Richard Lorenz | Hinter den Gesichtern

Warum lesen wir – mich inbegriffen – eigentlich durchschnittlich so viel mehr übersetzte Literatur als welche aus heimatlichen Gefilden? Nun ja, moderne deutsche Literatur hat bei vielen Lesern nicht gerade den besten Ruf. Denn nicht unbedingt jeder findet Erfüllung darin, Autoren dabei zuzusehen, wie sie nach gewichtigen zeitkritischen Themen grasen, die ihre Chancen auf Literaturpreis-Nominierungen enorm vergrößern. Wofür in der deutschen Literatur das Absolutum „Made in Germany“ aber nun wirklich nicht steht, ist das Grundsätzliche aller erzählender Literatur: die Fähigkeit zum Erzählen.
Es lässt sich aber eine Gruppe von Autoren beobachten, die sich über so etwas überhaupt keine Gedanken machen, denn sie können es einfach, das Erzählen. Ich spreche von Autoren wie Frank Hebben, Hanna-Linn Hava, Erik R. Andara und natürlich Richard Lorenz. Sie alle verstehen es auf ihre jeweils ganz eigenen Arten, Geschichten zu erzählen, den man nur zu gern folgt, und zwar weil sie bewegen, fesseln, eigene Schrullen in Literatur zu konvertieren in der Lage sind. Die belehrende und erzieherische Versuchung gesegneter, preisverdächtiger deutscher Literatur hat sie glücklicherweise nie erreicht.
Richard Lorenz hat es sich mit seinen bisherigen (veröffentlichten) Werken Amerika-Plakate, Frost, Erna Piaf und der Heilige und So dunkel die Nacht (Download im Buchdesign hier) in einer Nische in der Nische eingerichtet, in der er bewundert und kultisch gefeiert wird. Es wird langsam aber wirklich Zeit, dass das, was in seiner Nischennische passiert, endlich einen Überdruck erwirkt und aus der kleinen Höhle herausplatzt. Ob das mit seinem neuen Roman Hinter den Gesichtern passieren wird, sehe ich (leider) immer noch etwas verhalten, aber worin ich mir sicher bin, ist die Gewissheit, dass dieses Buch Richard Lorenz neue Leser verschaffen und eine größere Nischenwohnstätte erforderlich machen wird.
Hinter den Gesichtern segelt unter der Kriminalroman-Flagge, aber auch dieser Anzug sitzt viel zu eng. Klar, ist es ein Kriminalroman, aber es ist ein Kriminalroman von Richard Lorenz, und allein diese Begriffskombination lässt auf etwas Neues, Eigenständiges hoffen.
Und um es kurz zu machen, ja, genau dies ist geschehen. Und um es noch deutlicher zu sagen, mit Hinter den Gesichtern ist Richard Lorenz ein Meisterwerk gelungen!
Unter dem Begriff Meisterwerk verstehe ich persönlich etwas völlig Herausragendes, etwas, das es so noch nicht gegeben hat, etwas das kein anderer in dieser Form erschaffen könnte. Ich habe mir also durchaus Gedanken gemacht, warum ich diese persönliche Ehrung genau an dieser Stelle vergebe. Hinter den Gesichtern ist für mich tatsächlich eine völlig neue Leseerfahrung, und, ja, ich bin der festen Überzeugung, dass kein lebender deutscher Autor dazu in der Lage wäre, etwas Derartiges zu schreiben. Hinter den Gesichtern benötigt keinen Patentschutz, denn jeder, der es imitieren wollte, kann nur scheitern. Richard Lorenz braucht daher keinen Wettbewerb fürchten, denn er ist einmalig, und mit diesem Buch zu einem Giganten angewachsen, an dem man nicht mehr vorbeischauen kann, ohne ihn trotzdem im Blick zu haben.
Was aber macht denn diesen Roman so außergewöhnlich? Ich weigere mich, auch nur einen Satz zur Handlung zu schreiben. Der Klappentext geht mir da schon zu weit und sollte dringend gemieden werden.
Das Fundament von Hinter den Gesichtern ist das eines Thrillers, wie wir es kennen. Das Wie ist hier das alles Entscheidende. Ich muss da an die Cass-Neary-Thriller denken, in denen ihre Autorin Elizabeth Hand recht erfolgreich versucht, das Genre zu sprengen und Thriller so zu schreiben, als seien sie einfach nur abgründige literarische Werke, ohne Einheitsgröße. Elizabeth Hand bleibt dabei bis auf ausgesuchte visionäre Szenen durchweg im realistischen Tritt. Richard Lorenz hingegen geht viel weiter, sehr viel weiter. Er leuchtet so tief in die Köpfe seiner Romanfiguren, dass es weh tut. Und was sich in diesem Erkundungsstrahl auftut, sind keine realistisch-logischen Gedankenfolgen sondern zerstörerische Abgründe der absoluten Finsternis, metaphernreich signalisierend, brodelnd wie schwarze Lava. Und das alles erreicht Lorenz allein mit dem Instrument Sprache, das er so virtuos beherrscht wie kaum ein anderer. Die Wege und Tätigkeiten des Handlungspersonals lassen sich real verfolgen, wie in einem gängigen Thriller, aber was in ihren Köpfen passiert, das erfahren wir nur durch die Sprachmächtigkeit des Autors. Allesamt sind sie traumatisiert, diese Bewohner der Kleinstadt des Grauens. Aber nicht die äußeren Folgen stehen im besonderen Fokus Lorenz‘, sondern das, was die Traumata jeden Tag, jede Minute mit den Menschen machen. Ihre Ängste und Panikattacken macht Richard Lorenz in seiner lyrischen Sprache so sichtbar, dass man die Schreckgespenster förmlich greifen kann, und tatsächlich habe ich noch nie in erzählender Literatur eine derartig permanent vorhandene, alles überflutende Atmosphäre der Angst in den Köpfen fiktiver Charaktere gespürt. Die Bildhaftigkeit von Richard Lorenz‘ Sprache erreicht hier eine wirklich bemerkenswerte Intensität.
Schwarzes Blut flutet an allen Ecken und Enden durch Hinter den Gesichtern und der Roman liest sich durchgängig wie ein dunkel-phantastisches Werk. Und doch ist es letztlich ein Monolith des Lebens, des Menschseins, voller Weisheit und Güte.
Was ich mir von Richard Lorenz für die Zukunft wünsche? Dass aus dem Roman keine Krimiserie entsteht. Und dass Richard Lorenz beim nächsten Mal über die Lichtseite schreibt, in einer Art Lorenz‘schem Löwenzahnwein.

