J. R. Salamanca | Lilith

Originaltitel: Lilith (1961)

Ein junger Pfleger in einer psychiatrischen Privatklinik verliebt sich in eine schizophrene Patientin, die ihn mehr und mehr mit ihrer wilden Schönheit und faszinierenden Abseitigkeit in ihre selbsterschaffene Wunderwelt zieht. Ein begnadeter Roman mit prachtvollen, luziden Beschreibungen der schönen und beängstigenden Korridore des Wahnsinns.

Ach, wie sehr kann man doch das Leid des armen Vincent verstehen, als ihm zum ersten Mal bewusst wird, dass mit einer Heilung der fremdartigen Lilith seine große Liebe zerfallen wird wie ein von Holzwürmern zerfressener Dachbalken. “Die normale Lilith wäre hübsch (nicht schön wie ein wildes Tier)“. Kann man ihm verdenken, dass er dies alles nicht verlieren will? Hängt doch seine gesamte Existenz daran:

O du meine Lilith, und wo ist dein zerfetzter Rock geblieben, wo deine bloßen weißen Füße, dein fliegendes Gelbhaar, wo ist das Leuchten deiner Augen, die zärtliche Grausamkeit deines Blicks? Wo sind sie hin, die glänzenden Landschaften deiner Seele, die Dörfer, wo ist dein Volk? [… W]o sind sie hin, ihre Lieder, Instrumente, Evangelien? Was wird aus mir, der ich in den Einöden des Gesundseins verschmachte nach deinem Antlitz und dem Laut deiner eilenden Füße?

