Iain Banks | Barfuß über Glas

Originalveröffentlichung:
Walking on Glass (1985)

Dieser Roman ist auf Rauchglas geschrieben. Man erkennt erst nach und nach, dass auf der anderen Seite des trüben Glases etwas ganz anderes geschrieben steht als auf der Außenseite. Ein realistisch-phantastischer Roman, der indirekt fragt: Wer ist hier eigentlich verrückt und wer normal?

Die unsichtbare, komplexe Vielfalt des Alltags. Ein guter Schriftsteller erkennt sie – all die kleinen Begebenheiten, die wir in der Hektik unseres gewöhnlichen Lebens nicht mehr bewusst wahrnehmen. Und darin liegt auch schon das Paradoxon im Werke Iain Banks‘. Unserer unbewussten Wahrnehmung hilft er hellsichtig auf die Sprünge, negiert sein Vorgehen aber im selben Atemzug, indem er uns gleichzeitig die Wahrnehmung von Menschen infiltriert, die unser Weltbild vom Durchschnittsmenschen gehörig ins Wanken bringt. Das hat eine wahrlich beunruhigende Auswirkung. Damit du, liebe Leserin, lieber Leser, ahnst, was ich meine (mehr kann ich bei einem derart komplexen Buch hier wohl nicht erreichen), ein paar Fakten zur Handlung von Iain Banks‘ zweitem Roman Walking on Glass [Barfuß über Glas].
Da haben wir zunächst Graham Park. Er ist unser Mann, wenn es darum geht, die allbekannte Realität zu besichtigen. Er ist Kunststudent und frisch verliebt in Sara, einer unnahbaren Frau, die Graham trotzdem immer wieder einladend entgegen tritt. Kennen viele, behaupte ich einmal. Wie Graham von Angst, Zweifeln und Liebe erfüllt Sara den Hof macht, das ist etwas, das jeder nachvollziehen kann, der einmal unter Schmerzen verliebt war. Auch stimmt Banks‘ Interieur. Er kennt seine Welt der 1980er Jahre. Leuchtfarbenjeans, Per Anhalter durch die Galaxis und Monty Python: Iain Banks ist uns sehr nah.
Die Romanze zwischen Graham und Sara nimmt ihren Lauf. Die beiden gehen am Kanal spazieren, kommen sich aber nicht so recht näher.
Und plötzlich der Schnitt. Die Handlung kippt, und der hektische Steven Grout beherrscht das Bild. Immer noch bewegen wir uns in der Szenerie, die wir kennen, aber es macht sich Unwohlsein breit, wenn Steven uns seine Sicht der Welt erläutert. Steven fühlt sich von Außerirdischen bedroht, weshalb er nie ohne einen Schutzhelm auf die Straße geht. In der Baustellenkolonne stößt seine Paranoia natürlich auf Spott. Trotzdem: Steven Grout legt sich mit jedem an. Als er sich nicht von seinem Standpunkt abbringen lässt, dass nur er weiß, wie man einen Pflasterstein richtig setzt, und er zudem die Katze eines rechtschaffenden Bürgers mit dem Spaten erschlägt, wird ihm gekündigt. Sein nun beginnendes Martyrium spricht uns aus der Seele. Stevens Ärger mit dem Beamten des Arbeitsamts, mit seiner neugierigen, despotischen Vermieterin und anderen Gestalten, die allesamt die traurige Essenz unserer Wohlstandsgesellschaft reflektieren, zeigen erneut, dass wir es im Falle Banks‘ mit einem Schriftsteller von bemerkenswerten Rang zu tun haben.
Wie auch die anderen Charaktere des Buches ist Steven auf der Suche nach Wissen. Die selbstironische Note Banks‘ besteht darin, dass Steven die Lösung in Science-Fiction-Romanen sucht: „Eines Tages würde er ein Buch öffnen – wahrscheinlich eine neue Trilogie des Schwert-und-Zauberei-Genres (sic!) – und beim Lesen irgendeiner Stelle würde etwas in seinem Gehirn ausgelöst, das dort verborgen war.“