Originalausgabe
Dortmund: Luzifer Verlag, 2019

[Rezension] Edith Wharton – Zeit der Unschuld

Originaltitel: The Age of Innocence (1920)

Die Handlung von Edith Whartons achtem Roman (ihre Novellen nicht mitgerechnet) The Age of Innocence [Zeit der Unschuld] zu umreißen, lässt sich in einem Satz abhandeln: Junger Mann heiratet Hals über Kopf seine Verlobte, um sich kurz vor der Hochzeit in eine andere Frau zu verlieben.
Nicht gerade spektakulär, und doch ist The Age of Innocence spektakulär. Und ganz so simpel, wie sie sich anhört, ist diese Dreiecksbeziehung wahrlich nicht.
Edith Wharton, die selbst solch einem Milieau aufgewachsen ist, gewährt uns einen mikroskopisch genauen aber auch sanft ironischen Blick in die hohe Gesellschaft des New Yorks der 1870er Jahre, mit all ihren unverrückbaren Traditionen und Moralvorstellungen. Minutiös entwirft sie eine prunkvolle, unanständig wohlhabende Parallelgesellschaft und fixiert dazu als korrespondierenden Kontrapunkt den schwelenden Konflikt einer verbotenen Liebe. Diese exquisite Welt in der Seifenblase besiedelt Edith Wharton mit einer Vielzahl von Charakteren, die, wie man am Ende sieht, alle ihr Quentchen Bedeutung haben. Sind schon die Nebendarsteller teilweise durchaus profiliert gezeichnet, bündelt die Autorin ihre gesamte psychologische Wucht in den drei Protagonisten, die sie außerordentlich nuancenreich zu definieren weiß.
Dem jungen Rechtsanwalt Newland Archer ist es vorherbestimmt, die mädchenhaft schöne, blonde May Welland zu heiraten. Mit dieser arrangierten Transaktion würden zwei der hochrangigsten Familien New Yorks fusionieren, was das erklärte Ziel der Familienoberhäupter ist. Archer ist sein Leben lang in diese Rolle hineingewachsen, aber in ihm wächst auch bereits die Saat des Zweifels. Trotzdem setzt er zunächst alles daran, den Hochzeitstermin vorzuverlegen, was sich als keine gute Idee erweist. Genau in dieser Phase nämlich taucht überraschend Mays Cousine, die Gräfin Ellen Olenska, in New York auf. Sie ist die dunkle Antipode zur sonnigen May. Ellen wurde von ihrem Ehemann, einem polnischen Grafen, ihrer Ehre beraubt. Allein über Andeutungen lässt sich rekonstruieren, dass Treuebruch und Gewalt seitens ihres Ehemannes Ellen dazu getrieben zu haben vor ihm zu fliehen und ihn für immer zu verlassen. Sie ist die gefallene Dunkelhaarige – ein Schattenäquivalent; geduldet, aber nicht mehr.
Die wenigen Begegnungen mit Ellen haben nachhaltige Folgen auf Archer. Ellens geistige Unabhängigkeit und ihr Mut erschüttern Archers Weltbild. Er realisiert zunehmend, wie leer sein reiches Leben in Wirklichkeit doch ist, und muss sich irgendwann eingestehen, dass er sich in Ellen verliebt hat. Flüchtige Treffen wie beispielsweise in einem fast leeren Museum; eine gemeinsame Kutschfahrt im fallenden Schnee: das sind fortan die Momente, die Archer dahin bringen sich aufzubäumen. Aber dem gegenüber steht das unerbittliche steinerne Regelwerk der hohen Gesellschaft.
Beinahe die ersten hundert Seiten dienen Edith Wharton der Exposition. Sie stellt die Charaktere vor, rückt sie an ihre Ausgangspunkte und legt das Fundament für einen sorgsam gemächlichen Handlungsaufbau. Insbesondere die erotische Annäherung zwischen Archer und Ellen zögert Wharton bis ins Extrem hinaus. Hier ein kurzes Gespräch, da ein paar Gesten, immer wieder ereignislose Interludien, in denen die Akteure ihre Zeit mit unerträglichem Alltag totschlagen und sehnsüchtig darauf warten, dass es irgendwie wieder weitergeht. Damit fördert Wharton nicht nur Archers Lustgewinn, sondern auch den der Leserschaft. Es ist enorm, mit welch geringer Schrittzahl Edith Wharton die Gräfin Archer verhexen lässt.
