Nicht aber im Sinne von Feminismus sondern in dem Sinne, dass die Frauen das Geschehen steuern. So sind es auch ausschließlich die Frauen, die uns ihre Gedanken schenken. Allen voran die bigotte Mutter Waltraud, die gefangen ist in ihrer Welt aus Pflichterfüllung und äußerer Sauberkeit. Daneben hauptsächlich zu (denkendem) Wort kommt Anne, die Tochter, die am meisten unter dem Tod ihrer großen Schwester zu leiden hat, da sie es als einzige neben ihrer nun toten Schwester Susann geschafft hat, frei zu denken und zu handeln, wenn auch zum Preis lebenslanger Gewissensbisse.
Das traurige Schicksal Susanns öffnet sich nur zögerlich. Lesbisch in einem homophoben Dorfmikrokosmos, trägt sie schon als Jugendliche das Stigma der Verdammten. Sie hat keine Chance, und dieses Wissen bricht nicht nur ihrer kleinen Schwester Anne sondern auch uns Lesenden das Herz.
Wie schon gesagt, ist Acker auf den Schuhen ein Buch der weiblichen Stimmen. Anne, die Susann geliebt hat, die nie Anstoß daran genommen hat, dass Susann lesbisch ist, ist letztendlich die einzige weibliche Sympathieträgerin. Waltraud ist nicht mehr zu helfen. Sie wird niemals realisieren, dass sie ihr Leben (und das ihrer ältesten Tochter) verschwendet hat. Verschwendet an eine Religion und an eine gnadenlos gelebte Erziehung, die ihr nicht annähernd das geben konnten, was freie Gedanken ihr hätten geben können. Auch ihre Tochter Betty ist vom Wege abgekommen. Ihre Welt aus finanzieller Freiheit und selbst gesetzter emotionaler Limitierung gibt ihr zwar die Sicherheit unbeschadet durchs Leben zu kommen, aber wirkliche Qualität hat ihr Leben nicht.
Peggy Wolfs lobenswert differenzierte Darstellung des Gesamtthemas zeigt sich aber besonders deutlich im männlichen Personal. Während Waltrauds ehemals despotischer, nun durch einen Schlaganfall außer Gefecht gesetzter Ehemann und Bettys Gatte in ihrer geistigen Beschränktheit indiskutabel sind, zeigt insbesondere Annes Freund Robert, dass es für Peggy Wolf nicht in Frage kommt, Geschlechter gegeneinander auszuspielen. Robert ist der wohl einfühlsamste Charakter im Roman. Nicht nur, dass er seine eigenen Gespenster zu bewältigen hat – offensichtlich hat er die lesbische Susann geliebt -, er navigiert auch permanent emphatisch zwischen Anne und ihren beiden gemeinsamen Kindern und füllt klaffende Traurigkeitslücken mit Trost und Halt.
Peggy Wolf hat mit Acker auf den Schuhen einen hochrangigen, deutlich aus der Masse herausstechenden Roman geschrieben, der besondere Beachtung durch eine kraftvolle Stilistik verdient, jenem geheimnisvollen Wie, ohne das dieses Werk nicht annähernd so spektakulär wäre, wie es tatsächlich ist. Womit es nämlich wahrhaft herausragt, ist die sprachliche Ruhe und ein gleichbleibend gedrosseltes Erzähltempo. Die Autorin hat die magische Fähigkeit, die Zeit zu verlangsamen.
Peggy Wolf ist eine bemerkenswerte Stilistin, deren Prosa schon in diesem ersten Roman von enormer Reife zeugt und jederzeit das Signal aussendet, die völlige Kontrolle über den selbstgewählten Stoff zu haben. Neigt man bei schwächerer Lektüre schon mal dazu, interne Fehler und Ungereimtheiten aufspüren zu wollen, genießt man in Acker auf den Schuhen einfach nur die sprachliche Virtuosität, die aber nie so wirkt als wolle sie virtuos sein. Mit Bravour umschifft Peggy Wolf alle nur denkbaren Klischees, die man in einem Roman dieser Thematik eigentlich erwarten würde. Sie liefert nur die Geschichte. Für Betroffenheitsgestik, Sozialkritik und Anklageverlesung gibt sie sich nicht her. Sie liefert das düstere, durch einen warmen Humor gemilderte Material. Was jeder für sich sich daraus mitnimmt, ist nicht mehr ihre Baustelle.
Acker auf den Schuhen ist ein großer Roman über die Schuld. Ein Menschenleben wurde ausgelöscht. Die einzige, die keinerlei Schuld trifft, zerbricht daran, dass sie sich schuldig fühlt. Alle anderen, die über Susanns Untergang entschieden haben, verstecken sich hinter der Sicherheit ihrer fortwährend heruntergebeteten Psalmen der Intoleranz.
Acker auf den Schuhen ist ein meisterhafter Roman.