Zweiter Bruch. Die Bank’sche Realität verliert nun endgültig ihren Boden. In einer aus Büchern statt Steinen errichteten Burg spielen Quiss und Ajayi ein Spiel, das ein Ende niemals zu finden scheint. Die Erlösung tritt erst ein mit der Lösung des Rätsels: „Was geschieht, wenn eine unaufhaltsame Kraft auf ein bewegliches Objekt trifft?“ Die Burg ist umgeben von einer unendlichen, leeren Ebene. Einziger Fixpunkt ist also die Burg und das unendliche (?) Spiel. Quiss und Ajayi büßen für ihre Sünden; die metaphorische Ebene unserer realen Welt ist also ausgemacht: Sünde und Unschuld, die beiden Pole, die sich in Walking on Glass direkt gegenüberstehen.
Parallel verlaufende Handlungsstränge scheinen nur einen Sinn zu machen, wenn sie am Ende auf ein gemeinsames Ziel zusteuern. Iain Banks setzt sich jedoch ohne Hemmungen über dieses Gebot hinweg. Die Bindeglieder zwischen den drei Handlungsebenen sind zwar geblieben, bieten jedoch keinen gemeinsamen Höhepunkt an. So findet ein Austausch zwischen Steven Grouts und Quiss‘ Erlebnissen nur auf äußerst elusivem Weg statt. Wenn Steven in seinem Zimmer aus seinen Büchern in ziegelförmig versetzter Anordnung Mauern hochzieht, ahnen wir natürlich, dass ein Zusammenhang bestehen muss. Die Parallelen geraten noch dichter aneinander, wenn Steven in der Bibliothek seines neuen Domizils, der Klapsmühle, ein altes Paar beobachtet, das sich die Zeit mit Spielen vertreibt. Und auch Quiss gerät in einen indirekten Kontakt zu Steven; in der alptraumhaften Unterwelt der Bücherburg erblickt er Steven, für alle Zeiten der Verdammnis anheimgefallen.
Auch Grahams Leben gerät in den Einflussbereich Steven Grouts. Obwohl sich die beiden nie begegnen, ist es ausgerechnet Steven, der die Ereignisse auslöst, die Graham die Wahrheit seiner Beziehung zu Sara offenbart. Als ihm bewusst wird, dass er das Opfer sexueller Obsessionen geworden ist, raubt ihm das für immer seine naive Unschuld. In einer elegischen Coda-Sequenz wirft er symbolisch sein vergangenes Leben in den Kanal.
Obwohl Grahams romantischer Wunsch auf ein bisschen Glück und Liebe auf wahrhaft ausgedörrten Grund stößt, ist Walking on Glass jedoch nicht grundsätzlich pessimistisch angelegt. Das faszinierende As, das Banks im Ärmel hält, macht die Rätselhaftigkeit des Buches zwar perfekt, erlöst uns aber auch ein wenig von Grahams tiefer Niederlage.
Als Ajayi in der Klaustrophobie der Burg einige speziell aufbewahrte Bücher entdeckt, sind es bezeichnenderweise Titus Groan [Ghormengast, Erstes Buch: Der junge Titus] von Mervyn Peake und Das Schloss von Franz Kafka sowie auch ein Buch, das mit demselben Satz beginnt wie Walking on Glass. Ajayi wird also die Lösung ihres Rätsels finden, da zuvor schon Steven Grout sie als Antwort einer Preisfrage auf einer vergammelten Streichholzschachtel entdeckt hat.
Barfuß über Glas ist damit ein Buch, dessen Gedankenreichtum sich erst nach wiederholter Lektüre erschließt, da jede Handlung, jede Tat, neben ihrer offenkundigen Bedeutung eine zweite, tiefere Wahrheit enthält, welche die trügerische Oberfläche entschieden verneint.
Iain Banks ist ähnlich Philip K. Dick in seinen frühen realistischen Romanen jemand, der über das Leben einfacher Menschen mehr weiß als viele der hochgepriesenen Luxusliteraten, die sich anmaßen, etwas über Angehörige der Arbeiterklasse zu wissen. Und da schließt sich der Kreis endgültig.

Deutsche Übersetzung: Barfuß über Glas, übersetzt von Irene Bonhorst (München: Heyne, 1991)

Erstveröffentlichung dieser Rezension in: Wolfgang Jeschke (Hrsg.), Das Heyne Science Fiction Jahr 1993 (München: Heyne, 1992).
Die Rezension wurde für diese Veröffentlichung leicht überarbeitet