Das wirklich Erstaunliche an diesem Buch sind neben den Protagonisten aber auch die vielen Nebendarsteller, die die solide Basis hinter dem Vorhang bilden: obwohl vielen Leserinnen und Lesern diese sich selbst verehrenden Nebencharaktere persönlich wohl nicht ferner sein könnten, hat es mich verwundert, wie willig ich diesen stocksteifen und hoffnungslos unbelehrbaren Individuen einer besseren Gesellschaft von Beginn an gefolgt bin, was nach meiner Einschätzung sowohl im Schreibstil als auch in der Erzähltechnik Whartons begründet liegt.
Zunächst recht unspektakulär daherkommend, ist der Roman sprachlich prachtvoll und letztlich formvollendet, gleichzeitig aber auch sehr subtil. Die Beschreibungen von Häusern und ihren Interieurs, Theatern, Landschaften, Kleidungsstücken etc. sind großartig. Die einzelnen Sätze von The Age of Innocence fluoriszieren in majestätischer Schönheit.
Erfreulicherweise kommt The Age of Innocence trotz der bleischweren Thematisierung unvereinbarer Gegensätze ohne Pathos aus. Gefühle werden nicht beschrieben, sondern äußern sich über kleine aber wirkungsvolle Geschehnisse. Wenn der stets die Lage im Griff zu habenden und über den Dingen stehenden Gräfin Olenski plötzlich eine Träne herabrinnt, greift das entschieden unsere Herzen an.
Ein feinsinniger Humor trägt ebenfalls dazu bei, das Werk bei aller Traurigkeit mit einer wohltuenden Leichtigkeit zu ummanteln. Immer dann aber, wenn der Humor auf Kosten einer Handlungsfigur zu gehen droht, gleicht Wharton dies durch andere positive Hinzugaben wieder aus, wie beispielsweise bei der monströs korpulent dargestellten Mrs. Manson Mingott. die aber letztlich als einzige Entscheidungsträgerin ein großes Herz gegenüber Ellen beweist.
Das unspektakuläre Auftreten des Romans sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Plot tatsächlich mit seinen vielen Andeutungen und Fährten außerordentlich ausgeklügelt ist. Eine angenehm zurückgenommene Symbolik (wie das beschmutzte Hochzeitskleid) bietet viel Raum für eigene Überlegungen. Bei wiederholter Lektüre wird man das Buch mit weiterem Gewinn lesen.
Überdenkenswert sind auch die Geschlechterrollen der Protagonisten. Archer zieht hier die Karte des Narren, sieht er sich selbst doch als eine Art Feminist. Ellens traumatische Vergangenheit unter der Tyrannei ihres Ehemanns bringt ihn derart auf, dass er in bedrohliche Nähe dessen gerät, was die hohe Gesellschaft als Skandal von größter Unerhörtheit bezeichnen würde. Während Ellen den Archetypus des mental autonomen Individuums verkörpert, sieht Archer in May die herangezüchtete Musterehefrau ohne eine eigene Meinung – was er gern ändern würde, jedoch sehr schnell wieder aufgibt: “Es hatte keinen Sinn, eine Frau emanzipieren zu wollen, die nicht einmal ahnte, dass sie nicht frei war […].“
Ach, wie sehr er irrt, der arme manipulierte Tor, denn die Frauen sind es in Wirklichkeit, die seine Geschicke lenken, und ausgerechnet die zart-naive May sorgt als konspirative Hüterin der ehernen Gesetze dafür, dass Archer den Weg geht, den sie ihm zuerkannt hat.