J. R. Salamancas atemberaubender Roman Lilith [Lilith] – tatsächlich einer der faszinierendsten und reizvollsten, die ich je gelesen habe – lässt zu Beginn nicht im Geringsten erahnen, in welche traumverlorene Abzweige er sich noch öffnen wird. Lilith ist der begnadete Versuch, eine restlos überzeugende und ersehnenswerte Co-Realität zu erschaffen, deren sekundäre Wirklichkeit sich stetig mehr Raum erobert und in logischer Konsequenz die Tore öffnet für Schönheit und Weisheit – in dieser Konfiguration allerdings nur im Kopf der Protagonistin existent.
Lilith Arthur, die dem Roman seinen beziehungsreichen Titel gibt, ist eine schizophrene Patientin im Pappelheim, jener idyllischen mentalen Privatklinik, der sich der noch junge Vincent Bruce in dem achtzigseitigen Einstiegsteil des Romans zum ersten Mal während eines Auslieferungsjobs nähert. Als ihm ein Teil seiner Ware hinfällt, hört er ein Lachen, das “klang wie Glasstäbe, die im Wind aneinanderschlagen.“ Im Garten der Anstalt entdeckt er ein seltsam weltabgewandtes Mädchen. Mit einnehmender Grazie “hob sie eine Hand, die bleich war und zerbrechlich wie ein Korallenästchen.“ Dies und “die grausam-zärtliche Schönheit ihres Gesichtes“, haben, wie wir später sehen werden, einen dauerhaften Effekt auf Vincent, auch, wenn das Mädchen für ihn erst einmal wieder in den Hintergrund rückt.
Einige Jahre und einen Weltkrieg später kehrt Vincent als Kriegsveteran nach Hause zurück. Entgegen des Karrierewunsches seines Großvaters entschließt er sich zu einen einfachen, ausbildungslosen Job mit Gemeinnutz, ganz wie er es seiner viel zu früh verstorbenen Mutter schuldig zu sein glaubt.
Und so landet er, als sei sein Weg lange vorgezeichnet gewesen, im Pappelheim. Die Leiterin erkennt sein empathisches Potential, stellt ihn sofort als Beschäftigungstherapeut ein und überträgt ihm schon bald für einen Ungelernten außergewöhnlich verantwortungsvolle Tätigkeiten. Im Pappelheim lernt er zum ersten Mal, was Anerkennung heißt und lernt das Gefühl kennen wirklich gebraucht zu werden. Sein Eindringen in “die Sphäre des Heims“ ist, wie er sagt, der Beginn “der seltsamen Verwandlung meiner Welt und meines Herzens.“
Es gelingt ihm schnell, das Vertrauen der meisten Patienten zu gewinnen, und seine Wahrnehmung insbesondere der Frauen dort nimmt seine folgende Marschrichtung vorweg: “Diese Frauen hatten etwas Gespenstisches, Hexenhaftes, Übersinnliches an sich, und genau das fehlte den Männern.“
Eine dieser Frauen ist Lilith Arthur, von der Klinikleiterin so ankündigt: “Sie ist faszinierend – eine der interessantesten Patientinnen, die wir zur Zeit haben, und zweifellos die schwierigste. Niemand von uns kann auch nur das Geringste bei ihr erreichen. Unmöglich mit ihr zu arbeiten.“ Um noch prophetisch anzuhängen: “Wenn sich ein Mann in die verliebt, hat er nichts zu lachen.“
J. R. Salamancas Schreibstil ist in der Ausarbeitung mehr als nur ein reines Erzählmedium. Salamanca nutzt die Sprache eher wie ein Musikinstrument. Seine Prosa schmiegt sich wunderbar an die jeweiligen Plotmarken an. Im Grunde eher nüchtern-realistisch, flammt das Geschriebene poetisch und unterschwellig erotisierend auf, wenn Vincent Liliths Seelenlandschaftem betritt. Dann wird Salamancas Tonfall gleichzeitig zart aber auch kraftvoll und hymnisch. Diese sprachlichen Gegensätze spiegeln Vincents innere Verfassung wider: ohne Lilith ist seine Welt grau, ereignislos und unerfüllt – mit Lilith wird sie zu einem rauschhaften Erlebniszustand.
Aber bis es so weit ist, vergeht noch einige Zeit, in der Vincent sich der Patientin Miss Arthur zunächst ausschließlich dienstlich nähert. Salamanca geht dabei lobenswert behutsam vor, baut Liliths Komplexität dynamisch in aller Ruhe auf.
Das erste, was Vincent von Lilith wahrnimmt, ist ihr zauberhaftes Flötenspiel. Wie er bereits während der ersten Gespräche mit seiner Schutzbefohlenen realisiert, hat Lilith sich mit an Genialität grenzender Schöpfungsgabe eine lückenlose, völlig autarke Welt der Ekstasen konstruiert; mit eigenen betörenden Musikkompositionen, einer eigenständigen Philosophie und einer grundlegenden heidnischen Weltordnung. Eine Welt ohne Technisierung, jedoch in erdnaher Verbundenheit. Sogar eine eigene Sprache hat sie erschaffen, die auf einem selbstkonstruierten linguistischen Konzept der Gegensätzlichkeit basiert und in der sie lange Texte verfasst, die freilich niemand lesen kann.
Vincent gegenüber verhält sie sich erstaunlich kooperativ, so dass sich schnell ein Vertrauensverhältnis zwischen den beiden aufbaut. Je näher Lilith Vincent jedoch an sich heran und ihn an ihrer bemerkenswerten Klarheit und Strukturiertheit Anteil haben lässt, umso schwerer fällt es ihm, sie als Kranke anzusehen und weiterhin seinen Auftrag im Fokus zu halten, sie langsam in die reale Welt zurückzuführen,.
Die vielen Gegensätze Liliths tun ihr Übriges, Vincents Verantwortungsbewusstsein immer mehr zu zersetzen. Sie hat das Asketische einer barfüßigen Heiligen und die makellose Aura eines jungen, äußerst klugen Mädchens. Ihre archetypische Schönheit, ihre “verwilderte Anmut“ und “ihre unfassbare Fremdartigkeit“ erledigen den Rest.
Dass Lilith ihn von Anfang an manipuliert und korrumpiert, entgeht Vincent. Er ist der optimale Gegenpol zu Lilith, ist seine Seele doch ebenfalls beschädigt. Vom frühen Tod seiner Mutter traumatisiert, hat er – bei aller Sympathie, die er in uns weckt – einige sehr unangenehme Züge entwickelt, die von seinem nicht tolerierbaren Rassismus bis hin zu seinem erschreckenden Desinteresse an genau den Menschen, die ihn wirklich lieben, reicht. Seine tief verankerte Empfänglichkeit für die Verführung, zeigt sich bereits in einer frühen Schlüsselszene, als er mit seiner ersten, auf ihn reizlos wirkenden Freundin tanzt und plötzlich völlig überraschend in ihren Augen ein “zärtliches Wissen um ein Jenseitiges hinter dieser Wirklichkeit, nach dem ich mich immer gesehnt hatte“, sieht. Aber es reicht für diese kraftlose Beziehung nicht aus, denn ohne es zu begreifen, hat Vincent jenes Jenseitige bereits durch das schöne, goldblonde Mädchen im Garten des Pappelheims gekostet.
Seine zunehmende seelische Abhängigkeit von Lilith ist daher nur folgerichtig und durchaus nachvollziehbar. Lilith ist die Frau, die Vincent in seiner perspektivlosen Realität niemals finden wird; eine imaginäre Gestalt wie aus einem Zauberreich, bar jeglicher Einflussnahme eines gewöhnlichen Alltags. Lilith, mit all ihrer Widernatürlichkeit, ist Vincents Portal in den ultimativen Eskapismus, denn das, was Vincent (und er ist beileibe nicht der Einzige) wahrnimmt, ist, so unermesslich lockend es auch sein mag, leider nichts weiter als ein privater, wunderschön modellierter psychischer Schutzwall, den eine sehr viel jüngere Lilith gegen ihr eigenes Trauma aus einer anderen Zeit und Welt errichtet hat.
Das alles bildet Salamanca mit großer Sensibilität und Virtuosität in einem Roman ab, der sich geschmeidig in jede Kurve legt, die sein Autor anfährt. Um es ohne Schnörkel zu sagen: Lilith ist ein Meisterwerk!
Der Preis, den Vincent am Ende zahlen muss ist hoch, der Schaden, den er angerichtet hat, nicht wiedergutzumachen. “Warum nur liebe ich dieses Mädchen? Weil sie – so ist? Weil sie verrückt ist? Visionär? Besessen?“ wird Vincent sich wahrscheinlich gebetsmühlenhaft wie ein Mantra sein Leben lang aufsagen. Dem “Traum von einer edlen, götterähnlichen Menschrasse, von Gesang, Weisheit und nie endendem Entzücken“ wird er für den Rest seines Lebens hinterher trauern. Oder?

Deutsche Übersetzung: Lilith, übersetzt von Brigitte Kahr (Genf und Hamburg: Kossodo, 1964)

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