Deutsche Übersetzung: Zeit der Unschuld, übersetzt von Andrea Ott (München: Manesse, 2015)

Vernon Lee | Amour dure

Originalveröffentlichung: Amour dure (1887)

Vernon Lee - Amour Dure

Ein junger Historiker entwickelt eine obsessive Liebe für eine seit Jahrhunderten tote femme fatale. Und er weiß sehr wohl, was er da tut, wenn er die zarte Spur ihres einstigen Lebens aufnimmt. In beeindruckend stimmunsvollen Bildern beschwört Vernon Lee in dieser Erzählung eine längst vergessene Epoche herauf.

Spiridon Trepkas Ausspruch “Ich habe mich der Geschichte verlobt, der Vergangenheit“ könnte wahrscheinlich stellvertretend für alle Texte Vernon Lees stehen, denn Zeit ihres Lebens war sie von der Vergangenheit fasziniert und erlaubte ihren Charakteren das, was ihr selbst im realen Leben (natürlich) versagt blieb: die Schemen der Vergangenheit mit ihnen in eine empathische Kommunikation treten zu lassen.
Wie fragil diese Kommunikation ausfallen kann, zeigt sich in Vernon Lees “Amour dure“ [“Amour dure“], einer ihrer gleichzeitig schön-schauerlichsten und folgenreichsten Erzählungen.
“Amour dure“, in Tagebuchform angelegt, belegt Spiridon Trepkas Reise in die italienische Gemeinde Urbania, jener von alten Kirchen, Steinpalästen und verwinkelten Gassen geprägter Region. Beginnend im Herbst 1885 stellt uns der Text einen mehr als galligen Erzähler vor. Gerade mal 24 Jahre alt und schon renommierter Geschichtsforscher, ist er seiner Wahlheimat Berlin, “diesem hassenswerten Babylon“, entflohen – einem Reisestipendium sei Dank. Seine Meinung über sich selbst ist nicht sehr hoch, sieht er sich doch als Pole, “der es dahin gebracht hat, einem pedantischen Deutschen zu gleichen, Doktor der Philosophie, ja sogar Professor, gekrönter Autor eines Essays über die Tyrannen des fünfzehnten Jahrhunderts“.
In der Folge konkretisiert sich das Objekt seiner Forschungen, denn schon “bevor ich hierher kam, fühlte ich mich durch eine sonderbare Frauengestalt angezogen, die mir in den ziemlich trockenen Blättern über diese Stadt […] begegnet war.“
Trepkas von giftendem Humor durchzogenes Tagebuch zentriert sich zunehmend auf Medea da Carpi, einer Dame höheren Standes, die vor rund 300 Jahren lebte und wegen ihrer “Schuld am Tod von fünfen ihrer Liebhaber“ im Dezember 1582 mit nur 27 Jahren unschädlich gemacht wurde.
Wie Trepka uns an Hand seiner Recherchen darlegt, war Medea eine Frau von gefährlicher Schönheit, deren Hinwendung keiner ihrer liebeskranken Anbeter überlebte. “Sie hat die magnetische Kraft, sich alle Männer dienstbar zu machen, die ihr in den Weg kommen“, schreibt Trepka.
Vernon Lee war ein viel zu unabhängiger Geist in einer Zeit, als Frauen praktisch entrechtet waren, dem modrigen Gesetzbuch des Patriarchats unterworfen, als dass sie Medea nur als eindimensionales femme fatale angelegt hätte. So ist Medea nicht nur abgrundtief verderbt; indem Vernon Lee die Geschlechterrollen vertauscht, ist sie auch Lees Medium einer kodierten feministischen Sprache. Medea folgt ihrer eigenen Gesetzgebung. Ihre Antwort auf Zwangsheirat und lebenslange Unterwerfung ist eine blutige Spur ihrer ausschließlich männlichen Opfer.
Wie schon Alice Okehurst aus “A Phantom Lover“ [“Oke von Okehurst“] dient auch Medea Vernon Lees leidenschaftlicher Anbetung des weiblichen Körpers. Wenn Trepka über Medea schreibt: “Der Teint ist blendend weiß, von der Durchsichtigkeit rosig angehauchter Lilien, wie er Rothaarigen eigen ist“, ist das vermutlich nicht nur die Beschreibung eines rein literarischen Charakters.
Es ist außerordentlich spannend mitzuverfolgen, wie Trepka sich an Medeas fast verblichenen Schatten heftet und sich immer tiefer in den Sog der Leidenschaft ziehen lässt. Verbunden mit den begnadeten Landschafts- und Gebäudebeschreibungen sowie traumhaften Stimmungsbildern einer antiken, unter der Stille fallenden Schnees geschmückten Landschaft, gehört Trepkas Fall in die obsessive Liebe zum Makellosesten, was die phantastische Literatur zu bieten hat.
Trepka, “ich melancholischer, armer Teufel, eine Figur wie Hamlet“, daran herrscht bald kein Zweifel mehr, verfällt Medea, die er bis dahin lediglich von gemalten Porträts kennt, zusehends. Seine Lebensbeichte macht ihn zu einer tragischen Figur: “Wo ist heutzutage eine zweite Medea da Carpi zu finden? (Denn ich bekenne, dass sie mich verfolgt.) Wenn es nur möglich wäre, einer Frau von dieser außerordentlichen, von dieser erhabenen Schönheit, zu begegnen, einer Frau mit dieser entsetzlichen Natur.“ Er verzweifelt daran, wegen seiner hohen Erwartungen sein Leben lang allein geblieben zu sein. Zunehmend seines Lebenswillens beraubt, ist er bereit, sich Medea als Opfer anzubieten, denn die “Dame meines Herzens“ materialisiert zunehmend für ihn. Erst sind es “Briefe von ihrer Hand“, denen “ein unbestimmter Duft wie von weiblichem Haar“ zu entströmen scheint, dann häufen sich die Zeichen, dass Medeas Epiphanie sehr bald bevorzustehen scheint.
Und dann ist endlich der Vorabend zu Heiligabend. Es schneit. Eisige Stille bedeckt das Land. Und Trepka schreibt in sein Tagebuch: “Die Liebe einer solchen Frau genügt, aber es ist eine verhängnisvolle Liebe. […] Auch ich werde sterben. Und warum auch nicht? Wäre es möglich, weiter zu leben, um eine andere Frau zu lieben? Wäre es möglich, ein elendes Dasein wie dieses länger zu ertragen, nach einem Glück, wie es der morgige Tag bringen wird?“

Deutsche Übersetzung: „Amour dure“, übersetzt von Susanne Tschirner auf Basis einer klassischen Übersetzung von M. von Berthoff, in: Vernon Lee, Amour dure (Köln: DuMont, 1990)

Anmerkung: Als Vernon Lees Inspirationsquelle für die äußerliche Beschreibung der Medea di Carpi wurde Agnolo Bronzinos Porträt der Lucrezia di Panciatichi ausgemacht. Man achte in vergrößerter Ansicht auf ihre Kette.

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Elizabeth Gaskell | Die Geschichte der alten Amme

Originalveröffentlichung:
The Old Nurse’s Story (1852)

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Unter der Oberfläche dieser stimmungsvollen, viele bekannte Topoi der Schauerliteratur bedienenden Geistergeschichte brodelt der wütende aber sehr gut unter den Worten versteckte Aufruhr einer großen viktorianischen Autorin gegen die fürchterlichen patriarchalischen Repressionen ihrer Zeit.

In “The Old Nurse’s Story“ [“Die Geschichte der alten Amme“] erzählt die alte Amme Hester den Kindern von Miss Rosamond, wie nah ihre Mutter als kleines Kind einmal dem Unheimlichen gekommen war. Hester wird als nicht einmal Achtzehnjährige zur persönlichen Amme der kleinen Rosamond erkoren, schon bevor diese geboren ist. Als Miss Rosamond vier oder fünf Jahre alt ist, wird sie Waise. Hester, die die kleine Rosamond über alles liebt, bleibt auch weiterhin ihre Amme und Mutterersatz. Die vermögende Verwandschaft von Miss Rosamond, die auch über die Vormundschaft verfügt, zitiert Rosamond und Hester in das alte Familienanwesen, dem Herrenhaus von Furnivall in Northumberland am Fuße der Cumberland Fells. Überraschenderweise hat die Familie bereits vor fünfzig Jahren das Herrenhaus verlassen. Nur noch eine alte Miss Furnivall und einige Bedienstete sollen dort noch leben.
Als Hester und Miss Rosamond in dem abgelegenen Herrenhaus ankommen, lernen sie die vermutlich um die achtzig Jahre alte Miss Furnivall kennen, die stets traurig und melancholisch dreinblickt. Ihr zur Seite steht die genauso alte, immer mürrisch und ernst aussehende Mrs. Stark, die offiziell zwar nur die Gesellschafterin von Miss Furnivall ist, in Wirklichkeit aber eher die Bedeutung einer engen Freundin für Miss Furnivall hat.
Was dann folgt, ist die Beschwörung einer ganzen Batterie von Geistergeschichten-Requisiten. Hester hört die riesige Orgel des Hauses wie wild spielen, obwohl niemand sie bedient, und Miss Rosamond wird von dem Geist eines um Hilfe rufenden kleinen Mädchens nach draußen in die im Schneefall versinkenden Berge gelockt und kann von Hester gerade noch vor dem Erfrieren gerettet werden. Ein großes Finale konfrontiert Sünder und Opfer sowohl in lebendem als auch geisterhaftem Zustand mit ihren tragischen Vergangenheiten.
Obwohl “The Old Nurse’s Story“ bei oberflächlicher Lektüre arg auf den Effekt der Geistergeschichte linsend wirkt, bedeutet sie doch mehr als das. Insbesondere im Hinblick auf ihre Entstehungszeit befindet sich Nachdenkenswertes darin, werden doch beispielsweise unmissverständliche sexuelle Andeutungen getroffen. So ist Miss Furnivall, die in ihrer Jugend die große Familientragödie letztendlich durch ihren Verrat erst angestoßen hat, ein Opfer sexueller Repression durch ihren übermächtigen Vater, der eigene Vorstellungen zur Verheiratung seiner Töchter hat. Daraus resultierend spricht Elizabeth Gaskell auch über das Tabuthema Geheime Hochzeit. “The Old Nurse’s Story“ ist aber auch ein bedeutungsvolles Statement zur Romantischen Freundschaft zwischen Frauen. Mrs. Stark hat ihr ganzes Leben ihrer Herrin gewidmet, und Hester kann sich dem Portrait der jungen schönen Miss Maude kaum entziehen: “Ich hätte es eine Stunde lang anschauen können […]“ Auch sie verschreibt zukünftig offenbar ihr Leben einer anderen Frau. Sämtliche erwähnten Männer hingegen werden bis in die letzte Nebenrolle mit mindestens einer negativen Charaktereigenschaft gezeichnet. Um es auf den Punkt zu bringen: “The Old Nurse’s Story“ ist eine sehr deutliche Stellungnahme, ja geradezu ein gepeinigter Aufschrei, gegen das Patriarchat. Bemerkenswert hier besonders, wie subtil der Protest gegen die patriarchale Herrschaft über die Frau zwischen den Zeilen versteckt wurde. “The Old Nurse’s Story“ ist ein wichtiges Dokument dafür, warum – was heute kaum noch bekannt ist – so viele Frauen im Viktorianischen Zeitalter Geistergeschichten schrieben. Das phantastische Element in den Geistergeschichten gab den schreibenden Frauen die Gelegenheit, sich kodiert über ihre Unterdrückung zu äußern, was Elizabeth Gaskell hier auf faszinierende Weise gelungen ist. “The Old Nurse’s Story“ ist ein wichtiger Beitrag zu einer vor dem männlichen Geschlecht verborgenen geheimen Historie der Frauen.

Empfehlenswerte deutsche Übersetzung: “Die Geschichte der alten Amme“, übersetzt von Anne Rademacher, in: Anne Rademacher (Hrsg.), Gespenstische Frauen (München: dtv, 2004)